Japan. Am anderen Ende der Welt. Etwa so groß wie Deutschland, bestehend aus vier Hauptinseln. 128 Millionen Menschen, eine offizielle Arbeitslosigkeit von sechs Prozent. Hauptstadt Tokio. Japanische Autos, Sushi, ein Kaiser genannt Tenno, eine parlamentarische Demokratie. Teuer soll es dort sein, dicht gedrängt, und furchtbar aufgeräumt. Stereotypen beherrschen das Bild von Japan.
Osaka ist eine Stadt mit 2,6 Millionen Einwohnern, aber insgesamt wohnen im Kansai-Gebiet (Osaka, Kobe, Kyoto) 15 Millionen Menschen. Einer der größten Ballungsräume der Welt. Der Stadtpark mit dem Schloß ist die Sehenswürdigkeit in Osaka, vergleichbar mit dem Berliner Tiergarten oder dem Englischen Garten in München. Zwischen den Bäumen schimmert es blau. Zelte. Mit Leinen an den Bäumen gespannte, teilweise mit Sperrholz verstärkte Zelte. Überall, im ganzen Park verteilt, vorzugsweise unter dem Schutz der Waldbestände.
In nahezu allen Parks in Osaka gibt es solche Zeltsiedlungen. Alles wirkt seltsam aufgeräumt, richtiggehend akkurat. Fahrräder, vereinzelt Hunde, selten Menschen. Die meisten sind irgendwo in der Stadt unterwegs, Geld verdienen, womit auch immer, und kommen erst abends. Die Stadt hat vor einigen Jahren im Schloßpark ein Camp errichtet, um die Zeltbewohner zum Umzug zu bewegen. Das Camp ist halb leer, es ist offenbar doch nicht das, was die Zeltbewohner wollen. Ende Mai gibt es ein großes Rosenfest in Osaka, und alle befürchten, das es zu Räumungen kommen wird. Das war vor vier Jahren auch schon so, zur Fußball-Weltmeisterschaft.
Kamagasaki, ein Stadtteil im Süden des Stadtzentrums. Hier wohnen und leben überwiegend Tagelöhner, etwa 20.000 Menschen, von denen sich etliche Tausend jeden morgen an der Arbeitsvermittlung versammeln, um einen Job zu ergattern. Viele sind obdachlos, können sich kein Hotelzimmer leisten. Am frühen Abend eine Schlange von Menschen, die sich in Bewegung setzt, um einen Gutschein für eine der beiden Notübernachtungen zu ergattern. 900 Plätze stehen insgesamt zur Verfügung, und wer zu spät kommt oder angetrunken ist, kommt nicht hinein. Es sind nur wenige angetrunken. Zurückhaltung ist geboten beim Fotografieren, die Yakuza, die japanische Mafia, hat hier ihre Hände mit im Spiel. Bei den Tagelöhnerjobs, den Spielhallen und den großen Baustellen sowieso. Entsprechend verwackelt die Bilder.
Kyoto. Langweilige Tempel. An der U-Bahnstation am Fluß erneut diese blauen Zelte, unter den Brücken, am Wasser. Langsam schärft sich der Blick. Spätabends in Osaka. Menschen, die sich in Pappkartons schlafen legen. Als wären Särge an einer Mauer aneinandergereiht. An vielen Metrostationen in Osaka die gleichen Bilder. Menschen, die so ihre Nacht verbringen.
6.000 Menschen sind in Osaka obdachlos. Aber diese Zahl gilt nur für die Stadt, nicht für den gesamten Ballungsraum Kansai. Es sind in der Regel ältere, arbeitslose, alleinstehende Männer. Drogen und Alkohol spielen kaum eine Rolle. Vielmehr dominiert der Wunsch, dabei bleiben zu wollen. Niemandem zur Last zu fallen. Wohl deshalb gibt es auch kein offensichtliches Betteln.
Die japanische Gesellschaft reagiert seltsam gleichgültig. Am Sonntag bei bestem Frühlingswetter tausende Japaner, die im Schloßpark spazierend und picknickend unterwegs sind. Alle tun so, als wären die Zelte Luft. Insgeheim werden die Obdachlosen als störend empfunden, aber die Zelte gewaltsam zu räumen, entspricht nicht der japanischen Tradition, für alles eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden. Vor 20 Jahren war es noch völlig undenkbar, überhaupt über das Thema zu reden. Es wurde einfach ignoriert. Das ändert sich jetzt. Mit welchem Ausgang, bleibt abzuwarten.
Stefan Schneider
Veröffentlicht in Strassenfeger, Ausgabe 08/2006, Seite 11
http://www.strassenfeger.org/strassenfeger/ausgabe_2006-08/0011.html
Power-Point-Präsentation: Schneider, Stefan: Obdachlosigkeit in Osaka, Japan. Ergebnisse einer Untersuchung. 2006
PDF-Präsentation: Schneider, Stefan: Obdachlosigkeit in Osaka, Japan. Ergebnisse einer Untersuchung. 2006