Auf den Masurischen Seen mit dem eigenen Boot zu segeln und dann danach den Heimweg auf dem wenig bekannten Wasserweg über die Pisa, die Narew, die Weichsel, die Notec und die Warthe anzutreten, steht schon lange auf meiner Expeditionsliste. Im Sommer 2011 passt dann alles zusammen. Wie es mir im Einzelnen ergangen ist, davon möchte ich hier kurz berichten.
Propaganda. Mein Großvater hätte genau gewusst, wo ich segeln will: "Spirdingsee? Das ist doch da, wo die ganzen Russen ersoffen sind." Mein Großvater hat diesen Satz tatsächlich so gesagt auf dem Allensteiner Markt und musste flugs das Weite suchen. Denn die Fischerfrauen vom Spirdingsee haben die Polizei gerufen wegen geschäftsschädigendem Verhalten. Wer wollte schon solche Fische essen? Die politische Aufladung dieser Region ist heute Vergangenheit und auch die sogenannten Heimwehtouristen sind kaum noch anzutreffen.Die Masurischen Seen liegen heute in der Europäischen Union, und wer dort segeln will, chartert unkompliziert vor Ort ein Boot oder trailert sein eigenes da hin. Und mein Großvater hatte unrecht. Es ist zwar richtig, dass in der Schlacht von Tannenberg 1914 tausende Russen starben, aber dass sie in den Masurischen Seen ertrunken sind war nichts weiter als eine Propagandalüge der Kaiserdeutschen Kriegsmaschinerie, die mein Großvater unreflektiert übernommen hatte.
Anstiftung. Dass ich diesen Törn überhaupt unternehme, verdanke ich letztlich meiner Mutter. 1992, ich hatte gerade meinen Segelschein gemacht, überrede ich eine Freundin, mit mir nach Giżycko zu fahren und dort für drei Wochen ein Boot zu mieten und die Masurischen Seen zu erkunden. Dieser Plan spricht sich natürlich herum und zu meinem Geburtstag, wenige Wochen vor der geplanten Abreise, schenkt meine Mutter mir das gerade frisch erschienene Buch von Monika und Johannes Ritter: Segeln in Masuren. Mauersee - Talter Gewässer - Spirdingsee - Beldahnsee - Niedersee. Hamburg : Edition Maritim, 1992 (ISBN: 3892252505). Das Buch ist heute vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. Dort ist der Wasserweg von der Oder bis zu den Masurischen Seen beschrieben mit Kilometerangaben. Nach dem traumhaften Urlaub 1992 in Masuren träume ich davon, diese Strecke mit eigenem Boot zurückzulegen. Da ein Anmotoren gegen die Strömung nicht in Frage kommt, ist nur der Rückweg eine sinnvolle Option. Die Strecke verläuft – fast durchgehend mit der Strömung - über die Flüsse Pisa, Narew, Weichsel - zwischen Warschau und Bydgoszcz -, dem Kanal Bydgoski, der Netze und Warte zur Oder. Das ist nur mit einem flachgehenden Boot möglich, da die Tauchtiefe der Pisa mit 50cm angegeben ist. Mit meinem 15er Jollenkreuzer, der auf den Namen TakToJest (Polnisch für: "Ja, so ist das!") hört, habe ich also das ideale Boot für diese Reise. Im Sommer 2011 kommt nun alles zusammen. Thomas vom Nachbarverein leiht mir seinen Trailer, Matthias fährt mich mitsamt Boot nach Masuren und bringt den Trailer leer nach Berlin zurück und ich habe 6 freie Wochen vor mir ohne Termine. Ich kann meinen Traum verwirklichen. Aber wird er gelingen?
Ekstase und Einsamkeit. Die Masurischen Seen sind seglerisch vergleichbar mit den Mecklenburgischen Seen und doch anders: Die Seen sind voluminöser oder aber deutlich länger gestreckt, so dass mehr Segelkilometer zusammen kommen und bisweilen eine ganz schöne Welle steht. Vom äußersten nördlichen bis zum äußersten südlichen Punkt sind gute 100 km auf dem Wasserweg zurückzulegen und ein Motor ist nur auf den kanalisierten Abschnitten erforderlich. 6 größere Ortschaften strukturieren den Raum: Węgorzewo im Norden, Pisz im Süden, dazwischen Giżycko, Ryn und Ruciane-Nida, dazu Mikołajki im Zentrum, das als das Venedig Masurens gilt. Die Orte lassen keine Wünsche offen bezüglich Marinas, Slip- und Krananlagen, Werkstätten, Tankstellen, offenes WLAN sowie touristischer Infrastruktur mit Restaurants, Clubs, Mode-Outlets, Reiseandenken und weiteres. Wer in der Saison und vor allem am Wochenende diese Orte anläuft, kann sich auf Party bis zum Morgengrauen gefasst machen. Dafür gibt es hier so gut wie keine Mücken. Nur wenige hundert Meter jenseits dieser Zentren ist Natur pur angesagt, und in den zahllosen Buchten finden sich zwischen Schilf- und Baumbeständen genug idyllische Ankerplätze zum Entspannen und Baden. Allerdings mit zahlreichen Mücken. Es ist genau dieser Gegensatz zwischen Natur und Kultur, der dem Revier seine ganz besondere Prägung gibt. Und auch wenn der Motorisierungsgrad in den letzten zwanzig Jahren erheblich angestiegen ist, was sich negativ vor allem am Wochenende bei Schwachwind bemerkbar macht, ist das Revier groß genug auch für Wassersportler, die überwiegend Erholung suchen. Meine Favoriten sind die Insel Gilma, auf der fast völlig überwucherte Ruinen zu finden sind sowie Orkatowo am äußersten östlichen Ende des Śniardwy, ein charmanter kleiner Ort, in den sich kaum ein Segler verirrt.
Sicherheit. Überhaupt der Śniardwy, der zu deutschen Zeiten Spirdingsee hieß und größter Binnensee Deutschlands war. Er galt lange als schwierig zu segeln. Weil er in großen Teilen recht flach ist, entsteht schnell eine hohe Welle. Das größere Problem waren die zahlreichen ausgedehnten Steinfelder mit gefährlichen Brocken dicht unter der Wasseroberfläche. Heute ist das deutlich einfacher: Die gefährlichen Steinfelder sind allesamt gut erkennbar ausgetonnt (das Steinfeld in der Seemitte konnte ich nicht finden. Ich nehme an, es ist beseitigt worden), das Hauptwasser nach Pisz ist sauber gekennzeichnet und ebenso ein Nebenfahrwasser in den Nordosten nach Orkatowo, Und, was die Hauptsache ist, bei gefährlicher Wetterlage leuchten absolut unübersehbar an 6 markanten Orten am Ufer gleichzeitig gelbe Blinksignale und es gibt auch halbwegs zuverlässige Wetterprognosen bei windfinder.com.
Nadelör. Die Pisa ist als Fluß vergleichbar mit der mittleren Spree zwischen Trebatsch und Leibsch, nur noch gewundener und noch schneller fließend. Sie war in den letzten Jahren gesperrt, war an verschiedenen Stellen zu lesen und vor Ort erfahre ich den Grund: Umgestürzte Bäume. Ein Video bei Youtube aus dem Jahr 2009 eines jungen Paares, die mit ihrem Omega-Jollenkreuzer von den Masuren bis Amsterdam unterwegs waren, ermutigt mich, trotzdem diesen Weg zu nehmen. Die schnelle Strömung in Verbindung mit den vielen Windungen macht die Pisa zu einem schwierigen Gewässer: Hindernisse tauchen unvermittelt auf und lassen einem keine Reaktionszeit. Zwei Bäume liegen tatsächlich quer. In einem Fall bleibt eine schmale Lücke, und im zweiten Fall muss ich alles hochnehmen um gerade noch rüber zu rutschen. Aber die Landschaft ist grandios und sich sehe an einem Tag bestimmt mehr als 100 Störche. Die Narew dagegen ist dagegen wie ein behäbiger Bär. Mit mehr Wind oder mehr Zeit würde ich Segeln, lautet meine Ausrede für das Motoren hier. Der Weg zur Weichsel führt über das Zalew Zegrzyński, dem aufgestauten Haussee Warschaus, ein wunderbares Wassersportrevier. Das Gerücht, die Schleuse in Warschau – Żerań sei wegen einer Havarie auf unbestimmte Zeit gesperrt, macht mich einigermaßen nervös. Sollte mein Trip hier zu Ende sein? Eine Anfrage per email bringt nach 2 Tagen Gewissheit: Die Schleuse ist in Betrieb und ich kann sie passieren.
Strömung. Der Stadthafen von Warschau ist nur 9 km weichselaufwärts und ich will diesen Abstecher machen. Der ohnehin schon verengte und starkes Hochwasser führende Strom wird zusätzlich noch eingeengt durch zwei mächtige Steinpfeiler der alten Brücke, die Warschau mit Praga verbindet. Mein Aussenborder schafft 10km pro Stunde, aber Ich werde immer langsamer und komme genau zwischen den Pfeilern bei voller Motorkraft voraus zum Stehen. So stark ist die Strömung. Ist hier Schluss? Nach gefühlten Ewigkeiten geht ein leichtes Zittern durch das Boot und ich bewege mich Zentimeterweise vorwärts. Dreieinhalb Stunden brauche ich für die 9 km.
Weichselsegeln. Drei Tage später setze ich nach der letzten Brücke in Warschau Groß und Fock und spüre förmlich, dass mein Schiff dies mehr liebt als die Fahrt unter Motor. Mit Wind von vorn müssen wir die Weichsel herunterkreuzen und das Hochwasser kommt mir dabei sehr entgegen. Es mag bisweilen einen seltsamen Anblick geben, wenn ich quer oder beinahe gegen die Strömung zur Luvseite kreuze, aber mit dem gewonnenen Raum kann ich lange Strecken am Wind und mit der Strömung flußabwärts segeln. Ich schaffe so zwischen 40 und 72 km am Tag. Insbesondere die letzten Kilometer vor Włocławek sind aufgrund der Staumauer seenartig verbreitert und die dortige Schleuse dürfte die erste sein, die mein Boot mit stehendem Mast passiert. Die Städte auf dem Weg, die ich besuche, sind allemal eine Erkundung wert und besonders beeindruckend sind die Städte Ostrołęka, Pułtusk, Warschau, Płock, Toruń und Bydgoszcz.
Botanik. Der Kanal Bydgoski ist auch so ein Fall für sich. Nicht, dass die 22 Schleusen eine besondere Herausforderung darstellen würden oder das es besonders schwierig wäre, jeweils die 6,46 Złoty Gebühr pro Schleuse aufzutreiben. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass der Kanal abschnittsweise total verkrautet ist. Eine Schleuse ist komplett grün, Wasser ist nicht zu sehen. Fast einen ganzen Tag lang habe ich die begründete Sorge, das Grünzeug würde meinen Impeller zerstören und ich bleibe irgendwo mitten in der Pampa liegen. Aufzustoppen und den Motor hochzuklappen und von dem Kraut zu befreien, lassen mich regelmäßig in das Grünzeug treiben und es ist nervig und als Einhandsegler schwierig, mit Paddel oder Wurf-Warp-Anker da wieder rauszukommen. Erst nach einer guten Zeit entwickele ich eine Technik, ohne Ausflüge ins Schilf den Motorschaft zu entkrauten.
Europawasserweg? Über Marinas auf dieser Strecke zu reden ist überflüssig, denn es gibt sie beinahe nicht. In der Nähe einer Ortschaft gibt es bestenfalls ein Informationsschild, einen Pfahl am Ufer oder einen windschiefen Steg. Auch die wenigen Häfen oder Kaianlagen sind meistens verfallen und laden nicht gerade zum Festmachen ein. Eine löbliche Ausnahme ist Czarnków. Dort wurde eine kleine, feine und moderne Marina gebaut, die – wahrscheinlich aufgrund der Förderbedingungen – noch einige Jahre vollkommen kostenlos ist. Hier erfahre ich auch, dass die Grolls mit ihrem 16er Jollenkreuzer "Daddeldu" vor gut 10 Tagen hier waren. Die Beiden hatte ich vor 5 Wochen in Giżycko getroffen und ich wusste, auch sie wollten diese Strecke nehmen. Ich war bei weitem nicht der einzige Deutsche in Masuren, und auch auf diesem Wasserweg waren noch andere unterwegs. Auch gutes und präzises Kartenmaterial für den gesamten Streckenabschnitt ist hier erhältlich. Schließlich bin ich nicht irgendwo, seit Bydgoscsz bin ich auf der internationalen Wasserstraße E 70 unterwegs, die Antwerpen mit dem Frischen Haff und letztlich mit Königsberg verbindet. Sie ist ausbaufähig.
Fallbeil. Ich erreiche die Oder und segele wieder – von Kostrzyn bis kurz vor Hohensaaten. Einen Tag vor der angekündigten, einen Monat dauernden Schließung will ich als zweites Boot in die Schleuse Hohensaaten einfahren, als sich zu meiner Überraschung das von oben kommende Schleusentor wie ein Fallbeil herunter senkt. Ich stürze zu meinem Aussenborder und gebe vollen Schub rückwärts. Eine halbe Bootslänge vor dem Schleusentor komme ich zum stehen. Ich protestiere lautstark mit meinem Nebelhorn und balle drohend meine Faust in Richtung Kamera. Auf dem Wasser lauern Gefahren immer dort, wo mensch sie am wenigsten vermutet. In Berlin ist die Schleuse Mühlendamm wegen Hochwasser für die Sportschiffahrt gesperrt und ich muss den weiten Umweg über den Teltowkanal nehmen, um nach Hause zu kommen.
Bilanz. Als ich nach fast sieben Wochen wieder an meinem Heimatsteg bei der WLS in Schmöckwitz festmache und zwei Tage darauf die Kilometer dieser Reise anhand Logbuch und Karten auszirkele und aufaddiere, staune ich nicht schlecht: 1570 km sind zusammen gekommen, die ich im Kielwasser habe. Allein auf den Masurischen Seen habe ich an 18 Reisentagen 435 km unter Segeln zurück gelegt, dazu kommen weitere 87 km unter Motor. Ein Segelanteil von 83% ist schon nicht schlecht, da auch einige Kanäle zu passieren waren. Die Rückreise, von Pisz, dem südlichsten Punkt der Masurischen Seen an gerechnet, nimmt bei einer Strecke von 1048 km und 27 Schleusen 19 Reisetage in Anspruch. Immerhin bin ich auch auf dieser Strecke 321 km unter Segeln unterwegs, davon 252 km auf der Weichsel. Insgesamt bin ich also 756 km der 1570 km gesegelt, was einem Segelanteil von 48,2% entspricht. Es war ein regnerischer Sommer. Irgendwann hat mich das nicht mehr gestört. Ich meine sogar, dass die hohen Wasserstände auf den Flüssen meine Reise sogar begünstigt haben.
Stefan Schneider
PS: Inzwischen gibt es ein neueres Buch über die Masurischen Seen. Von einer schiffbaren Verbindung der Masurischen Seen nach Deutschland ist dort nicht mehr die Rede.
Ein weiterer Törnbericht wurde in der Zeitschrift Segeln vom Januar 2012 veröffentlicht, siehe hier
Segeln-Masuren-Törnbericht-Schneider-2012-01.pdf
Eine sehr ausführliche Prezi-Präsentation ist hier zu finden:
schneider-stefan-masuren-und-einmal-quer-durch-polen-eine-reise-unter-segeln-sommer-2011/
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