[Andienen] Der Bus zum Flughafen hatte schon die Vororte Istanbuls erreicht, da sah ich an einer wenig befahrenen Kreuzung einen älteren Mann in abgetragener, aber noch nicht schäbig wirkender Kleidung mit ein paar Päckchen Papiertaschentüchern in der Hand den Autos hinterherlaufen, die wegen der Kreuzung ihre Fahrt verminderten. Der Bus hielt an einer Haltestelle und so hatte ich ein wenig Zeit, ihn zu beobachten. Sein Haar und sein Bart färbten sich schon weiß und er hinkte etwas. Niemand hielt an, niemand kurbelte auch nur die Fensterscheibe herunter. Die ganze Szene hatte etwas bedrückendes und auch etwas lächerliches. Glaubte der Mann wirklich, mit ein paar Papiertaschentüchern seinen Lebensunterhalt verdienen zu können? Wer oder was zwang ihn, dieser Aufgabe nachzugehen? Oder meinte er, sein erkennbares Gebrechen für sein Geschäft nutzen zu können? Außer dem, was ich sehen konnte, wusste ich nichts weiter von dem Mann. Hatte er sein Leben lang gearbeitet und war nun durch einen Unfall in diese Lage geraten? Oder hat er sein ganzes Leben lang hier und da und dort irgendwelche Gelegenheiten genutzt, um über die Runden zu kommen? War er möglicherweise ein grober Schuft, mit dem keiner mehr etwas zu tun haben wollte. Oder hatte der Mann schlichtweg Langeweile und ihm fiel nichts anderes ein. Wie auch immer – was ich sah, empfand ich als würdelos. Papiertaschentücher gibt es in jedem Kramladen – das muss niemand an stinkenden Kreuzungen einer Metropole anderen Menschen andienen müssen.
[Ausrechnen] Was alles unter dem Stichwort Marketing getan wird, um Produkte an den Mann zu bringen, ist mehr als lächerlich, es ist bisweilen grotesk und pervers. Aufwändige Werbekampagnen, die suggerieren, der Kauf von x oder y eröffne bisher ungeahnte Freiheit, coolness, steigere den Sex-Appeal und was auch immer. Märchen aus tausendundeiner Nacht. Das gegenwärtige, weltweit verbreitete Wirtschaftssystem beruht auf Egoismus, Konkurrenz und Übervorteilung. The winner takes it all und der andere darf sehen, wo er bleibt. Ganz nebenbei wird auch noch der Planet Erde ausgeplündert: Die rücksichtslose Ausbeutung, Vernichtung und Zerstörung der vorhandenen Ressourcen, Umweltverschmutzung, Tierquälerei und Artensterben, der schleichende Klimawandel, all das taucht in keiner betriebswirtschaftlichen Kalkulation auf. Würde all das in einer Bilanz mit eingerechnet werden, wäre das Ergebnis in den allermeisten Fällen negativ. Es würde sich nicht rechnen, PKWs zu bauen. Eine ehrliche Marketing-Analyse etwa im Bereich des Personennahverkehrs würde den Ausbau einer öffentlichen Infrastruktur empfehlen und bewerben.
[Abstimmen] Sind Marketing-Kampagnen deshalb von vornherein schlecht? Nein, denn auch in einer Wirtschaftsform, die sich auf die Bedürfnisse der Menschen bezieht und die dafür erforderlichen Produkte, Produktionsmittel und Infrastrukturen gemeinschaftlich erarbeitet, gibt es Verbesserungen, Innovationen, Alternativen und neue Erfindungen und sicherlich auch neue Bedürfnisse. Und auch hier wird es erforderlich sein, dass sich einzelne oder Gruppen zu Wort melden mit dem, was sie beitragen können. Überhaupt ist die Idee des Beitragens der Grundpfeiler eines neuen, gemeinschaftlichen Wirtschaftens. Nicht mehr das Produkt steht im Mittelpunkt, sondern die Debatte darüber, was wir brauchen und wie wir es herstellen. Neue Vorschläge können dann ganz einfach online vorgestellt und zur Abstimmung gebracht werden. Wie ein solches Wirtschaften ohne Geld und ohne Ausbeutung funktionieren kann, legt beispielsweise Stefan Meretz in seinem Vortrag Von der Wertkritik zum Commonismus dar, den er auf seiner Plattform Keimform als Video zum Nachhören und Nachsehen veröffentlicht hat.
[Beitragen] Noch können sich nicht sehr viele Leute vorstellen, dass eine Wirtschaft, ja ein Leben ohne Geld funktionieren würde. Es fehlt an Phantasie, einfach in einen Laden hineinzugehen und sich dort die Lebensmittel oder die Kleidung oder die Werkzeuge herauszuholen, die mensch braucht. Sie glauben, es würde alles zusammen brechen. Dabei wird nur die Anhäufung von Geld und Reichtum und die damit verbundene Ausübung von Herrschaft unterbunden. An die Stelle von Geld würde eine produktive Auseinandersetzung darüber treten, was wir wirklich brauchen und wie wir es herstellen. Die dann regelmäßig auftauchende Frage ist: Und wer würde dann noch arbeiten? Die Antwort darauf ist ganz einfach: Wir. An Arbeiten mitzuwirken ist ein menschliches Bedürfnis, so wie Feiern, Spielen oder neue Dinge zu entdecken. Überhaupt sind Menschen soziale Wesen, die gerne Dinge gemeinsam machen, die aufeinander achten, die sich umeinander kümmern und sehr rücksichtsvoll und aufmerksam sind. Es ist höchste Zeit, sich wieder auf diese Kompetenzen zu besinnen. Aber das ist ein anderes Thema.
Berlin, 29.12.2016
Stefan Schneider
[Abbildung] Sick Man Slowly Becoming Enthroned In Used Tissues, Quelle: http://i.onionstatic.com/onion/5184/2/original/1200.jpg;Webseite: https://local.theonion.com/sick-man-slowly-becoming-enthroned-in-used-tissues-1819592410