[Geschichten] Anfang der 90er Jahre begann ich damit, mich mit den Texten anderen Menschen zu beschäftigen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes wollte ich mehr über die Situation wohnungsloser Menschen erfahren, die in großer Zahl kurz nach der friedlichen Revolution 1989 nach Berlin kamen. Ich hatte ein Diktiergerät dabei und stellte allen immer die gleiche Frage: Wie kam es, dass Du wohnungslos geworden bist? Dann erzählten mir die Interviewten meist lange Geschichten und nur gelegentlich war es notwendig, die eine oder andere Nachfrage zum Verständnis zu stellen. Beim Aufschreiben des Erzählten machte ich schnell die Entdeckung, dass die Texte auch ohne meine Fragen funktionierten. Also ließ ich sie einfach weg, und der Text wirkte viel authentischer.
[Artikel] Wenige Jahre später, als die Welle der Strassenzeitungen auch nach Deutschland schwappte, machte ich in der Redaktion weitere Erfahrungen. Viele Verkaufende der Zeitungen hatten mitunter interessante Geschichten zu erzählen, taten sich aber sehr schwer damit, diese zu Papier zu bringen. Aber genau das war wichtig, denn wir wollten uns von den konventionellen Printmedien absetzen und darüber schreiben, was auf der Straße los war. Straßenzeitungen sollten authentisch sein und die größtmögliche Beteiligung gewährleisten. Also nahm ich mir die Leute, die was zu sagen hatten, setzte mich mit ihnen zusammen vor den Rechner und sagte: Erzähl! Ich bin Dein Sekretär. Ich schreibe das genau so auf, wie Du willst. Nicht wenige Storys kamen so zustande, und die Erzähler freuten sich, denn sie bekamen schlussendlich das Zeilenhonorar und nicht etwa ich. Ich glaube, das war der Beginn meiner Karriere als Ghostwriter ... wobei, es ist weder eine Karriere noch habe ich jemals als hauptberuflicher Ghostwriter gearbeitet. Es ist mehr so ein Hobby.
[Portale] Wenn ich also gelegentlich für jemand anders einen längeren Text schreibe, habe ich mir drei Prinzipien zu eigen gemacht. Erstens muss mich ein Thema wirklich interessieren, damit ich die nötige Motivation aufbringen kann. Oder aber zweitens ich fühle mich kompetent in Bezug auf das Thema und kann einfach mein know-how abspulen. Und schließlich drittens sollte der Aufwand in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen, denn ich langweile mich schnell, wenn ich meine, etwas verstanden zu haben. Ein sehr schönes Portal, auf dem sich Menschen, die Texte aufgeschrieben haben möchten mit Menschen treffen können, die Texte schreiben wollen, ist Ghostfactory. Natürlich geht es dabei nicht nur um Geschichten aus dem Leben, sondern auch um wissenschaftliche Arbeiten aller Art. Es gibt genug Menschen, die die entsprechende Ausbildung dafür mitbringen und inhaltlich auch kompetent sind. Aber wie jetzt genau wissenschaftliches Schreiben funktioniert und was dabei zu beachten ist, das verrate ich ein anderes Mal.
Berlin, 15.08.2014
Stefan Schneider
[Abbildung] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/17/Codex_Manesse_Konrad_von_W%C3%BCrzburg.jpg;