[Untersuchung] Ich erinnere mich noch genau. Sie hieß Hedi, eigentlich Hedwig, aber so nannte sie niemand, kam aus Frankfurt am Main und studierte Psychologie. Ausserdem war sie die neue Freundin meines besten Freundes. In ihrer Diplomarbeit ging es um Autismus, oder genauer, um die Möglichkeiten der Früherkennung von Autismus. Sie hatte ein paar Filmaufnahmen von autistischen und nicht autistischen Kindern und ihren Müttern. Meine Aufgabe bestand nun darin, dass ich jeweils zwei Sekunden lange Filmausschnitte zu sehen bekam, die ich kodieren sollte. Die Kategorien waren, so weit ich mich erinnere: Kontakt wird aufgenommen, gehalten, abgebrochen, sowie Freude, Ärger, neutrales Verhalten und so weiter. Zunächst musste ich mit einer anderen Untersuchungsteilnehmerin probeweise kodieren, bis wir einen gewissen Grad an Übereinstimmung erzielten, um die Objektivität der Studie zu gewährleisten. Dann ging es los und wir waren stundenlang damit beschäftigt, aufzuschreiben, was wir in den kurzen Filmausschnitten zu sehen glaubten. Welches von den gezeigten Kindern autistisch war und welches nicht, erfuhren wir nicht. Wir sollten ja nicht voreingenommen sein. Auf jeden Fall gab es für die Arbeit ein kleines Honorar, und Hedi bemühte sich auch redlich, uns mit Kaffee und Brötchen bei Laune zu halten.
Ein gutes halbes Jahr später bekamen wir dann ihre Arbeit in die Hand gedrückt, und irgendwo hinten wurde uns dann der Dank ausgesprochen für die Hilfe bei der wissenschaftlichen Auswertung des Filmmaterials. Das Ergebnis war, so weit ich mich erinnere, so, dass bereits bei kleinen Kindern deutliche Hinweise auf Autismus zu erkennen sind. Autistische Kinder interagieren weitaus seltener mit ihren Eltern als Kinder, die nicht autistisch sind. Hedi, also Frau Dipl. Psy Hedwig Wischner wurde mit dieser Diplomarbeit nun keine weltbekannte Autismus-Wissenschaftlerin, aber ein kleiner Beitrag zur besseren Erforschung des Phänomes war es doch.
[Debatte] Erst einige Jahre später wurde das Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Es gab Bücher von Autisten, die versuchten, ihre Sicht auf die Welt zu erklären. Es gab eine Debatte darüber, dass viele autistische Menschen Spezialbegabungen hätten, die sie in einigen Branchen zu begehrten Mitarbeiter_innen machten. Und ich lernte eine Kollegin kennen, die mit viel Engagement eine stationäre Einrichtung für autistische Menschen leitet. Eine sehr gute wissenschaftliche und zugleich allgemeinverständliche Zusammenfassung über das Thema Autismus findet sich übrigens Internet bei Netdoktor.
[Diagnose] Wie bei vielen Erkrankungen gibt es keine klaren Raster und auch keine eindeutigen Abgrenzungen, sondern wie so häufig Tendenzen und fließende Übergänge. Für die Selbsteinschätzung gibt es im Internet verschiedene Test. Einen, den ich selbst absolvierte, war der AQ-Test, mit dessen Hilfe messbar sein soll, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, Autist zu sein. Die maximal erreichbare Punktzahl ist 50 und ich habe einige Freunde gebeten, diesen Test einmal probeweise zu absolvieren. Die meisten hatten sechs, sieben oder einmal elf Punkte. Ich hatte siebenundzwanzig von möglichen fünfzig Punkten. Seit dem wundere ich mich deutlich weniger über mich.
Berlin, 17.11.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Autism-stacking-cans_edit.jpg, Quinn, an ~18 month old boy that has autism, obsessively stacking cans, Date: Late 2002, Place: Walnut Creek, California, Photographer: Andwhatsnext, Scanned photograph, Credit: Copyright (c) 2003 by Nancy J Price