Ich bekam also Geld dafür, dass ich mich mit Leuten traf und mir von ihnen ihre Geschichte erzählen ließ. Das Ganze war ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, mehr über wohnungslose Menschen zu erfahren. Kurz nach der friedlichen Revolution 1989 schoss die Zahl Wohnungsloser Menschen in Berlin in die Höhe und die Stadt hatte ein echtes Problem. Tatsächlich war das Transkribieren – also das Erstellen einer schriftlichen Fassung des Gesagten – harte Arbeit. Immer und immer wieder die Passagen anhören und Wort für Wort in den Computer hacken. Als der Text dann fertig war, merkte ich schnell, dass ich meine Fragen auch weglassen konnte. Das Gesagte war selbsterklärend und wirkte wie ein persönliches Statement.
Wenige Jahre später machten wir mit Wohnungslosen Textarbeit. Die Idee der Strassenzeitungen war in Deutschland angekommen und irgendwie wollten wir die Seiten auch anspruchsvoll füllen. Bald stellten wir fest, dass viele Penner nur eine Geschichte auf Lager hatten – ihre persönliche Geschichte. In der Redaktion der Strassenzeitung arbeiteten wir daran, das zu ändern. Wir diskutierten mögliche Themen und hörten uns an, was die Leute zu sagen hatten. Wir ermutigten sie, ihre Sicht der Dinge aufzuschreiben oder machten mit ihnen zusammen Textarbeit. So entstanden häufig sehr lesenswerte, schöne Texte.
Sowohl die Forschungsarbeit als auch die Strassenzeitungsredaktion lebte davon, dass alles mehr oder weniger authentisch war. Die Leute erlebten das oder waren wenigstens der Meinung, dass es so war, wie sie es sahen. Professioneller Journalismus ist aber weitaus mehr als das. Im Zentrum steht die Recherche eines Sachverhaltes, das Einholen von Dokumenten, Belegen, Zeugenaussagen, widersprüchlichen Auffassungen, eben alles, was zur Aufhellung eines Sachverhaltes notwendig ist. Und auf der anderen Seite die nicht weniger anspruchsvolle Arbiet, dieses verständlich in Worte und Sätze giessen zu können. Wie professioneller Journalismus funktioniert, ist kein Geheimnis, sondem beispielsweise im Fernstudium Journalismus erlernbar. Der vom Journalistenkolleg angebotene Lehrgang überzeugt nicht nur durch einen sehr umfassenden und anspruchsvollen Lehrplan, sondern auch durch eine kompromisslose Qualitätsorientierung, die durch mehrere Zertifikate, die regelmässig erneuert werden müssen, nachgewiesen ist. Hinzu kommt die persönliche Betreuung durch Journalist_innen, die allesamt ausgewiesene Expert_innen auf ihren Fachgebieten sind und viel Erfahrung mitbringen.
Besonders anspruchsvoll wird Journalismus dann, wenn es um Themen geht, bei denen es starke Interessen gibt, darüber nicht zu berichten. Wie zum Beispiel die Zustände in deutschen Flüchtlingsunterkünften sind. Natürlich erfordert es Mut, ganz ohne offizielle Anmeldung zu versuchen, dort hinein zu kommen, sich ein Bild von der Lage zu verschaffen und mit den Menschen, die häufig verängstigt und nach einer langen Odyssee dort zwangsweise untergebracht sind, in Kontakt zu kommen. Die konkrete Unterkunft war mitten in einem Industriegebiet gelegen und mehr oder weniger ein menschenunwürdiges Ghetto. Mein Beitrag war einer von vielen, der zu der Forderung führte, diese Einrichtung einfach zu schliessen und abzureissen. Damit will ich sagen, es macht nicht nur Spaß, journalistische Texte zu erstellen, sondern es ist gelegentlich auch eine echte Herausforderung aber zugleich auch ein Ansporn, durch diese Arbeit gesellschaftlich etwas zu bewegen oder zumindest kleine Anstöße zu geben.
Siegen, 11.11.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] Werkstatt, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Workshop_001.jpg, Foto von Felipe Micaroni Lalli (001.jpg