[Aufgabe] Ich weiss gar nicht mehr genau, wann diese Mode aufkam. Auf jeden Fall war es notwendig, einigermaßen lesen und schreiben zu können. Deswegen würde ich sagen, so etwa in der dritten oder vierten Klasse oder später. Die Dinger waren viereckig, hatten eine Größe von vielleicht 15 x 15 Zentimetern und waren gut ein oder wzei Zentimeter dick. Eines Tages fing es an, und auch ich bekam eines in die Hand gedrückt. Nun war die Not groß. Es musste ein vernünftiger Sinnspruch gefunden werden. Keine Ahnung, was ich damals geschreiben habe – nur soviel weiß ich noch, dass mir Goethe suspekt war. Wahrscheinlich hat mir meine Mutter geholfen und mir einige Vorschläge unterbreitet. Die größte Schwierigkeit bestand aber wohl darin, die Sache fehlerfrei hinzukriegen. So war jedenfalls damals mein Anspruch. Natürlich gab es damals Stifte, mit denen es möglich war, kleine Korrekturen vorzunehmen – den sogenannten Tintenkiller, aber wenn man genau hinsah, sah man es eben doch. Deshalb war es eine gute Methode, den Text schon mal vorzuschreiben und dann nur noch zu übertragen – gaaaanz langsam. Und darunter stand dann meistens: Dein Klassenkamerad Stefan. Diese Poesiealben waren insgesamt also eher schrecklich, und dass ich auch eines hatte, lag im Grunde nur daran, dass alle so eins hatten. Und dann gab es auch noch Dinge zum Einkleben darin: Glitzernde Sterne, Herzchen, Blümchen und so weiter. Ich glaube, ich möchte gar nicht wissen, das ich damals in meiner großen Not den anderen hineingeschreiben habe.
[Abriss] Nur einmal, da gab es ein Problem: Ich war schon dreizehn und mitten in meiner ersten Sinnkrise, als mir mein kleiner Bruder sein Poesiealbum vorlegte. Meinem damaligen Selbstverständnis entsprechend zitierte ich einen Ausschnitt aus dem Musical Hair mit der Textzeile: Wo komm ich her? Wo geh ich hin? Sagt wozu? Sagt woher? Sagt wohin? Mit diesem Text gab es ein Problem: Für meine Eltern war die Sinnfrage mit Gott und Christus ein für alle mal beantwortet (möglicherweise auch deshalb, weil sie sich ernsthaft nichts anderes als das vorstellen konnten), der Text also untragbar und ich erinnere mich noch, dass diese Seite dann aus dem Poesiealbum ganz sorgfältig herausgetrennt und entfernt wurde. Nur wer ganz genau hinsah, konnte da noch was erkennen. Ja, das war wirklich ein Ding.
[Anleitung] Wie auch immer, das Poesiebuch des 21. Jahrhunderts heißt vielleicht Gästebuch oder Facebook oder möglicherweise Pinterest, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben: Man wird daraum gebeten, einen Eintrag zu hinterlassen. Manchmal will mensch das auch freiwillig tun. Und dann ist es natürlich schön, ein passendes Bild zu hinterlassen. Es gibt Portale, um beispielsweise für Facebook Bilder zu finden und einzubinden. 71975 Bilder in 131 Kategorien auf ja-pics.net, das ist schon eine ganze Menge. Und wer genauer wissen will, wie es funktioniert, kann im Netz auch noch eine Anleitung finden. Ich für meinen Teil habe jetzt die Möglichkeit, in den Sozialen Medien nun ganz individuelle Grüße zu versenden.
Berlin, 09.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Album2kleiner.jpg