[Entwicklung] Seit Mitte der 90er Jahre leitete ich ein soziales Unternehmen. Genauer gesagt war es eine Selbsthilfeorganisation von obdachlosen und armen Menschen. Die Rechtsform war die eines Vereins, und geschäftsführend war der gewähnlte Vorstand. Natürlich ehrenamtlich. Im Verlauf der Jahre entwickelte sich das Unternehmen. Waren die ersten Jahre noch von sehr viel Chaos und Unsicherheit geprägt und lange nicht sicher, ob das Projekt überleben würde, so änderte sich mit wachsender Bekanntheit und größerer Resonanz die Lage und das Unternehmen wurde größer, stabiler. Stück für Stück wurden neue Aufgabenbereiche entwickelt, zuerst gab es nur die Strassenzeitung, dann kam eine Notübernachtung hinzu, dann ein Treffpunkt mit Essensversorgung und Beratung, dann ein Gebrauchtwarenkaufhaus und so weiter.
[Freizügigkeit] Parallel zu dieser Zeit einher ging auch der Erweitungsprozeß der Europäischen Union, und als Ergebnis der Freizügigkeitsregelung wurden die Grenzen durchlässiger, und genau so, wie Deutsche ins Ausland gingen, um dort zu investieren und/oder ihr Glück zu versuchen, kamen Menschen auch umgekehrt nach Deutschland. Das war natürlich interessant und erweiterte die Möglichkeiten. Was können wir von anderen Ländern lernen, was bringen Menschen aus anderen Ländern an Erfahrungen mit. Und überhaupt war es im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung leichter, über die Grenzen hinweg Kontakte zu gestalten. Was per email und Internet an Kontakten aufgebaut wurde, konnte durch eine viel höhere und einfach herzustellende Mobilität – begünstigt durch das Aufkommen der sog. Billigfluglinien – auch häufig im physischen Kontakt fortgesetzt werden und umgekehrt.
[Übersetzung] Das betraf nicht nur Reisen ins Ausland zu Konferenzen und Symposien oder den Austausch von Mitarbeitern. Auch das Problem der Armut und Obdachlosigkeit ganz allgemein wurde vielfältiger. Menschen aus anderen Ländern kamen ins Projekt und suchten oder brauchten offensichtlich Hilfe. Eine Debatte ging los: Wer nimmt wem was weg? Im Verlauf der Diskussion wurde klar: Armut kennt keine Grenzen, Hilfe sollte dort geleistet werden, wo sie auftritt, und zwar unabhängig vom Ansehen der Person. Deshalb gab es sehr bald eine Projektdarstellung und wichtige Informationen für Verkaufende der Straßenzeitung und Gäste der Notübernachtung in anderen Sprachen: Englisch, Polnisch, Russisch, Rumänisch, Spanisch, Französisch, Ungarisch ... Das interne Klima verbesserte sich spürbar, denn nun waren wichtige Dinge einfach kommunizierbar, auch über Barrieren hinweg.
[Knopfdruck] Wer heutzutage etwas unternehmen will, sollte von Anfang an interkulturell aufgestellt sein. Auf der Seite industrystock.de besteht beispielsweise von vorne herein die Möglichkeit, sich unter einer größeren Auswahl die jeweilig bevorzugte Sprache auszusuchen. Eines der Spezialangebote besteht darin, dass kostenfrei Webseiten in 15 Sprachen (Exportseiten) zur Verfügung gestellt werden, damit anderssprachige Besucher auch sofort lesen können, welche Produkte angeboten werden und welche Vorteile eine solche Zusammenarbeit haben kann. Was damals über Jahre hinweg mühevoll erarbeitet wurde, ist heute per Knopfdruck lösbar. Bemerkenswert. Vorbildlich. Vor allem, wenn damit mehr Gerechtigkeit hergestellt werden kann.
Berlin, 19.12.2012
Stefan Schneider
[Abbildung] Die Karte des Piri Reis; Quelle: WikiCommons