Spaß
Wer heutzutage auf den Gewässern dieser Welt ein Schiff mit Piratenflagge sichtet, muss nicht mehr um sein Leben fürchten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine meist männliche Chartercrew handelt, die für ein paar Tage ihren Spaß haben will, ist sehr hoch. Dennoch ist Vorsicht geboten, den oftmals ist auf solchen Schiffen eine verhängnisvolle Kombination von dilettantischer Seemannschaft und übermäßigem Alkoholkonsum zu vermuten. Oder aber es sind Kinder an Bord. Die stolzen Eltern oder Großeltern wollen die Kleinen mal so richtig beeindrucken und spielen gemeinsam Klabautermann und Co. Auch hier ist Vorsicht geboten, denn wer spielt, vergisst häufig Zeit und Raum. Die dritte und kleinste Kategorie von Schiffen unter dem Jolly Roger gehört den Aussteigern oder, genauer gesagt, solchen, die gerne dafür gehalten werden möchten. Hier kompensiert die Flagge gelegentlich das fehlende Kleingeld für solcherlei Projekte und oftmals sind die Schiffe in einem bedenklichen Zustand. Viele dieser Individualisten beherrschen immerhin souverän ihr Schiff, es gibt aber auch welche, die ohne weitere Vorkenntnisse belastet einfach in See gestochen sind. Auch hier ist es besser, Wahrschau zu halten und mit hinreichendem Abstand zu passieren. Aber, wie gesagt, eine echte Gefahr geht von solchen Schiffen in der Regel nicht aus.(1) Daneben gibt es noch die tatsächliche, wirkliche und gewalttätige Piraterie zum Beispiel am Horn von Afrika, dem indonesisch-malaysischen Archipel, im zentralamerikanischen Raum und in einigen anderen Regionen der Welt. Bei diesen blitzschnellen und auf den Überraschungseffekt ausgerichteten Kampagnen wäre das offensichtliche und frühzeitige Zeigen der Identität eher kontraproduktiv.
Integration
Dennoch ist das Zeigen der Piratenflagge heutzutage weitaus mehr und weiter verbreitet als nur unter einer schmalen Minderheit von Wassersportlern. Die ersten drei Piratenfilme des Johnny Depp beispielsweise haben mehr als 2.200.000.000 Dollar Profit eingespielt. Und auch sonst boomt die verkaufsorientierte Piraten-Industrie: Computerspiele, Romane, Comis, Operetten, TV-Serien - Piraterie ist ein big business, mit dem die großen Unternehmen ihre Profite steigern. Bei den Anfängen des Goldenen Zeitalters der Piraterie, der kurzen Zeitspanne zwischen 1690 und 1730 mit dem kurzen aber spektakulären Höhepunkt in den Jahren von 1714 bis 1722 war das noch anders. Die Mächte, die um die Vorherrschaft in der Karibik kämpften, etwa England, Frankreich und Holland stellten das Ausstellen von offiziellen Kaperbriefen ein, weil sich das gegenseitige Plündern und rauben als kontraproduktiv erwies. Hunderte, ja tausende von Kaperfahrern sollten nun wieder mit einer konventionellen Arbeit ihr Brot verdienen. Das sahen aber viele nicht ein und beschlossen, weiter zu machen, in eigenem Auftrag. Denn die Alternativen, sich auf Schiffen der Marine unter übelsten Bedingungen zu Tode kommandieren zu lassen oder an Land als schlecht enthohnte Hilfskraft schuften zu müssen, waren alles andere als attraktiv. Wenn es aber gelänge, weiterin erfolgreich Handelsschiffe zu plündern, würde ein kurzes schnelles Risiko mit reicher Beute belohnt. Angefangen von den Dingen des täglichen Bedarfs bis hin zu Gold und Schmuck. Reichtümer, die das, was mit sogenannter ehrlicher Arbeit zu erzielen wäre, weit überstiegen. Leben vom Überfluss, so lange, wie die Vorräte eben reichen. Diese Idee von Freiheit und Selbstbestimmung scheint es zu sein, die den Mythos der Piraterie bis heute aufrecht erhält, trotz aller Schattenseiten wie brutale Gewalt, Rücksichtslosigkeit und vor allem Schäbigkeit und Elend, die durchaus auch zur Kenntnis zu nehmen sind. Womöglich ist genau diese denkbare, drohende Aufruhr der Grund, weshalb sich auch die alles beherrschende Industrie mit Piraterie befasst. Denn alles, was nicht restlos bekämpft werden kann, muss integriert, idealisiert, geglättet, überformt und entschäft werden. Und von Jack SPARROW, dem legendären Disney-Piraten, geht nun wirklich keine Gefahr aus, außer vielleicht die Gefahr schlechter Unterhaltung.
Aufruhr
Aber nicht alles ist integrierbar, ein Unterstrom, ein unheimlicher Subtext bleibt und erfährt immer wieder neue Wikungsmächtigkeit. In spielerischer Form benutzt beispielsweise der Fussballverein FC St. Pauli die Symbolsprache der Piraterie, um sein Underdog-Image erfolgreich zu inszenieren. Wir sind zwar meistens Verlierer - aber wir sind dabei! lautet das unausgesprochene Motto dieses Vereins und verweist damit auf ein zentrales Problem der Piraterie. Sie ist letztlich auf Herrschaft bezogen und erfreut sich - trotz aller Autonomie - immer wieder auch daran, den Großen und Etablierten eins auszuwischen. Böse gesagt wäre demnach Piraterie ein notwendiges Korrektiv zum herrschenden System - eine Art sozialer Hinweis auf bestehene Defizite. Aber bereits ein anderes Beispiel - die Piratenpartei - relativiert diesen Eindruck wieder. Die Kernidee dieser Bewegung besteht kurz gesagt in der Auffassung, dass insbesondere im digitalen Zeitalter Daten für alle frei zur Verfügung stehen müssen - sowohl in Bezug auf Transparenz als auch in Hinblick auf Vervielfältigung. Der Internetwissenschaftler Michael SEEMANN bezeichnet in einem 2011 erschienenen Aufsatz das Internet als riesige Kopiermaschine, und bereits die Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts dachten - lange vor der Durchsetzung des Computers als gesellschaftliches Instrument - über die Reproduzierbarkeit von Kunst nach (Walter BENJAMIN), Künstler wie Andy WARHOL entwickelten Reproduktionstechniken zum eigenen Kunststil. Das Konzept der allgemeinen Verfügbarkeit von Daten ist deshalb so gefährlich, weil es in einem sehr einfachen Schritt auf die Verfügbarkeit von Sachen übertragbar ist und weil es einen zentralen Angriff auf alle jene Interessen darstellt, die mit dem Eigentum an Daten (Software! Musik! Bücher! Urheberrechte! Patente!) Geld verdienen wollen. Dass die Erosion des Eigentums und des Urheberrechts im vollem Gange ist, belegt die open source und die commons Bewegung. Da sind Texte ausdrücklich frei verfügbar, da werden Daten getauscht und kopiert, was die Leitungen hergeben, da wird bewußt mit Blick auf die allgemeine Verwendung hergestellt, programmiert und verbreitet. Ohne Zweifel: Die Idee der Piraterie(2) stellt Herrschaft und Eigentum radikal in Frage.
Und deshalb wird sie so radikal bekämpft. In den p2p - Tauschbörsen wie utorrent sind nur wenige Nutzer_innen aus dem deutschen Raum unterwegs, was wohl auch eine Folge der massiven Propaganda gegen sogenanntes "illegales" Kopieren in Verbundung mit einer massiven Abmahnwelle ist. Dabei ist den wenigsten bewußt, daß Tauschen immer dann völlig legal ist, wenn die Urheber von Werken ihre Werke ausdrücklich nicht schützen bzw. ausdrücklich zu einer freien öffentlichen Verwendung auffordern, was einige erfolgreiche Künstler_innen durchaus tun. Diese wenig kämpferische Stimmung im deutschsprachigen Raum führt unter anderem dazu, dass offen zugängliche Musik aus dem deutschen Kulturraum im Internet deutlich unterrepräsentiert ist. Diskographien von Udo Lindenberg, Achim Reichel, Hannes Wader, Embryo, Nina Hagen, Floh De Cologne, Ina Deter und anderen sind im Netz (noch) vergeblich zu finden. Aber kein Zufall ist, dass immerhin eines der führenden BitTorrent-Tracker Portale, das seit 2004 besteht, den Namen The Pirate Bay trägt.
Sie ist flach ...
Bücher über Piraterie gibt es unzählige und die meisten von ihnen sind teil der Popkultur. Sie wollen Aufmerksamkeit erheischen und ihr Sinn besteht darin, verkauft zu werden und einen Gewinn zu erzielen. Sie bedienen Klischees für die, die nach Klischees suchen. Nur eine Handvoll Bücher über Piraterie versucht ernsthaft, den Gegenstand zu erfassen und für interessierte Menschen zu erschließen. Dazu gehört auch das Buch von Gabriel KUHN: Unter dem Jolly Roger. Piraten im Goldenen Zeitalter (2011). Warum ein neues Buch über Piraterie, wo doch alles zum Thema gesagt ist? Auch der Autor räumt ein, dass es, was die historischen Fakten anbelangt, so gut wie kein neues Material gibt. Es sind keine neuen spektakulären Tagebücher, Urkunden oder gar Schätze aufgetaucht. Wahrscheinlich deshalb, weil es sie auch nie gegeben hat und wenn, dürften sie meistenteils verrottet und damit verloren sein. Das Anliegen von Kuhn ist ein anderes als das nochmalige Widerkäuen bekannter Fakten. Sein Interesse besteht in der Re-Interpretation des Phänomens aufgrund neuerer, moderner sozialwissenschaftlicher Konzepte.(3) Untersucht wird, welche Parallelen und Gemeinsamkeiten zu den Konzepten der Guerilla (Che GUEVARA, Carlos MARIGHELLA) und des Volkskriegs (Mao TSE-DONG) bestehen. Bemerkenswert sind auch die Bezüge zu dem Begriff der Sozialrebellen (Eric HOBSBAWN) und der Frage nach der Radikalität der Piraten (Christopher HILL). Der Autor verhehlt nicht eine gewisse Sympathie zu anarchistischen, autonomen und libertären Denkansätzen, begeht aber nicht den Fehler, das historische Material in eine bestimmte Form zwingen zu wollen. Nein, die Piraten des Goldenen Zeitalters hatten keinen alternativen Gesellschaftsenwurf vor Augen, nein, ihre demokratischen Elemente waren nicht auf Nachhaltigkeit angelegt, sondern folgten vielmehr unmittelbar praktischen, manchmal irrationalen Erwägungen. Die Kategorie des Dionysischen wird (unter Bezug auf den schwierigen Philosophen Friedrich NIETZSCHE) eingeführt, um alles das zu beleuchten, was unmittelbar, ekstatisch, rauschhaft, orgiastisch und orginär ist an der Lebensweise der Piraten, bezogen auf das Hier und Jetzt, auf das Heute und auf eine Lust am Augenblick, die so tut, als gäbe es kein Morgen. Natürlich ist das dionysische nicht nur gut und schön, sondern auch ordinär und gemein, pervers und peinlich, schäbig und billig. Aber gerade in diesen (kurzen) Augenblicken der Exstase nach endlos gleichförmigen Alltagstagen des Müßigganges scheint diese Widerspenstigkeit auf, die nicht einzutakten ist in Regime der Zeit, des Raumes, der Macht und des Befehls. Der Gegenentwurf zu den Versuchen der Institution der Macht, die Körper zu beherrschen ist der radikale Einsatz der Körperlichkeit. Ja, sie waren grausam, weil ihnen im Fall des Scheitern der Expedition ein grausames Urteil erwartete. Sie waren grausam, weil dieses Image ihnen half, die Gegner einzuschüchtern und ein schnelles Aufgeben zu erzwingen. Sie waren grausam, weil sie in der öffentlichen Berichterstattung - und damit der historischen Überlieferung - grausam dargestellt werden mussten, um als Feindbild zu dienen. Piraten sind damit ein Beispiel für das Konzept von Biopolitik und den Möglichkeiten, sich mit eigener Biomacht dagegen zu wehren, eine Idee, die von Michel FOUCAULT entwickelt worden ist. Ausgesprochen bemerkenswert ist auch die Bezugnahme auf die Überlegungen zur Nomadologie, wie sie vor allem in dem Werk 1000 Plateaus von Gilles DELEUZE und Felix GUATTARI entwickelt worden sind. Die Welt ist flach.(4) Es gibt keine Hindernisse, Grenzen, Mauern, Hürden, Schranken, Zwangswege. Kein Punkt, kein Ort ist per se besonders privilegiert, keinem Raum kommt eine besondere Macht oder Wichtigkeit zu. Zuhause ist dort, wo Menschen sind und zu Hause sein wollen. Durch die Institutionen und Strukturen der Macht entstehen Einkerbungen des flachen Raumes. Einkerbungen, die einschränken, verhindern, zerstören, abtrennen, unterscheiden, verzerren. Piraten, so sagt KUHN mit Blick auf DELEUZE und GUATTARI, heben diesen Raum wieder auf. Sie ziehen die Fläche wieder glatt. Sie geben uns ein Stück der flachen Welt zurück. Jedenfalls für eine bestimmte Zeit in einer bestimmten Region. So bekommt das piratische eine allgemeine philosophische Dimension. Nicht als restriktive Norm, sondern als Möglichkeitsraum. Die Welt und unser Leben müssen nicht, sie können aber piratisch sein. Es ist das Verdienst des Autors, auf diese reale Möglichkeit hingewiesen zu haben.
Der Schatz: Fazit und Kritik
Allerdings glaube ich dem Autor nicht, wenn er sagt, es gäbe keine neuen Erkenntnisse, Quellen und Dokumente zur Piraterie. Gerade mit modernen und unkonventionellen Methoden hat die Archäologie bedeutende Fortschritte gemacht, aber auch die Anthropologie und Geschichtswissenschaft hat mit Hilfe des Computers (und seiner Simulationsmöglichkeiten) völlig neue Instrumente zur Verfügung. Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die Möglichkeiten der experimentellen Archäologie. So wurden beispielsweise die Seereisen des Odysseus und des Paulus auf Grundlage der historisch überlieferten Aussagen auf ihre Plausibilität hin überprüft - mit bisweilen erstaunlichen Ergebnissen. Etwas ähnliches stelle ich mir in Bezug auf die Freibeuter vor: Forschungsexkursionen Auf den Spuren der Piraten in der Karibik. Auch wenn der legendäre Schatz des Captain Flint wohl nie gefunden werden wird, es gibt sicher noch Schätze, die auf uns warten.