[Orientierung] Ich gehöre zu der Sorte von Reisenden, die erst einen kleinen Anstoß brauchen, um sich in ferne Länder aufzumachen. Es war meine damalige Freundin Dagmar, die vorschlug, nach Chile zu fahren. Auf Ihrer Reise um die Welt hatte sie so einiges gesehen, aber Chile hatte sie ausgelassen, und genau deshalb wollte sie da hin. Ich hatte auch nicht wirklich etwas einzuwenden, und so willigte ich ein und eines Tages standen wir auf dem Flughafen in Santiago und einer dieser Busse brachte uns in das Zentrum der Millionenstadt. Mit der Metro sind wir zu unserer ersten Unterkunft gefahren, und ich wunderte mich, dass jede Station nicht nur einen Namen sondern mit einem einfaches Symbol versehen war. Also ein Baum, eine Sonne, ein Haus und so weiter. Erst nach längerem Nachdenken kam ich darauf, dass dies dem hohen Anteil an Analphabeten geschuldet war. Für alle, die sich nicht an Buchstaben orientieren konnten, gab es ein paralleles System zum Zurechtfinden. Das war vor über zwanzig Jahren. Inzwischen ist das Metronetz Santiago um ein Vielfaches gewachsen, und mit der Zeit sind auch die Symbole verschwunden und hoffentlich auch die hohe Zahl von Analphabeten.
[Landschaften] Eisenbahnreisen sind für ängstliche Menschen wohl deshalb so attraktiv, weil der Zug die Schienen eher nicht verlässt. Es gibt also nur wenige Überraschungen. Auch wenn inzwischen komfortable Reisebusse das übliche öffentliche Verkehrsmittel sind, gibt es doch in Chile eine attraktive Zugverbindung nach Puerto Montt tief im Süden des Landes. Puerto Montt ist die Ausgangsstation für alle, die noch weiter in den Süden, beispielsweise nach Feuerland reisen wollen, aber auch sonst eine Reise wert. Auf der langen Strecke, pendelnd zwischen dem eigenen Abteil, das nachts in einen bequemen Schlafwagen verwandelt wird, und dem gemütlichen Speisewagen, wird beim Blick aus dem Fenster schlagartig klar, warum Chile ein bei Deutschen so beliebtes Auswanderungsland war. Auf der einen Seite ist manchmal das Meer zu erblicken, auf der anderen Seite eine hügelige, grüne Landschaft und im Hintergrund die Alpen – Verzeihung, die Anden. Mit anderen Worten: Es sieht in Chile ein bisschen so aus wie zu Hause, zum Beispiel im Allgäu. Das wird sich herumgesprochen haben. Heutzutage gibt im Internet Tipps für Chile für alle, die vielleicht nicht gleich auswandern, sondern erstmal dort Urlaub machen wollen.
[Inspirationen] Natürlich darf ein Besuch bei Pablo Neruda nicht fehlen. Sein Canto General ist legendär, insbesondere in der Vertonung von Mikis Theodorakis. Ganz in der Nähe von Santiago am Meer kann sein Anwesen auf Isla Negra besichtigt werden. Wer jetzt aufgrund des Namens eine Insel erwartet, wird enttäuscht sein. Es handelt sich um eine kleine Siedlung an einer zerklüfteten Steilküste. Sehenswert ist das zu einem Museum umgewandelte Anwesen des großen Dichters alle Mal. Sehr eindrücklich sind die geschmackvoll angeordneten Vasen in der Veranda. Zur Wasserseite stehen die mit blauer und grüner Färbung, zur Bergseite die mit den erdigen Farbtönen. In der Nähe des Hauses hat er an Land ein Segelboot eingraben lassen. Neruda, der nicht segeln konnte, hat oft auf diesem Boot mit Freunden gesessen und sich von dieser Stimmung inspirieren lassen. Heute inspiriert dieses Boot die Gäste aus aller Welt.
Berlin, 23.11.2012
Stefan Schneider
[Abbildung] Torres del Paine National Park, Chile. Quelle: WikiCommons