Guten Tag!
Vom Verein OfW e.V. in Köln erreichte mich um das Jahr 2001 nachstehend dokumentierte Konzeption zur Wohnungslosenselbsthilfe. Dieses Konzept ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluß, enthält aber doch den einen oder anderen Gedanken, der im Zusammenhang der Diskussion von Selbsthilfe und Wohnungslosigkeit von Wichtigkeit ist. Ob es den Verein noch gibt und was er macht, ist mir nicht bekannt.
Berlin 02.04.2007
Stefan Schneider
1. Das alte System
Die Geschichte der Wohnungslosenhilfe ist die der fortgesetzten Bevormundung, Einschränkung, Beeinflussung und Disziplinierung von Außenseitern und Armen - der Nichtrespektierung und nonkonformer Lebensformen, besser gesagt: Überlebensformen.
Im Vordergrund der sozialen Arbeit bzw. der bürgerlichen Fürsorge standen: Kontrolle, Ordnung, Belehrung und ein starkes Bedürfnis nach Systematisierung und Professionalisierung der Sozialarbeit.
Der in verschiedenen Erhebungen festgestellte überproportionale lange Verbleib der Betroffenen im Hilfesystem legt den Verdacht nahe, daß Bewahren und Festhalten im weitesten Sinne Vordergründige oder verdeckte "gute Absicht" jedweder Hilfe war und noch ist, statt Verändern, Öffnen und Loslassen. Buchstäblich eine chronische Sisyphusarbeit. Der Stein rollt wieder und wieder. "Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Die Wohnungslosen haben sich über viele Epochen hinweg auf das jeweils gültige Setting im Hilfesystem flexibel eingestellt, ja eingebettet. Wer sich in das gemachte Nest der Voll- und Teilversorgung hineinbegibt, weiß in der Regel, was ihn erwartet; Drei Tage oder drei Jahre, lästige Befragungen zu seiner Biographie, aber ein Dach über dem Kopf, mit dem Preis der Unselbständigkeit und Entmündigung - wenig Platz für Persönlichkeitsbildung.
Die Wohnungslosen sind geprägt durch die eigene Geschichte und die Wohnungslosenhilfe, die gekennzeichnet war und noch teilweise ist durch:
- Unterordnung, Disziplinierung, Vereinheitlichung
- starre Ordnungselemente
- Nötigungsprozesse (Arbeitszwang), Demütigungsprozesse
- oktroyierte planmäßige Lebensführung
- unter Druck gestellt sein, Leistung zu bringen
- Verbotsstrukturen, z. B. Alkoholverbot
- Sozialarbeiter/innen, die zu viel wissen wollen
- u.a.m.
Entwicklungschancen?
- Ist Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstregulation, Selbstversorgung auf dem Hintergrund aller bisherigen Erfahrungen machbar? Selbst ist der Mann/ die Frau! Eine Utopie?
- Gibt es Alternativen zum Bestehenden und Gewesenen?
- Können die Wohnungslosen, trotz der unbestreitbaren Benachteiligunsprozesse, ein Stück erwachsen werden, „Würde“ und „Selbstvertrauen“ Wiedererwerben?
- Können alle Beteiligten - Träger, Helfer, Betroffene - miteinander erwachsen werden?
- Wollen und können die Betroffenen Verantwortung für das eigene Leben übernehmen?
- Lassen die Helfer das zu?
- Läßt dieses gewaltige Hilfesystem überhaupt zu, daß Menschen ihren eigenen Weg gehen?
- Ist das nicht, weiterphantasierend, problematisch und identitätsstörend für die ganze institutionalisierte Hilfe?
- Stehen Bewegungen in Richtung Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit überhaupt im Geist der Zeit?
2. OfW e. V. - sozialer Raum für Veränderung
Als eine der Grundvorausssetzungen für einen lebendigen sozialen Betrieb ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, die Bereitschaft zur selbstkritischen Bestandsaufnahme der sozialen Praxis, da Hinterfragen eigener Ziele und Wünsche.
Wenn wir das Ziel, die Idee aus den Augen verloren oder gar vergessen haben, hat das Eigenleben eines sozialen Betriebes bereits seinen Lauf genommen. Die Wohnungslosen sind Mittel zum Zweck geworden: Aufrechterhaltung eines möglichst störungsfreien Betriebsablaufes. Die Betroffenen sind passive Dulder von Geschehnissen, die sie nicht weiter beeinflussen können.
Wichtig ist die Förderung von Erfolgserlebnissen und das Wecken schlummernder Fähigkeiten beim Einzelnen. Nicht Arbeit um jeden Preis.
Die Mitarbeiter sind für die Schaffung einer Umgebung und eines allgemeinen Klimas verantwortlich, in denen Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Mitverantwortung erlebt werden können bzw. die einen weitestgehend selbständigen Lebensstil und prosoziale Orientierung fördern. Der/die Wohnungslose soll in erster Linie Voraussetzungen vorfinden, um zur Ruhe zu kommen und zu sehen, was er aus seinem Leben machen will. Wachstum, Integration und Verantwortung brauchen Zeit!
Die soziale Arbeit der Mitarbeiter in allen Funktionsbereichen orientiert sich so nah wie möglich an den real existierenden Gegebenheiten des Lebensalltages (die Welt der täglichen Erfahrung) und intendiert damit die ungeschminkte Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Realität. Aber auch Nischen - Suche und Einrichten von Gegenwelten sind zuzulassen. Die Mitarbeiter verstehen sich als Ressourcengeber und „Weggenossen“, nicht als Heilsbringer und Konfliktregler. Es ist sehr gut möglich, wieder Fuß zu fassen, eigenverantwortlich zu werden, auch ohne die Hilfe der Sozialarbeiter/innen in Anspruch zu nehmen.
Zielformulierung:
- Selbstversorgung
- Normalisierung
- Eigenverantwortlichkeit
- Erschließen von Lebensraum/Milieu
- Die Welt der alltäglichen Erfahrung
- Akzeptanz von subalternen Lebensformen
- Öffnung der Rahmenbedingungen
- Zulassen sozialer Experimente
Diese Einzelziele hängen zwar alle miteinander zusammen, sollten aber nicht unvorsichtigerweise als reines Zielbündel betrachtet werden, da selten alle Ziele gleichzeitig zu erreichen sind. Sie sind der Orientierungsrahmen eines lange währenden Prozesses aller Beteiligten Personengruppen.
3. Selbsthilfe - Selbstforderung - Verantwortung
Der sukzessive Abbau der Versorgung von oben, das zulassen „wilder“ Tagesabläufe, macht Kräfte der Wohnungslosenhilfe frei für mehr Solidarität untereinander, für Selbstverantwortung und Ideenreichtum.
Selbstversorgung ist das Gegenteil von Verwöhnung. Sie setzt bestimmte individuelle Fähigkeiten voraus bzw. lockt diese geradezu hervor und stabilisiert diese Schritt für Schritt:
- individuelle Tagesstrukturierung
- Umgang mit Geduld
- Führung des eigenen Haushalts
- Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Interessen
- Selbständigkeit
- Verantwortung für den eigenen Lebensraum
Selbstversorgung heißt auch, daß man Anerkennung oder Kritik erntet für das was man selbst produziert hat. Der Betroffene ist für das, was er herstellt, verantwortlich, und er weiß das sehr genau. Ein Abschieben von Mängeln und Fehlern auf eine andere Instanz ist letztlich nicht möglich (Abwälzen auf andere). Ein Weg des Erwachsenwerdens. Selbstversorgung ist ein aktiver Prozeß des Einzelnen. Er wird gefordert. Er ist selbst gefordert aus Einsicht in die Notwendigkeit und langfristig aus Lust am eigenen Erfolg. Je mehr Möglichkeiten zur Selbstforderung gegeben sind, desto weniger ist die Gefahr des Abgleitens in die Verwöhnung. Verwöhnung ist „Lust ohne Anstrengung“.
Die notwendige Selbstforderung und natürliche Anstrengung statt Verwöhnung führt auch zur Abnahme von aggressiver Langeweile. Lust und Befriedigung ohne Anstrengung erfordert künstliche Anforderungsprogramme und dauerhafte Animateure von außen, wie wir sie zur Genüge in unserer Konsumkultur kennen.
Die Sozialarbeit läuft Gefahr, diese verhaltensökologischen „Unbildungen“ zu übernehmen: Versorgung, Bedienung, Service, Programme zum Zeittotschlagen, Abnehmen von Verantwortung des anderen für seine Lebensgestaltung, aus Bequemlichkeit oder aus Ungeduld, weil nichts passiert usw.
3.1. Gemeinsames Handeln
Selbstversorgung, die Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Eigeninitiative und Selbstregulation beinhaltet, erzeugt ein Mehr an Können bei den Betroffenen. Können, angeeignete Fähigkeiten, Leistungen sind wiederum die Voraussetzungen für gemeinsames Handeln in einer Gemeinschaft. Unterschiedliche individuelle Fähigkeiten und Leistungen innerhalb einer Gemeinschaft machen erst Sinn für Kooperation und Mitverantwortung (beim Prinzip der Versorgung dagegen wird man mit allem Notwendigen versehen, ohne Rücksicht auf eine zuvor erbrachte Gegenleistung). Platt gesagt: Wer nichts kann, kann auch mit niemandem wirklich zusammenarbeiten. Ähnlich verhält es sich mit der Solidarität, eine fast schon verschüttete Tugend im Kampf ums Überleben und um die besseren Plätze. Solidarität unter den Leuten lebt wieder auf, wo die Chancen geboten werden, die eigenen Kräfte aufs Spiel zu setzen, sich auszuprobieren in Konkurrenzsituationen mit selbstentwickelten Spielregeln (Konkurrenz ist eine sehr ursprüngliche und natürliche menschliche Spiel- und Verhaltensform, die keineswegs negative Wirkung haben muß).
Selbsthilfe und Selbsthilfeversorgung ist Teil der längst fälligen Demokratisierung der Wohnungslosenhilfe durch:
- Abbau fürsorglicher Belagerung
- Minimierung der Autoritätsfixierung
- selbsttätige Gestaltung und Veränderung des eigenen Umfeldes
- ernst nehmen der Kompetenzseite der Wohnungslosen
- Förderung von Autonomie, Lernanreiz und Selbstwertgefühle
- ein vielfältiges Angebot von Personen und Verhaltensweisen
- Leben mit mehr Höhepunkten
- Verzicht auf Verbote, Kontrollen und Herrschaftsregeln
- Selbstbeschränkung der Mitarbeiter
- Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte der Wohnungslosen
3.2. Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität
Selbsthilfe ist die Entscheidung für lebendige (auch schmerzhafte) Prozesse und Entwicklungen und gegen griffige Strategien und schnelle Lösungen.
Verzicht auf Strategie heißt, das Wagnis einzugehen, auch mit leeren Händen dazustehen. Selbsthilfe heißt, den/die Betroffene/n an seinen/ ihren Möglichkeiten zu messen und nicht an seiner Norm. Das heißt:
- Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität kontra Einheitlichkeit/ Vereinheitlichung, Konformität und Festlegung
- Berücksichtigung individueller „Gangarten“ (Lebenstempo)
- Learning by doing (Versuch und Irrtum)
- Bereitschaft zur Öffnung der Rahmenbedingungen und zum Eingehen von Risiken
- Aushalten von Mißerfolg, Irrtum, Eigensinn, Chaos, Leerlauf
- Bereitschaft, eigene Arbeitsnormen, Arbeitstugenden, Wertvorstellungen (Zweckrationalität) in Frage zu stellen
- Respekt vor dem erfahrenen Leben der Wohnungslosen
- Entscheidung für „Erwachsenenwege“
Selbsthilfe ist das konsequente Suchen danach, was die Betroffenen können, ein aufmerksames Eingehen auf das, was von diesen Menschen eingebracht wird, ein Aufgreifen all dessen, was sich an Alltagssituationen aus der Realität ergibt.
Selbständigkeit und Autonomie der Wohnungslosen entziehen dem Helfer den Boden, auf dem er gewöhnlich steht, nämlich Programme zu machen, Angebote zu machen, Experte zu sein etc.
Neues Überdenken der sogenannten „Aufgaben“ von Sozialarbeit (z.B. weniger ausgefeilte Programme, Hilfeangebote, kompetentes Zurseitestehen: „Wir sind immer für Dich da!“.
3.3. Nischensuche
Normalisierung ist Arbeit an der Aufhebung des Ausgegrenztseins von Wohnungslosen - damit Integrationsarbeit - und doch jederzeit die Sorge um die mögliche Erfordernis von Gegenmodellen und Nischen zum Schutz der Betroffenen vor der Leistungs- und Überforderungsgesellschaft; in diesem Sinne Erfahrung eines freundlichen und freien Umgangs miteinander, ein Leben, in dem die Menschen in ihrem Eigensinn und ihrer Unberechenbarkeit zählen.
Normalisierung und Integration sind ein langer Weg und weit weniger eine Frage von Programmen, Therapien und pädagogischen Techniken; alles andere als Hilfe, die übervorsorgt und entmündigt, die gemeindefern den Hilfesuchenden in Asylen oder Wohnheimen ausgliedert, statt die Teilnahme am kommunalen Leben zu ermöglichen.
Eigenverantwortlichkeit, Selbstversorgung und Betroffenenbeteiligung gehören zusammen. Alle diese Elemente, Normalisierung eingeschlossen, sind miteinander verknüpfte Funktionen, deren Wirksamkeit im Abbau der Abhängigkeiten von der Versorgung durch professionelle Helfer, aber auch in der Verringerung (Einschränkung) von inneren Abhängigkeiten (Lebensängste, Sucht etc.) liegen sollen und können.
3.4. Regeln mit eigenem Stempel versehen
Die Absichten dieses offenen Konzeptes bestätigen sich in der Praxis, wenn auch immer wieder betont werden muß, daß Denken und Handeln in Prozessen wichtig sind. Zu stark wirken noch die Vorprägungen des konventionellen Systems der Wohnungslosenhilfe auf alle Beteiligten.
Es kostet einiges an Disziplin und Praxisbearbietung von allen Mitarbeitern, dem verführerischen Blick der Betroffenen nach oben - damit ihnen in schwierigen Situationen die Entscheidung hoffentlich abgenommen werde - zu begegnen und den Spieß herumzudrehen: „Was würdest Du tun, wenn ich nicht wäre?“
Die Betroffenen müssen sich schon etwas einfallen lassen, sind oft irritiert, und das alte Schema bekommt erste Risse. Die Ergebnisse und Konsequenzen sind in vielerlei Hinsicht interessant und ermutigend, selten endgültiger Natur:
- das Regel- und Ordnungssystem wächst von innen heraus, von unten. Die Wohnungslosen müssen nach und nach lernen, Entscheidungen selbst in die Hand zu nehmen, Konflikte untereinander zu regeln.
- So viel, wie sie bereit sind selbst auszuhalten, so weit sie bereit sind, sich mit ihrem vorhandenen Lebensraum zu identifizieren, ihn vor schlechtem Ruf zu bewahren und dafür etwas zu tun. Der Maßstab liegt also in der eigenen Akzeptierung und Tolerierung von Verhaltensweisen anderer und dem letztlich wirklich individuellen und gemeinschaftlichen Nutzen eines entsprechenden Ordnungs- und Regelsystems. Regeln, die selbst gesteuert werden können, auch ohne Machtwort. Das bedeutet einen Mittelweg zwischen Freiraum und Grenzen.
- So bleibt keinem die Auseinandersetzung mit sich selbst erspart, wenn gegen eine Spielregel verstoßen wurde. Auch das Verlassen der Einrichtung kann eine Lösung für den Fall unterlassener Auseinandersetzung sein.
- Wo Selbsthilfe, Selbstversorgung, Selbstverantwortung und Selbstregulation Platz haben, ist auch der Ort, wo Regeln von Betroffenen selbst mit eigenem Stempel versehen werden.
- Wenn die Hoffnung nach „oben“ geht, lähmt es die Entscheidungskraft auf der nächst tieferen Ebene. Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiterkultur. Wir wollen die Selbständigkeit und Entscheidungsfähigkeit fördern, den Einfluß des einzelnen auf sein Tun und Handeln vergrößern, statt einwirken und von oben bestimmen. Was man real erfahren hat, auch tun dürfen! Lernen, nicht Regeln gesetzt zu bekommen, sondern selbst Regeln zu setzen, Regeln ändern und Hinterfragen, Neues ausprobieren. Den Menschen die Selbstentscheidung geben. Behutsam und schrittweise Herstellen von Öffentlichkeit bei Problemen, Streitigkeiten etc.
- Wo Wohnungslose etwas tun können, verlieren sie auch ein Stück Angst vor der Zukunft.
3.5. Betroffenenbeteiligung
Betroffenenbeteiligung ist eine Form der sozialen Arbeit, die Wohnungslosen in die Grundüberlegungen, Planungen und Durchführungen miteinzubeziehen. Dabei kommt es zunächst nicht einmal so sehr auf die Dimension des Projektes an, als auf die grundsätzliche Bereitschaft der sozialen Kräfte, die Kompetenzen der Einzelnen ernstzunehmen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Selbstbeteiligung ist langfristig sinn- und identitätsstiftend für Menschen, die gewohnt sind, daß man für und über sie entscheidet; bequem zwar, aber mit dem Preis der dauerhaften Abhängigkeit uns Unselbständigkeit.
Selbstbeteiligung und Mitbeteiligung ist ein Teil von verschiedenen Möglichkeiten, sich seinen Lebensraum zu erschließen. Das Erschließen und Aneignen von Territorien ist Integrationshilfe.
Die Erfahrung lehrt, daß weder mit Zwang, Verbot, Härte, Reglementierung, Vorschriften, Kontrolle usw., noch über die vielen gutgemeinten Beeinflussungsmethoden, Strategien, Therapien, Absichten der Sozialarbeit wirkliche persönliche Entwicklungen erreicht werden, wenn nicht das Einverständnis der Wohnungslosen vorliegt.
3.6. Erschließen von Lebensraum/Milieu und Akzeptanz von subkultureller Lebensform
Möglichkeit: Die Erschließung von Lebensraum durch die Betroffenen über die Eigenbeteiligung, Eigenleistung, das Mitspracherecht, die Mitwirkung an Planung und Durchführung von Maßnahmen. Eine Art Aneignung von Territorium und Verantwortung übernehmen.
Möglichkeit: Bereits vorhandenes Milieu von seiten der Beteiligten des Hilfesystems ernst nehmen; Respektierung der Lebenswelt und Lebensorganisation der Wohnungslosen; Respekt vor der Autonomie subkultureller Lebenswelten, die unser Bild von Norm, Ideal stören; Akzeptanz von Subkulturen.
Respektierung der subalternen Lebenswelt, trägt auch zur Verringerung von Stigmatisierung der Wohnungslosen und ihrer sozialen Isolation bei; Würde und Stolz des anderen, auch in der Schäbigkeit und Entgleisung, zu wahren, macht ein Stück Freiheit auch für Schwächere möglich.
Die Lebensqualität subalterner Schichten wahrzunehmen und u.a. sehen, daß manche der Wohnungslosen einen souveränen Eindruck machen, trotz des Ausklinkens, der vielen Jahre Straßenleben. Es erweckt auch den Eindruck, daß manche ihren Weg gefunden haben, Stolz und Würde nicht verloren haben; Erstaunliche Lebensqualitätsformen! (Die Bewältigungsstrukturen der Betroffenen verstehen lernen).
3.7. Öffnung der Rahmenbedingungen - Soziale Experimente zulassen
- Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen
- Veränderung des Ordnungs- und Regelsystems ermöglichen
- Infragestellen der laufenden sozialen Praxis
- Sachzwänge und Gewohnheiten „knacken“
- die Frage stellen: Was muß arbeitsorganisatorisch, strukturell, konzeptionell geändert werde, um das Ziel zu erreichen?
- Erneuerungen und Lernprozesse zu bewirken auf dem Weg von Versuch und Irrtum, einschließlich Selbstkontrolle.
3.8. Die Betroffenenebene
- Nicht zu verkennen ist das tiefe Bedürfnis vieler Menschen nach Gehorsams- und Unterordnungsstrukturen, nach der Delegation der eigenen Verantwortung an höhere Instanzen.
- Die, auch unter Mithilfe des traditionellen Hilfesystems, vor- und ausgeprägte Unterwürfigkeit und Schicksalsergebenheit.
- Die Angst vor der Autonomie und der Freiheit, eine eigenes Selbst zu haben.
- Das Bedürfnis des Geführtwerdens und das allzu häufige Einfordern von noch mehr Druck, „damit ich mich halte“. Die Erfahrung von Autorität scheint lebensbestimmend zu sein.
- Der bereits wirkende „Hospitalismus“, die „Heimkrankheit“: die psychischen Schäden nach den längeren und vielen Heimaufenthalten; der partielle Stumpfsinn; die Selbstzerstörung (z. B. Alkohol); die Störung der sozialen Kontakte, die Depression, die übermäßige Angst und damit das reduzierte selbstfordernde Verhalten u. a. m.
- Das Dilemma der rein begrenzten Lebensperspektiven/Erfolgsperspektiven der Wohnungslosen - die Sinnvermittlung!
- Die Gefahr der Überforderung und Vernachlässigung beim Konzept der Normalisierung und Eigenverantwortlichkeit. Freiräume stellen an den Einzelnen höhere Anforderungen an die individuelle Improvisations- und Planungsfähigkeit. Diesen Anforderungen sind offensichtlich viele nicht gewachsen.
3.9. Die Helferebene
Das Haupthindernis im Selbsthilfeprozeß liegt in der Person des Helfers. Selbständigkeit und Autonomie der Wohnungslosen entziehen dem Helfer den Boden, auf dem er üblicherweise bzw. wünschenswerterweise stehen will; Einlösung der Erwartungshaltung der Betroffenen, Experte, Ratgeber und Leiter zu sein.
Wir haben alle unsere bereits abgelegten Hoffnungen und Kränkungen, die uns hindern, konsequent weiterzudenken, Zwischenziele auszumachen, Erfolgskriterien selbst zu setzen, „Mut zur Lücke“ usw.
Das Bedürfnis der Helfer/Mitarbeiter nach Sicherheit, Geborgenheit, Delegierung und Verantwortung. Die Schwächung der eigenen Entscheidungskraft einerseits durch Sachzwänge, sprich fremdbestimmte Einflüsse, andererseits durch die nach oben strebende Hoffnung.
Die immer noch weit verbreitete Haltung und Neigung, Mensch nach eigenen Wertmaßstäben zu beeinflussen, zu früh in Prozesse von Betroffenen einzugreifen, aus Angst etwa vor Mißerfolgen oder dem Nichtaushaltenkönnen von Folgen, Ereignissen, Konsequenzen und Entwicklungen, mit denen wir schlecht umgehen können.
Das Ideal einer sich selbst verändernden, sich selbst entwickelnden Zielgruppe, dem die wenigsten standhalten, wenn die Rahmenbedingungen mangelhaft sind.
3.10. Die Chancen
Selbstversorgung und Selbstorganisation ist auf allen bereits genannten Ebenen des Geschehens Arbeit und die Bereitschaft zur Selbstkontrolle und Selbstkritik, die Fähigkeit Stellung zu beziehen.
Passiert dies nicht, sind die produktiven Effekte von Selbsthilfe zum Scheiten verurteilt, weil sie auf der ganzen unteren Ebene zum Krampf werden.
Für die Mitarbeiter heißt dies, Sorge dafür zu tragen, ein für die beabsichtigten Strukturveränderungen günstiges Klima zu schaffen. Dies kann nur durch Wohlbefinden, menschliche und fachliche Kompetenz und Selbstverantwortung von den Mitarbeitern selbst erreicht werden. Somit ist die Selbstverantwortung von Mitarbeitern zu gewähren und abzusichern, damit sie überhaupt zu „Gewohnheits- und Sachzwangknackern“ werden können für die Freischaufelung der Fundamente einer selbstversorgenden, selbstregulierenden Praxis bei den Betroffenen.
Wohnungslose lernen am Modell. Der Mitarbeiter kann sich als eine Art Lernmodell zum Ausprobieren verstehen.
Entscheidende Bedeutung gewinnt dabei die eigene Haltung des Mitarbeiters, die innere Bereitschaft, über die eigenen Fähigkeiten (das Verstehen, die Empathie, die affektive Unterstützung) zu reflektieren, nicht die Umsetzung in therapeutische Techniken und diese „Selbstkontrolle“ „zum Angelpunkt professioneller Kompetenz“ zu machen.
Nicht um eine Professionalisierung mitmenschlichen Verstehens geht es hier, sondern - wenn schon - um Professionalisierung der Geduld: Es geht um die Fähigkeit, systematisch die eigenen Wünsche an das Gegenüber in Zweifel zu ziehen, die immer schon verstanden haben wollen; um die Fähigkeit, das eigene Nichtverstehen und die Fremdheit des Gegenübers nicht zuzudecken, sondern auszuhalten. Umgekehrt bedeutet dies die Fähigkeit und Disziplin, die Wünsche des Gegenübers nach Verstandensein, nach „Lösungen“, nach Unterstützung und emotionaler Zuwendung nicht in einen Arbeitskonsens umzumünzen, der auf manipulativer Basis steht d.h. nur eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt.
3.11. Gesellschaftliche Entwicklungen - Anforderungen
Die Selbsthilfe, Selbstversorgung und Selbstverantwortung ist ein Gegengewicht zur flach gewordenen Versorgungshaltung - auch unter den Wohnungslosen; ein Gegengewicht zum rastlosen Aktivierungs"markt", eine selbstfordernde Übung gegen die programmierte Langeweile, eine Möglichkeit für Betroffene, das Heft des häufig ritualisierten Alltags ein Stück weit in die Hand zu nehmen und nicht ständig auf "die Stimme des Herrn" zu warten; ein mögliches Lernfeld gegen die Ungeduld und Programmliebe von Sozialarbeit.