Folgendes Textfragment fand ich heute beim Aufräumen meines Computers. Ich möchte es Euch nicht vorenthalten:
Legewie, Heiner: Alltag und seelische Gesundheit. Gespräche mit Menschen aus dem Berliner Stephanviertel. Bonn 1987
10 Punkte, die zum Glück beitragen
1. Ein Dach über dem Kopf (eigenes)
2. Hübsch und vollständig eingerichtet
3. Keine Schulden
4. Spargeld auf der Bank
5. Jeden Monat kommt Geld von der Post (Rente)
6. Nie mehr morgens so früh aufstehen und hetzen zu müssen, keinen Ärger im Büro
7. Gesunde, brave Haustiere
8. Selbst einigermaßen gesund sein
9. Gute Freunde (mindestens 4!)
10. Gute Nachbarn (mindestens 4!)
In diesem Sinne,
Berlin, 02.05.2014, Stefan
[Abbildung] Ganesha als Grafitti, Quelle: WikiCommons
[Buchung und Start] Der Fahrer auf dem Weg nach Köln war ein wenig leutselig, um nicht zu sagen geschwätzig für Berliner Verhältnisse. Aber er war sichtlich stolz auf seinen Fernbus und lobte die Vorzüge. Hans hieß er, oder Hennes, wie sie in Köln sagen, wo er her kam. Und Kölner, so lernte ich dann später, reden gerne ein bisschen was mehr. Aber bevor es zu viel wurde war er auch schon wieder ruhig. Die Buchung für diese Testfahrt erfolgte telefonisch. Das könnte für Menschen eine Hürde sein, die sonst nicht so gerne telefonieren. Aber die Wartezeit war kurz und der Mensch am anderen Ende der Leitung freundlich. Das Ticket und die Rechnung kamen dann sofort danach per email. Es gibt aber auch die Möglichkeit, online zu buchen.
Wahrscheinlich ist es ein Image-Problem, dass ich mich vorher nicht mit dem ADAC Postbus befasst habe. Was habe ich denn schon mit dem ADAC gemein? Habe ja ganz selten mal ein eigenes Auto und so gerne fahre ich auch gar nicht mehr. Und die Post? Nun ja. Reguläre Holzpost erhalte ich in der Regel nur noch von Behörden, die zu träge sind, auf moderne Kommunikationssysteme umzustellen und die glauben, nur Dokumente aus Papier sind wirkliche Dokumente.
[Unterwegs] Was mir gut gefallen hat, war, dass mir eine Platznummer genannt wurde. Denn beim Einsteigen im Bus ist es immer ein Stressmoment, zu gucken, wo und neben wem noch ein Platz frei sein könnte.
Der Bus selbst war ganz neu, hatte ausdrückbare Sitze, was einen deutlichen Komfortvorteil bringt, vor allem, wenn der Nachbarsitz belegt ist, und außerdem Dreipunktgurte, was einen enormen Sicherheitsgewinn bringt. Natürlich habe ich den Gurt sofort angelegt. Die Toilette hinten im Bus war sehr sauber, aber für mein Gefühl hätten noch ein oder zwei Haltegriffe gut getan, denn bei schneller Fahrt ruckelt der Bus ja doch ein wenig.
[Vorzug] Trotzdem, eine Fahrt von mehr als sieben Stunden sind ein langer Ritt, vor allem dann, wenn durch Unfälle und Staus auf der Autobahn noch eine Verspätung hinzukommt. Die Bahn ist da deutlich schneller in Köln, aber auch für erheblich mehr Geld. Ein großer Trost und ein absolutes Highlight im Bus ist aber der WLAN-Anschluss, und das aus genau drei Gründen. Erstens ist die Verbindung ausgesprochen schnell, zweitens ist sie während der gesamten Fahrt stabil, was ich so bisher in dieser Qualität noch nicht erlebt habe, und drittens gibt es unter jedem Sitzpaar eine Steckdose. Also kann es gar kein Strom- und Ladeproblem während der Fahrt mehr geben. Oder, wie Fahrer Hennes treffend erläuterte: Ihr könnte alle mit voll geladenen Akkus aussteigen!
Deshalb freute ich mich schon auf die Rückfahrt und da war es ganz genauso. Fazit: Ich werde jetzt bei meiner Reiseplanung öfter mal bei ADAC Postbus vorbeischauen. Weil ich weiß, dass ich da während der Fahrtzeit zuverlässig im Internet arbeiten kann.
Während der Fahrt mit dem ADAC-Postbus von Köln nach Berlin am 27.04.2014
Stefan Schneider
[Abbildung] zerlegte Postkutsche im Museum für Kommunikation Berlin, Quelle: WikiCommons, Foto: Manfred Brückels
[Selbstheilung] Gerade gestern, beim Griff in die Werkzeugkiste, erwische ich die Schnittseite der Japansäge und schneide mir in den Finger. Es tut sofort weh, wenig später fließt Blut. Keine große Sache, ähnliche Unfälle habe ich im Leben schon dutzendfach erlebt. Weil gerade kein Pflaster zur Hand ist, nehme ich ein sauberes Stück Taschentuch, drücke es eine Weile auf die Wunde und die Blutung stoppt. Heute, einen Tag später, ist die kleine Schnittstelle immer noch rot und schmerzt, aber das sollte spätestens übermorgen vorbei sein. Der Körper, das wissen wir, verfügt über enorme selbstheilende Kräfte und übersteht noch ganz andere Verletzungen.
[Hilfestellung] Allerdings sind manchmal Hilfen von Nöten. Als ich mir 2006 das Bein brach, gab es einen stechenden Schmerz, der Knöchel war sofort stark geschwollen und auch mehrfache Kühlung brachte keine Erfolge. Ein Gang zum Arzt und die angeordnete Röntgenaufnahme zeigten einen feinen Bruch und das Bein musste für mehrere Wochen in Gips und der Mann ging an Krücken, was seine Oberarme mächtig stärkte.
[Burn-Out] Nicht nur der Körper, auch die Psyche kann verletzt werden und erkranken. Die Parallelen sind erstaunlich. Kleinere Beschädigungen kann der Geist selbst verarbeiten, oftmals reicht ein langer Schlaf, ein Urlaub oder eine andere Erholung, um wieder die alten Kräfte herzustellen. Aber es gibt auch Erkrankungen, die wesentlich tiefgreifender sind. Dazu gehört das Burnout-Syndrom. Wie der Name schon andeutet, ist damit das Gefühl verbunden, ausgebrannt zu sein. Bei anderen äußert sich das in einer ständigen Müdigkeit, die nicht mehr verschwinden will.
[Therapie] Die Schwierigkeit besteht darin, dass es nicht einfach ist, ein Burnout-Symptom eindeutig zu erkennen, und es gibt auch nicht – wie etwa bei Kopfschmerzen – eine Standard-Tablette, die das wegmacht. Im Gegenteil, bisweilen ist es notwendig, nicht über Medikamente nachzudenken, sondern über eine Psychotherapie bei einem Psychotherapeuten oder einem Facharzt, der über eine zusätzliche Ausbildung in Psychologie verfügt. Die Seite von paradisi kann helfen, den richtigen Arzt zu finden.
[Kontexte] Es ist auch sinnvoll, sich über die Hintergründe Gedanken zu machen. Obwohl die Krankheitsursachen und -verläufe immer individuell und einzigartig sind, herrscht unter Experten weitgehend Einigkeit, dass die [kapitalistische] Leistungsgesellschaft mit ihren Überforderungsstrukturen eine Hauptursache für Burnout ist. Eine Gesellschaft hingegen, die auf Solidarität, gemeinsamer Leistung und geteilter Verantwortung beruht, dürfte die beste Prävention sein. Aber das ist schon ein anderes Thema.
Berlin, 22.04.2014
Stefan Schneider
[Abbildung] Distant tragedies - Phillip mourning the sinking of his model boat, New Brighton, Merseyside, 1959, Foto: Phillip Capper from Wellington, New Zealand, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Distant_tragedies_-_Phillip_mourning_the_sinking_of_his_model_boat,_New_Brighton,_Merseyside,_1959_-_Flickr_-_PhillipC.jpg
Limeswanderung im östlichen Odenwald von Miltenberg über Walldürn nach Osterburken
[Mauern und Grenzen] Spätestens seit dem Alter von 8 Jahren war mir die Anwesenheit von Grenzen und Mauern, die bis dato in meinem Leben keine besondere Rolle gespielt hatten, deutlich bewusst. Ich lebte in der Stadt Westberlin, die von einer Mauer umschlossen war, und um in den Urlaub zu fahren und unsere Verwandten in Polen zu besuchen, mussten wir eine bestimmte Stelle, die einen großen Umweg bedeutete, passieren und ernst guckende uniformierte Männer begannen in unserem Auto zu schnüffeln und entsprechend nervös waren meine Eltern, weil ja schon hier die Reise zu Ende hätte sein können. Als ich mich 4 Jahre später für Latein als zweite Fremdsprache entschied, tauchte schon wieder eine neue Mauer auf: Der Limes. Das war eine Verteidigungsanlage der Römer gegen die bösen und wilden Germanen im zweiten Jahrhundert nach der Zeitrechnung zwischen Main und Donau, so erzählten die Lehrer mir. Der Rest der Lateinunterrichts war eher ärgerlich, was weniger an der Sprache selbst, als vielmehr an der Vermittlung der Inhalte lag.
[Limes-Wanderung] Fast vier Jahrzehnte später darf ich ein Wochenende lang am Limes wandern. Irgendwie eine späte Genugtuung. Die Mauer um Westberlin gibt es nicht mehr, die realsozialistischen Staaten des Warschauer Paktes sind untergegangen, und auch ich habe inzwischen eine klare Meinung zu Mauern und Grenzen: Ich lehne sie ab und alles, was damit zusammenhängt: Fahnen, Uniformen, Waffen, Ausweise, Kontrollen, Schikanen, Staaten. Aber es gibt immer noch Mauern und Grenzen. Und der Limes ist inzwischen UNESCO – Weltkulturerbe. Die Wanderung führt von Miltenberg am Main über Walldürn nach Osterburken, eine Strecke von etwa 45 Kilometern. Diese Gegend gehört zum östlichen Odenwald, und die Touristikgemeinschaft Odenwald bietet eine ganze Reihe von thematischen Wanderungen in dieser Region an, wie z.B. die Weinroute. Mich hat aber das Historische am meisten interessiert. Und auf der WanderSüden-Seite findet man viele Fernwanderungen, Themen-, Strecken- und Rundwanderwege im Odenwald und den angrenzenden Regionen im nördlichen Baden-Württemberg. Zu der jeweiligen Tour gibt es dann auch immer Einkehr- und Übernachtungsmöglichkeiten, die gpx-Daten zum Download etc. Auch der Limes-Wanderweg wird dort ausführlich vorgestellt. Ausgesprochen hilfreich ist auch das Online-Tourenportal, mit welchem man sich seine Tour individuell zusammen stellen kann oder auch bestehende Touren (wie hier die Limes-Tour) planen kann. Über diesen Tourenplaner kann ich mir anzeigen lassen, wie lange ich in etwa für die Strecke brauche, mir die ÖPNV - Verbindungen dazu suchen lassen, die Tour in 3D ablaufen, Hotels finden, etc. Leider habe ich dieses nützliche Portal erst nach der Tour entdeckt. :-(
Miltenberg - Romantik am Main
[Anreise] Würzburg ist schnell erreicht. In kurzer Zeit mit der Bahn, für deutlich weniger Geld mit dem Bus. Von dort fährt der Bus der Linie 8070 über Wertheim nach Miltenberg. Leider nicht sehr oft, aber dafür ist die Strecke schön. Sie führt am Main entlang durch romantische Täler und Ortschaften und auch einige der Main-Schleusen werden passiert. Das ist ja nicht irgendein Fluss, sondern Teil des Rhein-Main-Donau-Wasserweges, eine schiffbare Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Schwarzen Meer, und es herrscht reger Schiffsverkehr. In Miltenberg hätte ich an der Main-Promenade aussteigen müssen, verpasse das aber und fahre weiter bis zum Bahnhof auf der anderen Mainseite. Zur Stadt muss ich ein paar hundert Meter zurücklaufen und die Main-Brücke überqueren. So bekomme ich kostenlos ein Stadtpanorama zu Gesicht und darf durch das Miltenberger Brückentor spazieren. Bis zur Altstadt sind es nur noch wenige Schritte. [Meine Begleiterin wird später ihr Auto im Parkhaus parken. Die Gebühr von maximal 2 € am Tag erlaubt es, das Auto dort auch für eine längere Wanderung stehen zu lassen.]
[Miltenberg] Das Hotel Hopfengarten gefällt mir. Das Haus ist familiär, übersichtlich, pragmatisch, atmosphärisch, ruhig und liegt mitten in der Stadt. Zum Abendessen bestelle ich Tafelspitz, und das ist lecker. Besser noch ist das Frühstücksbuffet am nächsten Morgen. Versorgt mit Karten und einem Wanderplan können wir losziehen. Bis Walldürn immer entlang des Limes-Wanderweges, etwa 20 Kilometer. Um die Sehenswürdigkeiten von Miltenberg zu würdigen, bleibt keine Zeit. Dafür hätten wir wenigstens einen ganzen Tag gebraucht: Da wären u.a. die Mildenburg, das Schnatterlochtor, das Stadtmuseum, einige Kirchen sowie das Main-Ufer mit dem legendären Campingplatz Mainwiese-Miltenberg auf der anderen Seite. Eine Minigolfanlage direkt am Mainufer haben wir auch entdeckt.
[Wandern] Wandern ist gar nicht so einfach. In weiser Voraussicht haben meine Begleiterin und ich das Gepäck auf ein Minimum beschränkt. Ob dennoch eine Spiegelreflexkamera (K.) oder ein Netbook (ich) notwendig sind, darüber ließe sich streiten. Doch wir brauchen die Technik für die Fotos, für den Bericht und im Notfall für die Orientierung. Gut, ein Smartphone oder ein I-Pad hätten es eventuell auch getan. Den ersten Teil der Strecke geht es nur bergauf. Das bin ich nicht gewohnt und gerate schnell ins Schwitzen. Meine Begleiterin macht Fotos. Schon am Ortsausgang kommen Zweifel auf. An der Gabelung nach links oder nach rechts? Wir entscheiden uns für den schöneren Weg und sind unsicher. Zum Glück finden wir einen Holzarbeiter im Forst, den wir fragen. Ja, dort den Hang hoch und den Stichweg nach links, und wir würden zu einer Limesausgrabung gelangen. Einen Tag später erfahren wir von unserem Guide im Römermuseum, dass die Limes-Wanderweg-Schilder gerne mitgenommen werden und dass es einen Mangel gibt an Wegbegehern, die gucken, ob noch alles in Ordnung ist. Wir finden die Fundamente eines alten Limes-Wachturms und erklärende Tafeln dazu. Überhaupt überall Tafeln mit feinen Illustrationen und kurzen prägnanten Texten, die einem die römische Lebensart näher bringen. Das macht Spaß. Wandern und Bildung. Später müssen wir nochmal einen Hang hoch, und das ist ein unangenehmer steiler glibschiger Treckerweg. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ob ich doch die Wanderstiefel hätte anziehen sollen statt die viel leichteren Stadtwanderschuhe? Zu spät, ich muss da jetzt durch.
[Irrweg] Oben auf dem Berg überrascht uns ein weiter Blick über ein Tal, wir finden noch die Reste eines weiteren Limesturmes und vorne rechts sehen wir das Dorf Reichartshausen. Wunderbar diese Aussicht. Vor lauter Freude möchte ich einfach quer über das Tal laufen, und es gibt auch keinen anderen Richtungshinweis. Wir gelangen wieder in einen Wald, finden aber kein Limes-Wanderschild mehr. Naja, die Richtung scheint ja zu stimmen, und früher oder später werden wir den Limeswanderweg schon kreuzen. Tun wir aber nicht. Nach einer Stunde Wanderung Richtung Süden steht fest: Wir haben uns verlaufen. Wiederholte Blicke in die Karte, deren Maßstab mit 1 :50 000 vielleicht doch eine Spur zu großmaßstäblich ist. Der Mut singt für mich Wanderlaien. Wo sind wir? Wo kommen wir raus? Und vor allem: Kommen wir überhaupt jemals wieder aus dem Wald raus oder müssen wir hier elendiglich sterben? Meine Begleiterin ist deutlich optimistischer: Umwege erhöhen die Ortskenntnis.
[Gerolzahn] Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit von einer halben Stunde, wir gehen jetzt gezielt Richtung Osten, erblicken vom Waldesrand aus ein Dorf und finden bald heraus: Das ist Gerolzahn. Jetzt brauchen wir aber eine Stärkung. Nur leider hat das einzige Restaurant am Ort, der Linde-Landgasthof leider eine Woche Betriebsferien und im Hofladen der Berres-Nudelfabrik, der zufällig gerade noch offen hat, gibt es auch keine richtige Brotzeit für uns. Zum Glück bietet uns die Verkäuferin an, uns nach Neusaß zu fahren, das liegt auf ihrem Weg nach Hause, dort gäbe es eine Gastronomie, die offen sein sollte und außerdem wären wir da wieder auf dem Limenswanderweg. Die verirrten Wanderer sind mächtig erleichtert und nehmen das Angebot dankbar an.
[Zweifelhafte Statements] Das Dorfstüble Neusaß hat offen und ist unsere Rettung vor dem sicheren Hungertod. Meine Begleiterin schlürft ein Süppchen, ich gönne mir Toast Hawaii. Sowas hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Seltsam nur, was auf den Bierdeckeln der Faust-Brauerei zu lesen ist: Manche verbessern die Welt. Wir die Heimat! Und auf der Rückseite: Das bleibt unter uns. Die Assoziationen, die mir dazu durch den Kopf schiessen, behalte ich ausnahmsweise mal für mich. Offenbar schränkt übermässiger Bierkonsum doch den Horizont ein. Ich entdecke eine Broschüre über die Walldürner Wallfahrt zum Heiligen Blut. Davon wusste ich bis heute nichts und wir beschließen, der barocken Wallfahrtskirche am Abend noch einen Besuch abzustatten. Gestärkt und mit klarem Ziel vor Augen wandern wir weiter.
[Rekonstruktion] Von Neusaß aus ist der Limes-Wanderweg wie eine Autobahn ausgeschildert und es ist nahezu unmöglich, sich zu verlaufen. Wir kommen an einem Künstlerhof vorbei und dann geht es wieder durch den Wald. Unterwegs treffen wir auf ein weiteres Highlight des Wanderweges. Ein Stück rekonstruierter Limeswall. Hoch aufragende, halbierte oben angespitzte Baumstämme, deren flache Seite nach Germanien gerichtet ist. Die Wirkung dieser Grenzarchitektur ist eindeutig: Du kommst hier nicht weiter, hier beginnt eine Welt, die nicht für Dich bestimmt ist. Zugleich entsteht Neugier, die wie ein Magnet wirkt: Was ist hinter dieser Wand? Es können nur unglaubliche Wunderwelten sein, warum sonst würde jemand auf die Idee kommen, den freien Verkehr so zu unterbrechen?
Blutwunder und mehr - Walldürn
[Walldürn] Bald schon kommt Walldürn in Sicht und die auf einem Hügel gelegene Wallfahrtskirche bietet eine klare Orientierung für den Rest der Strecke. Plötzlich stehen wir von dem Hotel und Gasthof Zum Riesen, dem Ziel unserer heutigen Etappe. Aber schnell noch mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages die Kirche besichtigt, denn morgen geht es früh weiter. Der kulinarische Höhepunkt des Tages ist für mich der Nachtisch: Crêpes mit Orangen-Mandarinen und Pistazien-Rahmeis auf einem Fruchtmark Spiegel. Und im Zimmer gibt es eine Dusche mit zwei Brauseköpfen. Das ist Luxus. Mit der letzten Kraft des Tages hacke ich noch Notizen in den Rechner.
[Walldürner Blutwunder] Dass Wein verschüttet wird, kommt alle Tage vor. Einem Profi sollte das eher nicht passieren, das ist peinlich. Aber Heinrich Otto ist im Jahr 1330 nicht ganz konzentriert bei der Sache und verschüttet beim Hokuspokus [1] in seiner Kirche Messwein auf die Altardecke. Für die Christengemeinschaft ein schwerer Frevel, denn es handelt sich für sie um das Blut ihres Gottes. Schnell lässt Otto das weingetränkte Leinentuch hinter dem Altar verschwinden und versucht das Ganze zu vergessen. Doch sein Gewissen quält ihn und auf dem Sterbebett gibt er sein Geheimnis preis. Als das Tuch dann entdeckt wird, meint man in den Flecken ein Bild des am Balkenkreuz hingerichteten Christengotts zu entdecken und ein neuer Zauberkult wird geboren. Das Tuch wird zum Papst geschickt und der meint, das ist ein echtes Wunder. So oder so ähnlich ist die Story, das Ganze wird als Sensation gehandelt und bis heute kommen jedes Jahr ab dem Dreifaltigkeitssonntag für vier Wochen tausende Menschen nach Walldürn zum Wallfahrtsspektakel, ähnlich wie in Lourdes, Fatima, Tschenstochau, Altötting oder Mekka. Die genaue Geschichte der Wallfahrt wird im Stadt- und Wallfahrtmuseum erzählt, und wer mitmachen will, kann sich auf der offiziellen Wallfahrtshomepage umfassend informieren.
[Eberstadter Tropfsteinhöhle] Sie heißen Hochzeitstorte, WeisseFrau, Nikolaus, Vesuv und Große Familie. Und das sind nur spektakulärsten Tropfsteine. Ein paar sind dünn wie lange Spaghettis und heißen auch so, andere wiederum haben die Form von langen Fahnen, und die größten Formationen sind mächtige Abbrüche, die ihrerseits über Jahrtausende hinweg überwachsen sind. Manchmal sind auch Tropfsteine von unten (Stalagmiten) und Tropfsteine, die von oben wachsen (Stalagtiten) zusammengewachsen. Anfassen darf man nix, denn dann wachsen die Steine nicht mehr wegen dem Fett auf der Haut, und fotografieren auch nicht, aber nur deshalb, damit es im Sommer bei Hochbetrieb keinen Stau gibt. Aber im Internet gibt es genug Fotos. Um die Steine wirklich wachsen zu sehen, müsste man schon ein paar tausend Jahre warten, denn hier wird langsam gearbeitet. Soviel Zeit hat heute keiner mehr. Der Guide durch dieses mysteriöse Naturwunder wirkt immer noch begeistert, obwohl er das viele Mal erzählt hat. Wir sind in der Eberstadter Tropfsteinhöhle, und die wurde im Jahr 1971 zufällig bei Sprengarbeiten eines Kalksteinbruchs entdeckt und bereits 1973 öffentlich zugänglich gemacht. Seit einigen Jahren ist die Höhle auch barrierearm für Rollstuhlfahrer berollbar [2], und das finde ich super.
[Unterwegs] Die Höhle hat dem Kalksteinbruch, den es nebenan immer noch gibt, wirtschaftlich längst den Rang abgelaufen. Reisende werden empfangen von einem modernen Besucherzentrum und neben dem Eingang lädt das feine Restaurant Seeterrasse mit Blick auf den felsumgebenen Höhlensee zum Verweilen ein. Lesenswert ist auch der ausführliche Wikipedia – Artikel zur Eberstadter Tropfsteinhöhle. Von unserem Hotel in Walldürn war es nicht weit zum Bahnhof und der Regionalzug braucht ca. zwanzig Minuten nach Bödigheim. Von dort sind es gute 2,5 km zur Höhle, der Weg ist gut ausgeschildert. Das nächste Wanderziel für uns ist Seckach und wir haben diesmal eine Karte im Maßstab von 1:20 000. Da ist es schon wesentlich schwieriger, sich zu verlaufen, und es will uns auch nicht gelingen. Von Seckach bringt uns ein Zug direkt nach Osterburken.
Römer, Römer, Römer - Osterburken
[Volle Packung Limes] Der Vormittag ist vorbei und wir sind mit Wanderung, Höhlenbesuch, Weiterwanderung und Zugfahrt eigentlich schon gut bedient. Aber es steht noch Osterburken auf dem Programm, und dort gibt es nochmals jede Menge Stoff. Denn Osterburken war zu römischer Zeit Truppenstandort, erhalten sind die Reste eines Kohortenkastells nebst Annexkastell, ein Badegebäude sowie ein sogenannter Weihebezirk. Die Reste der römischen Therme sind – aus Zwecken der dauerhaften Sicherung – überbaut, und nebenan wurde im Jahr 2006 ein ganz modernes Limes-Informationszentrum, Römermuseum genannt, als Zweigmuseum des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg eröffnet. Vom Bahnhof sind es nur wenige Schritte bis dorthin, das Gebäude überzeugt schon von außen durch seine weltgewandte Architektur, aber zunächst ist Rast und Stärkung im Museums-Café Mithras angesagt. Meine Begleiterin stärkt sich mit einer Folienkartoffel, und ich erfreue mich an einem Putenwrap. Ein guter Ort zum Abhängen. Vor lauter Freude vergesse ich sogar zu fragen, ob es hier WLAN gibt.
[Hall of Fame] Unsere Führerin für die Besichtigung trifft ein. Eine Lehrerin, die wieder in ihren Heimatort zurückgekehrt ist und nun das Museum tatkräftig unterstützt. So ein kleiner Ort wie Osterburken kann sich ein Museum nur leisten, wenn auch alle dahinter stehen, sagt sie. Das neue Römermuseum ist für alle offen, die sich für das Thema interessieren, und nicht nur für die klassischen Bildungsbürger. Fachkundig bekommen wir auf der nahegelegenen Anhöhe den neugebauten Wachturm erklärt und erhalten eine spannende Führung durch die wichtigsten thematischen Schwerpunkte des Museums. Nicht nur die freigelegte Therme ist ein echtes Highlight – ich ertappe mich dabei, wie ich in Gedanken dort ein Bad nehme -, sondern auch das Familienfoto der römischen Götterwelt, das uns im ersten Stock mit seiner Farbenwucht im Comic-Style überrascht. Nicht wenige kommen wegen den Asterix-Comics ins Museum, sagt unser Guide, und das ist völlig legitim. Die zwei Stunden sind viel zu schnell vorbei und es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Im Hinausgehen denke ich, dass unsere Begleiterin uns vieles so plastisch erklärt hat, als wäre sie selbst damals dabei gewesen. Das kann keine Erklärtafel auch nur im Ansatz leisten.
[Phantasie] Also bin ich am Imaginieren und stelle mir vor: Im Jahr 2034, ich, inzwischen 79 jährig, setze mich auf meinen ionengetriebenen Rollator und lasse mich vom Römermuseum auf die nahegelegene Anhöhe zu dem rekonstruierten Wachturm fahren, von wo ich den hier schnurgerade verlaufenden Limes beobachten kann. Eine interaktive animierte 3D-Simulation zeigt mir den Limeswall im Jahr 213 nach unserer Zeitrechnung. Kaiser Caracalla unternimmt einen Feldzug gegen die aufständischen Germanen. Die Wachtürme entlang des Limes sind in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt und die Truppen in den Kastellen werden verstärkt. In der Ferne auf germanischem Gebiet werden größere Gruppen gesichtet, und ich kann mich entscheiden, ob ich als Römer oder Germane mitspielen darf. Ich entscheide mich für die Germanen und erlebe, wie eine römische Reitergruppe auf uns zustürmt, alles Elitesoldaten, die weit vor der Grenze, die wir eigentlich überrennen wollten, uns auf offenem Feld angreifen. Es kommt zum Gefecht und wir werden mächtig vermöbelt…. Eine Stunde später, erschöpft nach diesem Schauspiel an originalen Schauplätzen lasse ich mich vom Rollator zurück nach Osterburken in die original rekonstruierte römische Therme fahren, wo mich das Badepersonal nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Das Heilbad soll vor allem gegen Rheuma und altersbedingte Zipperlein helfen.
[Tower of Power] Tatsächlich ist im Jahr 2014 bei Osterburken ein Limes-Turm nach neustem Stand der Erkenntnisse nachgebaut worden, um einen Eindruck von den Gebäuden zu vermitteln (Die Germanen auf der anderen Seite kannten keine Steinbauten. Dass selbst schon Wachtürme aus Stein gebaut waren, muss einschüchternd gewirkt haben, aber zugleich auch verlockend, denn wie groß muss der römische Reichtum sein, wenn allein schon einfache Wachtürme so aufwändig gestaltet sind?)
[Limes] Die Römer haben im Nordosten ihres Imperiums Flüsse als Grenzen ihres Herrschaftsbereichs bevorzugt und das waren vor allem der Rhein und die Donau. Sie hatten, wie wir inzwischen wissen, flachgehende, wendige und hochmobile Boote, die effektiv gerudert und bei passendem Wind gesegelt werden konnten und mit denen sich leicht diese natürliche Grenze kontrollieren ließ. Im offenen Raum zwischen Oberrhein und der Donau war es naheliegend, die Grenze vorzuschieben, den Raum zwischen Rhein und Donau effektiv zu erschließen und, wie an anderen Orten auch, durch einen Limes zu sichern. Motiv waren weniger kriegerische Handlungen der Nachbarn, sondern zum einen das Abstecken des eigenen Hoheitsgebietes - Bis hier hin gelten unsere Regeln! - und zum anderen, um ein Migrationsregime zu etablieren. Die Grenze selbst war offen, wer aber in das Imperium hinein wollte, wurde sicher kontrolliert und musste sich erklären. An der Grenze selber wurde wahrscheinlich nicht gekämpft, die Römer waren Spezialisten für die Kriegsführung auf offenem Feld. Das Römische Imperium war mit Sicherheit ein Militärstaat, ein Verwaltungsstaat, irgendwie auch ein Vielvölkerstaat und gleichzeitig auch, so sagen fast alle, Maßstäbe setzend in Bezug auf Kultur und Zivilisation. Aber sicher bin ich mir da nicht. Auf jeden Fall steht fest: Die zwei Stunden, die wir eingeplant haben für das Römermuseum und seine Außenstellen reichen nicht einmal im Ansatz aus, um das Phänomen Limes umfassend zu würdigen.
[Abreise] Das Wochenende ist viel zu schnell vorbei und eigentlich hätten wir uns auch eine ganze Woche Zeit lassen können, um alles zu erleben. Meine Begleiterin fährt über Lauda nach Miltenberg zurück, wo sie ihr Auto geparkt hat, ich habe von Osterburken einen bequemen stündlichen Regionalbahn-Anschluss nach Würzburg. Von dort geht es weiter nach Hause. Miltenberg, Walldürn, Osterburken: Das war nicht einfach nur ein Wanderweg, das war eine volle Packung Kultur. Ich bin begeistert und werde mich sicher noch lange an diese Tour erinnern.
Berlin, 25.03.2014
Stefan Schneider
[Slideshow] Hier die Sammlung der Fotos, die auf der Wanderung entstanden sind, als Slideshow:
http://s1127.photobucket.com/user/doc_schneider/library/2014_03%20Limes_Wanderung
[Anmerkungen]
[1] Hokuspokus ist wahrscheinlich eine Verballhornung von Hoc est enim corpus meum, das ist der Anfang der lateinischen Wandlungsworte während eines katholischen Gottesdienstes.
[2] In der Höhle gibt es keine größeren Niveauunterschiede, aber etwa in der Mitte befindet sich eine höhergelegene Engstelle, die in den ersten Jahren nur durch einige Stufen zu überwinden war. Inzwischen wurde eine kleine Umfahrung durch den Berg gesprengt und damit ist die Höhle auch für rollstuhlfahrende Menschen vollständig befahrbar.
[Abbildungen]
Mauern und Grenzen. Foto: Klaudia Niepenberg
Limes-Wanderung. Foto: Klaudia Niepenberg. http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg90_zps772e55e0.jpg
Anreise. Foto: Felix König, WikiCommons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Torhaus_Mainbr%C3%BCcke_Miltenberg_2012.JPG
Wandern. Foto: Klaudia Niepenberg. http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg14_zps87e4d77b.jpg
Irrweg. Foto: Klaudia Niepenberg. http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg34_zps07366258.jpg
Gerolzahn. Foto: Klaudia NIepenberg. http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg31_zps21cb3f09.jpg
Zweifelhafte Statements. Sicherstellung des Beweismittels und Foto: Stefan Schneider http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFaust-Bier-Deckel-MistFotobyDoc_Schneider_zpsfe5da36b.jpg
Rekonstruktion. Foto: Klaudia Niepenberg http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg49_zps58807406.jpg
Walldürn. Blick auf die Wallfahrtskirche St. Georg. Foto Immanuel Giel. Quelle: WikiCommons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wallduern_Wallfahrtskirche_1.jpg
Walldürner Blutwunder. Homepage der Wallfahrt Walldürn. Eines des vier Altarbilder des Blutwunderaltars. http://www.wallfahrt-wallduern.de/dynamic/bildgalerie/grossbilder/bluwu004.jpg
Eberstadter Tropfsteinhöhle. Foto: Hartmann Linge, Quelle: WikiCommons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:201102261551a_(Hartmann_Linge)_Eberstadter_Tropfsteinh%C3%B6hle,_Haifischrachen.jpg
Unterwegs. Foto: Klaudia Niepenberg http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg77_zps5b5a6837.jpg
Volle Packung LImes: Ausstellungsraum im Erdgeschoss des Römermuseums Osterburken. Foto: Hartmann Linge, Quelle: WikiCommons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:200909161054MEZ_R%C3%B6mermuseum_Osterburken_EG.jpg
Hall of Fame: Bild dder Römischen Götterwelt im Römermuseum Osterburken. Foto: Hartmann Linge, Quelle: WikiCommons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:200909161130MEZ_Römermuseum_Osterburken_0G_Pantheon.jpg
Phantasie. Foto: Klaudia Niepenberg http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg35_zps363ce6b8.jpg
Tower of Power. Foto: Klaudia Niepenberg. http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg106_zpsb4980eb0.jpg
Abreise. Foto: Klaudia Niepenberg http://i1127.photobucket.com/albums/l625/doc_schneider/2014_03%20Limes_Wanderung/2014_03Limes_WanderungFotobyKlaudiaNiepenberg110_zpsf6348bbf.jpg
Hokuspokus ist wahrscheinlich eine Verballhornung von Hoc est enim corpus meum, die lateinischen Wandlungsworte während eines katholischen Gottesdienstes.
Das Fahren ohne Fahrschein mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin (U-Bahn, S-Bahn, Tram, Bus) ist an und für sich kein Problem, wenn mensch, so erzählte mir neulich eine Person, die ich zufällig in einer Kneipe traf, einige zentrale Regeln beachtet. Sie war mit Recht sauer, denn unlängst ist sie in eine Kontrolle geraten und hat dann freiwillig 40 € erhöhtes Beförderungsentgelt gezahlt. Bei einem regulären Ticketpreis von 2,60 € lohnt sich der Verzicht auf eine Fahrkarte bereits dann, wenn es gelingt, sechzehn Fahrten ohne Fahrschein durchzuführen. Da für Termine häufig ein Ticket für die Hinfahrt und ein weiteres für die Rückfahrt erforderlich ist, ist diese Rate schnell erreicht. So war der Tenor dieses Gesprächs.
Robert, so hieß diesem Mensch nämlich, erzählte mir sinngemäß folgendes: Entscheidend sei, stets aufmerksam zu sein und sich im Waggon so zu platzieren, dass es einfach ist, zu sichten, wer an den Bahnhöfen jeweils zusteigt. Günstig ist auch, direkt an der Tür stehen zu bleiben. Bei den Fahrgästen, die in der Station voraussichtlich zusteigen werden, ist abzuschätzen, ob es sich hier um Kontrolleure handeln könnte. Dabei gelten folgende Faustregeln:
Kontrolleure sind weder besonders jung (Jugendliche stellen keine Gefahr da) noch besonders alt. Kontrolleure treten in der Regel auch nicht allein auf. Kontrolleure gehen normalerweise nicht am Stock und sind auch nicht im Rollstuhl unterwegs. Auch haben Kontrolleure kein schweres Gepäck (das würde sie am Arbeiten hindern) und führen auch äußerst selten Getränke mit sich. Sie sind auch in der Regel weder besonders extravagant oder vornehm gekleidet. Auch sind Kontrolleure überwiegend Männer, nur ganz gelegentlich sind Frauen dabei. Anders gesagt: Kontrolleure sind in der Regel jüngere bis mittelalte Männer mit wenig Gepäck, also bestenfalls nur einem kleinen Rucksack oder eine Umhängetasche.
Es bietet sich also an, ab- und einzuschätzen, wer das ist, der hier einsteigt: Eine Familie mit Kindern: ungefährlich. Zwei Pärchen, die sich unterhalten: ungefährlich. Eine Schülergruppe: ungefährlich. Menschen mit Berlinplänen in der Hand: wahrscheinlich Touristen und so weiter …
Aus der Notwendigkeit, zu beobachten, wer zusteigt, ergibt sich natürlich, dass es um so schwieriger ist, die Situation zu überblicken, wenn besonders viele Menschen zusteigen. Also an Umsteigebahnhöfen ist besondere Vorsicht geboten. Oder aber zu Zeiten des Berufsverkehrs. Wobei andererseits, wenn Züge richtig voll sind, wird erfahrungsgemäß sehr selten kontrolliert, weil die Kontrolleure dann schlecht durchkommen. Aber vom Gesichtspunkt der Beobachtung es es am günstigsten, am Wochenende, besonders früh am Morgen oder spät abends ohne Fahrschein unterwegs zu sein. Zu diesen Zeiten werden auch naturgemäß sehr viel weniger Kontrollen durchgeführt. Aber Vorsicht: Ausnahmen bestätigen die Regel. Es wurden auch schon Kontrolleure Sonntagmorgen auf Streckenabschnitten angetroffen, wo sonst nie kontrolliert wird. Oder dass noch nach Mitternacht im letzten Zug kontrolliert wird.
Mein Bekannter erzählte, er habe, wann immer seine finanzielle Situation es hergebe, 40 € dabei, um dann im Fall, dass er doch Kontrolleure übersehen hat, sofort erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen kann. Der enorme Vorteil sei, dass mensch bei einer sofortigen Zahlung anonym bleiben könne. Und noch ein Punkt sei absolut entscheidend: Kontrolleure setzen sich nie hin. Wenn also Menschen einsteigen, die Kontrolleure sein könnten, sich suchend nach einem Sitzplatz umsehen und sogar einen aufsuchen, sind es in der Regel keine Kontrolleure. Das sei im Grunde das Wichtigste, was es bei der Beobachtung der Situation zu beachten gäbe. Ach ja, und im Zweifelsfall sei Aussteigen die sicherste Strategie. Zwar komme er dann etwas langsamer vorwärts als normal, aber es gehe ja auch darum, das Zahlungsrisiko zu minimieren.
Er würde es auch ablehnen, sich als notorischen Schwarzfahrer zu bezeichnen. Dieser Begriff schildere eine Perspektive, die unterstellt, das Fahren ohne Fahrschein sei etwas verwerfliches. Das Gegenteil aber sei der Fall: Mobilität ist ein zentrales Grundrecht der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft, und die dafür erforderlichen Verkehrsmittel und die dazugehörige Infrastruktur werden allen bedarfsgerecht und kostenfrei zur Verfügung gestellt. Wie das finanziert werden soll? Gar nicht. Ein Teil der Menschen arbeitet daran, die öffentlichen Personentransport zu gewährleisten, andere Menschen arbeiten an anderen erforderlichen Aufgaben.
Wie es denn passiert sei, dass er trotzdem einer Kontrolle nicht entgehen konnte, wollte ich zum Schluss noch wissen. Unaufmerksamkeit, der Klassiker, murmelte er. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof, drei Stationen mit der U-Bahn, drei Stationen mit der S-Bahn, eine klassische eher gefahrlose Kurzstrecke. Am vorletzten Bahnhof habe er schon daran gedacht, was er auf dem Hauptbahnhof noch für die Fahrt einkaufen müsse, und dabei habe er die Gruppe der Kontrolleure übersehen, die Friedrichstraße hinzugestiegen sei.
In nächster Zeit wolle er sich verstärkt mit Warnsystemen befassen. Schon jetzt setze er jedes mal einen Tweet ab, wenn er Kontrolleure beobachtet, um andere Freifahrer zu warnen. Günstig wäre natürlich eine App, die alle Nutzer_innen öffentlicher Transportmittel jederzeit darüber informiert, wo Kontrollaktivitäten zu Gange sind und Möglichkeiten aufzeigt, diese Gegenden zu umfahren. Die Sorge, dass diese Vernetzung kriminalisiert werden könnte, habe er nicht. Denn schließlich sei es schon jetzt Gang und Gäbe, dass im Radio vor Verkehrs- und Geschwindigkeitskontrollen auf den Straßen gewarnt werde.
Soweit das, was mir Robert vor einiger Zeit in der Kneipe erzählte.
Berlin, 15.02.2014
Stefan Schneider
PS: Zum Abschluss des Gesprächs schenkte mir Robert noch den Feststellungsbeleg, der ihm ausgehändigt wurde ...
[Abbildung: Feststellungsbeleg, Quelle: eigene]