Warum Gedenkveranstaltungen mit Kranzniederlegung in der BündnisGrünen Fraktion Pankow so wenig beliebt sind, weiss ich nicht. Womöglich weil solchen Treffen das Vorurteil anhaftet, sie seien wenig produktiv und mensch verschwende nur seine Zeit. Ich sehe das anders. Eine Gelegenheit, um aus dem Haus zu gegen und Orte und Plätze aufzusuchen, an denen ich im Alltag nicht vorbeigehe oder die von mir im Alltag kaum wahrnommen werden.
Der Tag der Befreiung - die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 - ist ein solcher Gedenktag. Die Generation der Zeitzeugen des Kriegs und der faschistischen Terrorherrschaft - sofern sie noch lebt - ist langsam aber sicher hochbetagt, und die wenigen, die noch leben, haben altersbedingt in der Regel nur noch ganz unspezifische Kindheitserfahrungen.
Mehrere Millionen Kriegstote, mehrer Millionen planvoll vernichteter Menschen - der Zweite Weltkrieg und die Terrorherrschaft der Nazis war eine von Deutschen verursachte menschliche Katastrophe. Und noch schlimmer: Die deutschen Menschen waren - trotz vielfältiger Widerstandsbemühungen quer durch die gesamte Gesellschaft - in der Summe doch nicht in der Lage, sich von diesem Regime der Verbrecher, Mitläufer, Mitwisser und der Schweiger selbst zu befreien.
Andere mussten es tun und haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Unzählige Soldaten und Zivilisten haben die deutsche Befreiung mit dem Leben bezahlt. Ich finde, dafür lohnt es sich schon, sich aus dem Bett zu bewegen, auf das Fahrrad zu schwingen, ein Blumengebinde abzuholen und sich dann einzufinden vor einem Mahnmal, das daran erinnert. Und dann einige wenige Minuten inne zu halten und darüber nachzudenken, was damals war und was ich jeden Menschen verdanke. Denn auch wenn auch mein Alltag über weite strecken zwishen Aufstehen, Alltagsbesorgungen und Abendspaziergang weitestgehend banal zu sein scheint, die Freiheit die ich habe und die Möglichkeit, weitgehend angstfrei für das zu Kämpfen, was ich für richtig halte, das ist alles andere als selbstverständlich.
Das wird mir dann immer wieder bewußt, wenn ich ausser der Reihe an solchen Gedenkveranstaltungen teilnehme und mir ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken gönne.
Gemeinwesenarbeit
Vorbemerkung. Auf Einladung von Prof. Dr. Martina Wegner bin ich am Montag, den 14.02.2011 nach Müchen - Pasing gefahren, um dort an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der HAW München über eine Vertretungsprofessur für Gemeinwesenarbeit mit der Schwerpunkten Sozioökonomie und Gender zu sprechen. Um auf dieses Gespräch vorbereitet zu sein, habe ich nachfolgende Stichwortsammlung erarbeitet, die ich hier gerne öffentlich machen will.
Dr. Stefan Schneider, Pasing 15.02.2011
Universell -Universalität
- Stadt / Land /Metropole / Megacity / Region / Migration / Sonderfo /
- Vorbereitung der Studierenden auf mögliche Praktika, auch Auslandspraktika bzw. denkbare Berufsfleder
interdisziplinär - Interdisziplinarität
- Stadtplaner, Verkehrsplaner, Architekten, Soziologen, Juristen, Historiker, Archäologen, Ökonomen (BWL, VWL), Politologen, Theologen, Designer, Kommunikationswissenschaftler, Hydrologen, Ökologen, Psychologen, ...
Geworden - Gewordenheit
- nicht als Selbstzweck, sondern um Gegenwart besser verstehen zu können und Modelle für die Zukunft zu haben _> und extrapolieren zu können anhand unterschiedlicher Modell // Globale Ungleichzeitigkeit
- Vergleichende bzw. Systematische Gemeinwesenarbeit
Beteiligen - Beteiligung
- Kernpunkt. Menschen konstituieren Gemeinwesen.
- Beteiligung von Studierenden (als Arbeitsform: in Vorbereitung auf Praktikum / Bachelor / Beruf)
- Beteiligung als Wert und Norm/ Mitbestimmung /Teilhabe / Aneignung / Selbstbestimmung
- Selbstorganisation / itd
- als Handlungskonzept ,
- auch und gerade bei TOP-Down Projekten (Quartiersmanagement usw. / Regionaler Planung /
- Kommunalen Initiativen)
- Kreativität / Zukunft entsteht am Rand
Vielfältigkeit / Gleichzeitigkeit / Virtualität
- Armut – Reichtum
- Ureinwohner – Zugezogene - Migrantinnen
- Junge – Alte (Generationenübergreifend)
- Spezialisten – Allrounder
- polarisierer – versöhner
- Frauen – Männer – LSBT
- Singles – Alleinerziehende – Familien – Clans
- Staatlich – Wohlfahrt – Verein – Privat – informell – geduldet – illegal
- real – fiktiv
- direkt – repräsentativ
- repressiv – ermutigend
- postive & negative Entwicklungstendenzen
- ...
- Community Organizing via
- Web /
- Soziales Netzwerk /
- digitale Tools /
- Stadtteilwiki
Methoden der GWA
KERNPUNKT - persönliche direkte Ansprechpartner_Innen
- Vor Ort Begehung
- Beobachtung
- Teilnehmende Beobachtung
- Recherche
- Investigativer Journalismus
- Reportage
- Heimatmuseum
- Archivarbeit
- Literaturrecherche - Bildberichterstattung
- Video-Clip
- Performance
- Unsichtbares Theater
- Zeitzeugen-Befragung
- Bewohner-Befragung
- Umfrage
- Sozialraumportrait
- Sozialstrukturaktlas
- Gremienarbeit
- Sozialausschuss
- Regionalkonferenz
- Stadtteilkonferenz
- Planungsraumkonferenz
- Sanierungsgebiet
- Behutsame Stadterneuerung
- Bebauungsplan
- Erhaltungssatzung
- Umstrukturierungssatzung
- Sanierungsgebiet
- Betroffenenvertretung
- Sozialplanverfahren
- Mieterberatung - Stadtteilfest
- Stadtteilzeitung
- Webportal
- Stadtteilblog
- Webportal
- Nachbarschaftshaus
- Stadtteilzentrum
- Platzhaus
- Strassenfest
- Kinderfest - Ausstellung
- Einwohnerversammlung
- Einwohnerbefragung
- Einwohnerumfrage
- Baumpflanzung
- Fassadenverschönerung
- Hofgestaltung
- gemeinsame Arbeitseinsätze
- Kiezfrühstück
- Kiezkasse
- Diskussionsveranstaltung
- Public Screening
- Stammtisch
- Bezogen auf einzelne Akteure
- Altere
- Kinder
- Jugendliche
- Strassenjugendliche
- Obdachlose
- Arbeitslose
- Süchtige
- Psychisch Kranke
- Migrant_innen
- sans papiers - Sozialmanagement
- Quartiersmanagement
- Lebensweltorientierung
- bzw Lebenslageorientierung
- Sozialraumorientierung
- Vernetzung
Sozioökonomie
- Schenkökonomie
- Umsonstökonomie
- Tauschökonomie
- CarSharing
- Couchsurfing
- Filesharing
- - Leihökomie
- Schattenökonomie
- Schwarzarbeit
- Nachbarschaftshilfe
- Freiwiliges Engagement
- Ehrenamtliches Engagement
- Freiwiligenagenturen
- Gemeingüter
- Commons
- Öffentlicher Raum
- Öffentliche Orte
- Öffentliche Plätze
- Hausbesetzungen
- Alternative Ökonomie
- Nachhaltige Ökonomie
- Reclaiming Spaces
- Nachbarschaftsgärten
- Interkulturelle Gärten
- Gemeinschaftsgärten
- Soziale Infrastruktur
- KJFE, Kindergärten, Schulen,
- Seniorenbegegnungsstätten, Bibliotheken,
- Volkshochschulen, Bürgerämter
- Stadtteilzentren
- Nachbarschaftsläden
- Verkehrsanbindung - Genossenschaften
- Kollektive
- Verbände
- Vereine
- Religionsgemeinschaften
- Spende
- Projektfinanzierung
- Zuwendung
- Leistungssätze
- Leistungspauschalen
- Treuhändler – Modell
- Co-Finanzierungsmodelle
- Fehlbedarfsfinanzierung
- Kosten-Leistungs-Rechung
- Haushaltswirtschaft
- Haushaltsordnung
- Haushaltsplanaufstellung
- Controlling
- Kostenkontrolle
- Qualitätskontrolle
- Evaluation - Personalentwicklung
Gender
HIER ZUSAMMEN MIT INTERKULTURELLER ÖFFNUNG Intercultural // Gender // Community – Studies
Querschnittsthema
- mehr als nur Geschlechtergerechtigkeit
- Butler/ Foucault – Sex, Gender, Identität, Macht, Herrschaft, Zuweisung, Brüche
- Gender-Mainstreaming
- Gender-Budgeting
- Ausgewählte Produkte / Gegenstände / Themen
- Analysekriterien
- Auswertung / Steuerung
- Frauenbewegung & soziale Arbeit (Alice Salomon, Hedwig Wachenheim, Ella Kay, die Wienerin Ilse
- Arlt)
- Feminismus / feministische Theorie / feministische Studien
- Gleichstellungsfragen
- sexuelle Vielfalt /LSBT // schwul / lesbisch / bi- / transgender
Themenfelder:
- Familien / Alleinerziehende
- Berufliche Bildung
- Gemeinwesen
- Kommunale Verwaltung
- Städtepartnerschaften / Frauenrechte (MERSIN)
- Jugendarbeit
- Kindergarten
ego
- Koedukative Jugendarbeit (KSJ)
- neue Männer bracht das Land (Ina Deter)
- Frauenbewegung
- Simon de Beeauvoir: Das andere Geschlecht
- Unser Körper Unser Leben
- Der Tod des Märchenprinzen
- Studiengang TU (Femistische Sozialarbeit)) Tina Thürmer Rohr, Christine Holzkamp Doris Jansen ua.
- Gleichstellung und Integraton (stellv. Ausschussvorsitzender)
- Girls Day
- Aktionstag gegen häusliche Gewalt
- Equal Pay Day
- Gender Mainstreaming
- Gender Budgeting
- Frauenbeirat des Bezirks
- Frauenbeauftragte des Bezirks
- Frauenförderung // bezirklicher Frauenförderplan
- Frauenverbände
- Frauenprojekte / Beratungsstellen / Frauenzufluchtswohnen
Literatur
- Kessl, Reutlinger, Mauer, Frey (Hrsg:): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden 2005
- Darin: GWA, QM; USW: - Hinte, Lüttringhaus, Oelschlägel: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster 2001
- Im Dickicht der Städte - Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Hg. vom Institut für soziale Arbeit e.V.
- Redaktion: Erwin Jordan und Hilmar Peter. Münster 2001
- Glaser, Kilka, Prengel (Hrsg): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn 2004Literatur:
- Handbuch Gender und Erziehungswissenschaften. 2004
Einzelne Autor_innen
- Leo Penta – Community Organizing
- Peter Szynka -
- Theo Klöck
- Saul Alinsky
- Rothkegel
- Milton Bennet
- CW Müller (wie helfen zum Beruf wurde)
- Häussermann, Holm
- Dokumente zu
- Soziale Stadt
- QM
- Bürgerbeteiligung
- Bürgerhaushalt
- sozialräumliche Orientierung - DEFIZIT Frauen in der GWA
- ABER AUCH:
- Medien / Netzwerke
80 Kilometer östlich vom Alexanderplatz beginnt Polen. Von Berlin aus sind Szczecin näher als Magdeburg, Praha und Poznan näher als Köln, Warschau näher als München, und dennoch sind diese Städte Ewigkeiten entfernt in unseren Köpfen. Polen, gar Weißrussland oder Russland sind Ferienziele bestenfalls für Aussenseiter oder Heimwehtouristen. Die Kette der Vorurteile läßt beispielhaft sagen in einem Satz: Ehrlicher Pole mit eigenem Auto sucht Arbeit! Umfragen dokumentieren: In der Beliebtheitsskala der Ausländer rangieren Bürger slawischer Staaten ganz unten. Lieber akzeptieren die Berliner einen Türken oder Afrikaner als Nachbarn als einen Polen. Polnische Wirtschaft: Obwohl niemand genau sagen kann, was das ist, markiert dieser Begriff ein Schimpfwort. Die wenigen deutsch-polnischen oder deutsch-russischen Gesellschaften agieren fast völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit, über die Grenze fährt man bestenfalls zum Polenmarkt oder aber zum Tanken. Dabei ist Polen bereits Nato-Mitglied, die EU-Aufnahme steht in wenigen Jahren bevor. Die Oder markiert nicht nur eine harte Sprachgrenze, sondern auch eine mentale Grenze: Ab hier beginnen die Vorurteile.
Nach dem "Mietenreport" und "Hauptstadt der Verdrängung. Berliner Zukunft zwischen Kiez und Metropole." legt der taz-Redakteur Uwe Rada nunmehr sein drittes Buch vor, es heißt: "Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt". Das ist genaugenommen kein Buch über Osteuropa, sondern ein Buch über den Berliner Osten, der im Zentrum der Hauptstadt beginnt und irgendwo hinter Moskau endet. Im ersten Kapitel "Der Berliner Osten" zeigt der Autor: Die Osteuropäer sind schon längst präsent in Berlin, sie wohnen, leben, arbeiten hier, haben längst eigene Zentren von Kultur und Kommunikation entwickelt. Die Autoscheibenputzern am Kottbusser Tor gehörten dazu ebenso wie die polnische christliche Gemeinde in Tempelhof, der internationale Basar in Treptow und die russischen Siedlungen in den Plattenbauten Marzahns. Der zweite Teil "Östlich von Berlin" beschreibt die komplexen und sich ständig verändernden Wirtschafts- und Grenzbeziehungen der Pendler, Saison- und Gelegenheitsarbeiter, Migranten und Märkthändler zwischen Berlin - Lichtenberg über die deutsch-polnische bis hin zur polnisch-ukrainische Grenze bis nach Russland hinein. Der polnische Arbeiter, der in Berlin gelegentlich jobt, um an der polnischen Küste eine eigene Ferienwohnung eröffnen zu können, ist nur ein Beispiel. Das dritte Kapitel "Der Westen schlägt zurück" ist das schwierigste. Der Schrei nach Sicherheit und Ordnung, die verworrenen politischen Programme zum Thema, die Beschreibung von Grenzziehungen und Abgrenzungen innerhalb der Stadt und der Stadtentwicklungspolitik - ja. Schwierig zu verstehen - vor allem für nichtberliner Leser - aber ist, was die architektonische stadtplanerische Zielsetzung rund um den Alex damit zu tun haben soll.
Das Buch ist angereichert durch ein schönes Fotoessay zum Thema "Grenzstadt Berlin" der Fotografin Claudia C. Lorenz und enthält noch ein kurzes Nachwort in Form von neun Notaten des Publizisten und Architekturkritikers Wolfgang Kil sowie eine ganze Reihe von Anmerkungen und Literaturangaben. Nur eine Liste mit weitergehenden Literaturempfehlungen habe ich vermißt. Das Buch ist mit 19.40 Euro zwar nichts für den schmalen Geldbeutel - aber es ist unterhaltsam geschrieben, regt an zum Nachdenken und zum Weiterlesen. Rada geht hin, schaut zu, schreibt auf. Reportage anschaulich, detailliert, präzise. Ergänzt durch Hintergrundinformationen, Daten, Zahlen, Fakten, Zitate. Bilder und Fragen tauchen auf.
Das vierte und kürzeste Kapitel "Nicht mehr und noch nicht" ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Provisorien und dafür, Vertrauen zu haben in Menschen, die nach Berlin kommen, weil sie sich hier eine Perspektive erhoffen, vielleicht aus Armut, vielleicht aus Neugier, vielleicht nur zeitweise oder für eine Zwischenstation. Der Osten ist im Westen schon längst angekommen. Und weil die Menschen längst schon da sind, müssen wir nicht fragen: Was nehmen sie uns weg? sondern vielmehr: Wie können Sie uns bereichern? Und warum?: "Wer nach Osten geht, weiß, daß die Menschen, die in diesen Zügen sitzen, etwas mitbringen, worauf man sich im Westen erst wieder besinnen muß: nichts als sich selbst.", sagt Uwe Rada. Das aber ist schwierig auszuhalten.
Stefan Schneider
Uwe Rada: Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt. Mit einem Fotoessay von Claudia C. Lorenz und einem Nachwort von Wolfgang Kil. Berlin: Basisdruck Verlag GmbH 2001. ISBN 3-86163-115-6, 245 Seiten, 32 Fotos, 19,40 Euro
Dieses Jahr 2010 war von Veränderungen gekennzeichnet. Im Winter 2009_10 entdeckte ich die Arbeiten von Hardt und Negri zu Empire und Multitude und begriff, dass sich hier eine völlig neue, erfrischende Sicht auf die Welt und die Möglichkeiten ihrer Entwicklung abzeichnen könnte. Es gibt keine Gründe mehr für Herrschaft, sondern wir haben alle Mittel zur Produktion unseres Lebens in unseren Händen. Wir brachen aber eine neue Form, wie wir mit den Mitteln unseres Lebens umgehen und zu ihnen kommen. Mit Commonwealth, dem in Frühjahr 2010 erschienenen Buch dieser Autoren ist dies angedeutet. Auch der Besuch bei der re:publica bestärkte mich daran, dass wir dabei sind, dramatisch unserer Welt zu verändern und dies auch sinnvoll tun können.
Mit dem Einstieg in soziale Netzwerke, in Microblogging und einer neuen Neugier auf das digitale Leben habe ich auch hier einen lange verloren geglaubten Anschluss wieder gefunden. Wenn ich arbeite, dann doch digital. Auch der neue Klassenkampf wird ein digitaler sein. hier zeichnet sich eine neue Qualität ab. Die von mspro entwickelte These vom absoluten Kontrollverlust ist kein Abschied, sondern der Gewinn neuer Handlungsfähigkeit. Wir können in der digitalen Welt loslassen, ja wir müssen es tun. Die Konsequenzen für die Wissenschaft und speziell der sozialen Arbeit sind zu durchdenken, aber auch im ganz persönlichen Leben. Materieller Besitz wird deutlich weniger wichtig, ich arbeite hart daran, mich von diesem Ballast zu befreien.
Viele neue Leute durfte ich kennen lernen in diesem Jahr, Freundschaften wuchsen daraus. Die Reisen nach Istanbul und Brüssel und anderswo waren eindrucksvoll und lehrreich. Mit dem Boot bin ich aufgelaufen, wer weiß, wo für das gut war. Dafür habe ich einen umso anspruchsvolleren Reiseplan für 2011. Die Auseinandersetzungen mit Ämtern und Behörden kosteten Kraft, aber auch hier war die Ebene der Auseinandersetzung von anderer Qualität, wenigstens von meiner Seite aus. Noch im frühen Sommer war nicht wirklich absehbar, dass ich meinen Vater verlieren würde. Ich bin dankbar, dass wir - meine Mutter, mein Bruder und ich - ihn bis zum Schluß begleiten durften. Es waren trotz des Leidens - erfüllte Tage und ein guter Abschied, der mir eher Hoffnung als Angst macht.
Um diese vielen Umbrüche deutlich zu machen, die meistenteils noch gar nicht abgeschlossen sind, habe ich ein Weihnachtsbild ausgewählt, das völlig konträr zu unseren Seherwartung steht. Dieses Bild von Egon Schiele stellt eine Familie dar, irgendeine. Ihre Nackheit fällt sofort auf und fasziniert, und ist doch keinen Moment lang pornographisch. Diese Darstellung legt vielmehr den Blick frei auf den ganzen Menschen - seine Sorgen, Gedanken und Ängste genauso wie seine Fähigkeit, einzugreifen und zu verändern.
In diesem Sinne freue mich mich, mit Euch kurz innezuhalten und Kraft zu tanken und neugierig zu werden auf das, was kommt im Jahr 2011.
Alles Gute und meine besten Wünsche zu Weihnachten und für das Neue Jahr!
Stefan Schneider
DIE ANSTALT - Psychiatrie für misshandelte Kuscheltiere
Betreff: Überweisung des Patienten Lilo.
Sehr geehrte Kollegin, sehr geehrter Kollege,
Hiermit überstelle ich Ihnen den Patienten Lilo. Die weitere therapeutische und medizinische Behandlung liegt nun in Ihren Händen. Bitte prüfen Sie nach dem strapaziösen Transport umgehend den Zustand des Patienten, um eventuelle durch den Transport verursachte Schäden oder Störungen möglichst schnell behandeln zu können.
Lilo hat bereits einen längeren Aufenthalt in unserer Klinik hinter sich, dennoch wird eine weitere, intensive Betreuung Ihrerseits notwendig sein. Hierfür möchte ich Sie kurz über die bisherige Diagnose informieren:
Zur Anamnese:
Die soziale Vorgeschichte des Patienten ist nur grob bekannt. Nach Angaben seiner letzten Besitzerin ist dem Plüschnilpferd nie etwas Besonderes oder Böses widerfahren. Solchen Aussagen ist allerdings immer mit einer gewissen Skepsis zu begegnen, und nur die Äußerungen des Patienten könnten hier mehr Licht ins Dunkel bringen. Da der Patient jedoch konsequent die Sprache verweigert, müssen wir uns vorläufig mit diesen Informationen zufrieden geben.
Symptomatik und vorläufige Diagnose:
Neben der Sprachverweigerung ist als wesentliches Symptom der zwanghafte Puzzletrieb des Patienten zu nennen. Dieser richtet sich auf ein recht simples, zweiteiliges Holzpuzzle, bei dessen Lösung Lilo seit seiner Einlieferung noch keine nennenswerten Fortschritte erzielt hat. Ein Zusammenhang zwischen dem wiederholten Scheitern an dem Puzzle und der Sprachverweigerung ist wahrscheinlich.
Um eine Kontaktaufnahme mit dem Patienten zu erreichen ist es allerdings ausgesprochen gefährlich, ihm das Puzzle einfach wegzunehmen. Er ist ohne sein Holzpuzzle komplett verloren. Aus diesem Grund haben wir sicherheitshalber die beiden Puzzleteile mit einem Garn an seinen Füßen befestigt.
Eine mögliche Kommunikationsbrücke für den Patienten könnte eine andere, von der Art dem Puzzlen ähnliche Beschäftigung darstellen. So hat der Patient bei IQ-Tests überdurchschnittlich gut abgeschnitten; Blockaden traten immer nur auf, wenn Elemente mit der Form der Holzpuzzleteile in den Aufgaben vorkamen. Die Anziehung, welche von diesen Gebilden ausgeht, scheint der Schlüssel zu dem Problem des Patienten zu sein, denn sie dominieren sein gesamtes Denken und Handeln. Allerdings stellen sie gleichzeitig eine unüberwindbare Mauer dar. Eine kreative Gestalt-Therapie könnte dem Patienten neue Lösungswege offenbaren, birgt aber gleichzeitig die Gefahr des noch tieferen autistischen Versinkens in eine abstrakte Welt.
Ich bin sicher, dass Lilo bei Ihnen in den besten Händen ist und bedanke mich nochmals im Namen der gesamten Klinik für Ihre Unterstützung,
Hochachtungsvoll,
gez. Dr. Kindermann
Leitender Chefarzt der Psychiatrie für misshandelte Kuscheltiere.