Schallplatten. In unserer großen Wohnung in der Hauptstraße hatten wir eine Kammer, die sicher keine ein Meter sechzig breit war, aber doch fast vier Meter lang und – weil Altbauwohnung – sehr hoch. Und es gab ein großes Fenster zu unserer Balkonterrasse. Also baute ich eines Tages dort ein Hochbett ein für unsere Gäste. Nach einem knappen Jahr kam Petra an und sagte, ein Freund von ihr käme aus beruflichen Gründen von Düsseldorf nach Berlin und bräuchte erstmal eine Unterkunft. Tatsächlich wohnte Dirk – statt ein paar Tagen oder Wochen – so ziemlich ein ganzes Jahr bei uns. Recht früh am Morgen verließ er das Haus, kam abends in der Regel recht spät von Arbeit nach Haus, leerte dann noch ein oder zwei Bier in der Küche und verzog sich dann in die Kammer auf sein Hochbett. Dirk war ein fürchterlicher Chaot, der überall in der Kammer seine dreckige Wäsche verteilte, so dass es fortan in der Kammer immer nach Stinksocken roch. Beeindruckend war aber seine Plattensammlung, die fast die ganze linke Seite von der Tür bis zum hinteren Wandschrank ausfüllte, also gute vier Meter. Ich hatte die Erlaubnis, seine Bestände zu sichten und so machte ich Bekanntschaft mit Siglo XX, Pere Ubu, Kevin Coyne, Peter Hammill und vielen anderen interessanten Musiker_innen.
Schwankungen. Dirk arbeitete bei einer Spedition und auch ich habe dann bald einen guten Studentenjob da gehabt. Klar, dass bei dem täglichen Betrieb mehrerer größerer LKW bis zu einem zulässigen Gesamtgewicht von bis zu 7,5 Tonnen, die ich ja bis heute mit meinem Führerschein fahren darf, der eine oder andere Schaden passierte. Meistens waren das abgefahrene Außenspiegel oder irgendwelche Kratzer oder Beulen, die selbst erfahrenen Kraftfahrern hin oder wieder passierten. Über die Firma waren wir damals versichert. Ich denke, dass Dirk damals einen guten Verkehrsrechtsschutzversicherung Vergleich vorgenommen hat, um für die Firma die beste Versicherung zu ermitteln. Ich persönlich erinnere mich speziell an eine Begebenheit in Bremen, wo es ja durchaus enge Straße gibt, die zudem noch Einbahnstraßen sind. Ich war auf dem Weg zu einem Kunden und zwängte mich mit dem großen LKW durch die Straßen. Mit eingeklappten Außenspiegeln war exakt an jeder Seite noch 2 cm Platz, um durch die Straße zu fahren. Also fuhr ich los. Was ich nicht beachtete war, dass während der Fahrt auf den holprigen Kopfsteinstraßen in den Bremer Innenstadt der Kasten vom Fahrzeug ziemlich bedenklich ins Schwanken geriet und dadurch doch ein Außenspiegel eines anderen Fahrzeugs zu Bruch ging. Und Außenspiegel gerade von größeren Fahrzeugen sind nicht unbedingt preisgünstig. Aber darum musste ich mich glücklicherweise nicht kümmern, das regelte ja die Spedition.
Berlin, 06.06.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a2/Stamps_of_Germany_%28DDR%29_1978%2C_MiNr_2327.jpg
Belohnung. Ich weiß nicht mehr genau, wann es begann, aber es begann, als wir noch am Mariendorfer Damm wohnten. Ich muss damals in die Dritte Klasse gegangen sein, und es wurde mit den Schulnoten irgendwie wichtig. Und zwischendurch gab es dann auch diese Klassenarbeiten, die benotet wurden. Und immer, wenn ich eine gute oder sehr gute Note nach Hause brachte, bekam ich dann eine Mark und zehn Pfennig zugesteckt und die Aufforderung: Kaufe Dir davon eine Currywurst oder etwas anderes, was Du gerne magst. Wie auch immer, in meinen Erinnerungen wollte ich nie etwas anderes als Currywurst und so ging ich reflexartig zu dem kleinen Imbiss, der in Richtung Ullsteinhaus an der anderen Seite vom Mariendorfer Damm neben der Esso-Tankstelle lag. Dort, wo mein Vater immer zum Tanken fuhr. In dieser Imbissbude gab es Spielautomaten und gelegentlich holten wir von dort auch Halbe Hähnchen, wenn wir mal darauf Lust hatten. Jedenfalls bestellte ich dann dort immer eine Currywurst mit Darm und Brötchen und fühlte mich mächtig belohnt für meine schulischen Leistungen. Selten war ich schlechter als zwei oder eins und dann ärgerte ich mich – weil es keine Currywurst gab.
Benotung. Heute lehne ich Noten und Benotungen ab, weil ich durchschaut habe, dass das nichts weiter als ein sehr übeles Disziplinierungs-, Bestrafungs- und gesellschaftliches Ausschließungssystem ist. Es geht um die Herstellung von leistungsbereiten, unterwürfigen Menschen auf der einen, und ausgesonderten, bewusst benachteiligten Menschen auf der anderen Seite. Letztere sollen dann zu Billiglöhnen arbeiten, denn sie haben ja nichts gelernt. Dabei sind Menschen unterschiedlich und haben ganz verschiedene Talente, Begabungen und Neigungen. Diese gilt es zu fördern und zu entwickeln, und zwar ganz vorbehaltlos und individuell. Noten verteile ich persönlich nur noch in Bezug auf Dinge. Also wie ein Kaffee schmecken kann zum Beispiel in einer Skala von Eins bis Zehn, wobei Zehn die Höchstnote darstellt. Auch meine Liebe für Currywurst ist geblieben, aber jetzt bin ich derjenige, der Noten verteilt. Die meisten Currywürste, die in Berlin zu kriegen sind, haben eine eher durchschnittliche Qualität. Die besten Currywürste der Stadt gibt es meines Erachtens in der Curry-Baude am Gesundbrunnen. Bei meinen unregelmäßigen Stichproben verteile ich regelmäßig Noten von 9,7 und 9,8. Höher habe ich noch niemals Currywürste gewertet.
Begeisterung. Die Webseite www.24kredite.org wäre ein geeignetes Portal für Recherchen zum benötigten Startkapital, um einen Imbiss starten zu können. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Geschäftsidee in einigen Städten gut funktionieren würde. Mit einem bon Kredit Seriös wäre es möglich, sich damit eine eigene Existenz aufzubauen. Zum Beispiel gibt es in New York City nur ein einziges Restaurant, in dem es Currywürste zu kaufen gibt. Hier sehe ich echte Marktchancen, denn auch Nathan's Famous konnte sich bereits 1916 in Coney Island mit einem Hot-Dog-Imbiss etablieren. Seit dem legendären Streit, wer wohl die meisten Hot-Dogs essen könnte und dem seit dem jährlich ausgetragenen Nathan's Hot Dog Eating Contest, erlangte die Fast-Food-Kette ein rasanten wirtlichen Aufschwung und ist heute der Marktführer. Eine ähnliche Strategie würde ich wohl auch benötigen, um mich mit meiner Geschäftsidee auf dem Amerikanischen Markt zu etablieren. Aber mit der Kapital hätte ich ja die notwendige Energie dafür.
Berlin, 05.06.2012
Stefan Schneider
Verhindert. Wasser hat keine Balken! Diesen Satz habe ich bis heute nicht verstanden. Weil Wasser keine Balken hat, kann man darin untergehen. Ich hatte auch weiter keinen Bezug zum Schwimmen bis zur 4. Klasse. Da war Schwimmunterricht obligatorisch. Plantschen – schön. Trockenübungen am Rand vom Nichtschwimmerbecken – geschenkt. Dann diese Gleitübungen mit dem Schwimmbrett aus Stryropur, an dem man sich prima festhalten konnte – super! Ohne Schwimmbrett mit Schwimmgürtel als Auftriebshilfe – das war schon zweifelhaft! Immer mehr Klassenkameraden wechselten in das Schwimmerbecken, um mich herum wurde es einsam. Die Bemerkung Du willst doch wohl nicht der letzte Nichtschwimmer von Tempelhof werden! traumatisierte mich vollends. Vollkommen verängstigt und verkrampft klammerte ich mich an den Rand des Schwimmerbeckens, dankbar für jede Krankheit, die mich an diesem Schwimmunterricht hinderte. Zum Glück war zum Ende des Schuljahrs die Schwimmhalle in der Götzstraße wegen Revisionsarbeiten geschlossen. Ich habe das 4. Schuljahr beendet, ohne Schwimmen gelernt zu haben und im 5. Schuljahr war Schwimmen nicht vorgehen. Gott seit Dank
Vermieden. Als Nichtschwimmer konnte ich auch nicht an den jährlichen Pfingstzeltlagern teilnehmen, die die KJG der Gemeinde Maria Frieden organisierte. Denn die gingen immer in die Nähe von einem See. Nicht nur, weil ich fürchtete, mich zu blamieren, sondern auch, weil ich richtiggehend Angst davor hatte, von den anderen unter Wasser gestukt zu werden – nur so aus Spaß! Ich konnte also unmöglich mitfahren und musste Ausreden erfinden: Wir fahren Pfingsten unsere Verwandten in Polen besuchen oder so....
Überwunden. Drei Jahre später waren die Verhältnisse schon anders: Ich wollte Schwimmen lernen. Aus freien Stücken meldete ich mich zu einem Schwimmkurs an und war in der Tat einer der ersten, die – zugegeben noch etwas angespannt und unsicher – im tiefen Wasser des Schwimmerbeckens seine Runden drehte. Einer Zeltlagerteilnahme stand nun nichts mehr in Wege und ich erinnere ich noch heute an eine erfolgreiche Seedurchqueerung in Müden an der Örtze in der Lüneburger Heide. Immerhin waren an der breitesten Stelle des dortigen Heidesees mehr als 150 Meter zu überwinden.
Gefeiert. Diese Geschichte soll illustrieren, dass ich erst spät meine Freude am Wasser entdeckte. Und da ich nun nicht zu der Gruppe der Eisbadenden gehöre, finden die Freuden im Winter, abgesehen von einigen Ausflügen in die Therme, überwiegend im heimischen Badezimmer statt. Und da möchte ich auf die /Villeroy & Boch Badausstattungen/ nur ungerne verzichten, denn nur sie bieten ein geeignetes Ambiente, sei es bei einem exzessiven Duschbad mit Schaum und Seife, oder bei einem romantischen Bad mit Kerzenschein, kühlem Sekt, leiser Klaviermusik und einer charmanten Badegesellschafterin. Aber davon ein anderes Mal mehr.
Berlin, 23.05.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Mueden_%28Oertze%29_Heidesee.jpg
Haltestelle. Die ersten Lebensjahre verbrachte ich in Berlin-Mariendorf am Mariendorfer Damm. Der war schon damals eine vielbefahrene Straße und ein schlechter Ort zum Spielen. Deshalb verbrachte ich viel Zeit auf dem breiten Fensterbrett der Küche und beobachtete das Geschehen auf der Straße – denn da fast immer irgendetwas los. Leute kamen aus der U-Bahn oder gingen dort hinein, dann wurde vor dem Kaisers – Geschäft gegenüber häufig irgendwelche Kisten gestapelt und Menschen kamen mit vollen Einkaufsbeuteln aus der Straße. Autos bogen ab in die Königstraße oder wollten von der Königstraße in den Mariendorfer Damm einbiegen und mussten warten, bis eine Lücke war im fließenden Verkehr. Einmal soll es sogar einen Überfall gegeben haben auf das Postamt in der Königstraße. Der Täter ist mit einer Plastiktüte in der Hand dann hinten den Cantorsteig entlanggelaufen an der Polizeistation vorbei bis in die Kaiserstraße und dort an der Haltestelle in den Bus 33, der nach Steglitz fährt. Das habe ich aber nicht beobachtet, sondern das wurde mir nur berichtet.
Pavillon. Zu den Ausflugszielen jener Zeit gehörten in südlicher Richtung der Volkspark Mariendorf und in nördlicher Richtung das Ullsteinhaus. Es gab gute Gründe, sich für das Ullsteinhaus zu entscheiden, denn wenn man ein Stück weiter noch über die Stubenrauchbrücke ging, gab es rechts um die Ecke in der Ordensmeisterstraße unmittelbar hinter der Abfahrt zum Hafengelände eine Bude, in der leckere Rostbratwurst vom Holzkohlengrill im Brötchen zusammen mit Zigeunersalat erhältlich war. Ich war jedes mal begeistert, wenn mein Vater mir vorschlug mit ihm einen kleinen Spaziergang zum Ullsteinhaus zu unternehmen, weil es im Grunde dann immer darauf hinaus lief, dass wir dort jeder eine Rostbratwurst vertilgten. Der schäbige Holzkiosk wurde dann bald ersetzt durch einen massives Imbisshäuschen. Vor einigen Jahren musste der Maximilian – Grill dem auf dem Hafengelände errichteten Einkaufszentrum weichen – schade eigentlich. Ich hätte die Bude unter Denkmalschutz gestellt – als frühes Beispiel für Fast Food in Berlin, noch lange, bevor uns die Döner-, Mini-Pizza- und Hamburger-Welle uns erreichte. Zwar gibt es den Imbiss noch in einem neu errichteten Pavillon in Hafennähe in unmittelbarer Nähe des Hafencenters, aber das ist doch nicht dasselbe, und Rostbratwurst wird auch nur noch nebenbei verkauft.
Kathedrale. In dem in den Jahren 1925 – 1927 nach Plänen von Eugen Schmohl erbauten Ullsteinhaus wurde noch bis Mitte der 80er Jahre Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Heute beherbergt das riesige, noch um moderne Anbauten erweiterte Wahrzeichen von Tempelhof unterschiedliche gewerbliche Nutzungen, aber auch eine Diskothek, mehrere Künstlerateliers und sogar eine christliche Freikirche. Das ist kein Wunder, denn das beeindruckende Baudenkmal des Backsteinexpressionismus mit seiner strengen Fassade aus Klinker und dem in die Sichtachse des Tempelhofer Damms gestellten 77 Meter hohen Turm wurde häufig auch – und völlig zu Recht – als moderne Industriekathedrale bezeichnet. Dass es möglich ist, mit dem Erwerb und der dann möglichen Abschreibung von Immobilien – und gerade auch, wenn es sich um Baudenkmale handelt – finanzielle Vorteile zu erziehen, war mir gar nicht mal bewusst. Und dabei habe ich tatsächlich, als ich neulich wieder dort war, darüber nachgedacht, mich hier einzukaufen. Weil der Standort am Wasser liegt und natürlich wegen der guten Aussicht.
Berlin, 22.05.2012
Dr. Stefan Schneider
PS: Die riesig große Uhr, die von allen Seiten den Ullsteinhaus-Turm ziert, ist schon seit Jahrzehnten ausser Betrieb. Ich finde das nicht richtig. Aber auf mich hört ja keiner!
Abbildung: Landesdenkmalamt Berlin http://www.stadtentwicklung.berlin.de/cgi-bin/hidaweb/bild.pl?bildid=/denkmal/liste_karte_datenbank/de/denkmaldatenbank/denkmaldb-bilder/WEB-Bilder/Tem/09055109.jpg
Put on your high-heel sneakers, 'cos we're goin' out tonight .... Das ist schon ein Ohrwurm. Ich habe immer gedacht, dass dieser Song von Jerry Lee Lewis ist, denn er passt ja auch zu ihm, vor allem, wenn man weiß, dass er sich immer für ganz junge Mädchen interessiert hat. Tatsächlich aber stimmt das gar nicht, denn der Song wurde von dem Bluessänger Tommy Tucker 1964 geschrieben, es war sein einziger bemerkenswerter Hit. Mit mehr als 200 Versionen anderer Künstler_innen gehört er zu den am meisten gecoverten Songs in der Rockgeschichte.
Ich bin immer davon ausgegangen, es würde in diesem Song um eine typische Freitagabend-Situation gehen: Ein heterosexuelles Paar will ausgehen, und der Mann sagt seiner Freundin, sie solle sich mal schön anziehen, Highheels eben und das schöne rote Kleid. Ein genauerer Blick auf die Textzeilen offenbart aber einen ganz anderes Zusammenhang: Sie solle auch ihre Boxhandschuhe anziehen, für den Fall, dass ein Security-Typ eine Prügelei anfangen wolle. Und in der späteren Zeile heißt es, ich bin auch sicher, dass Du ihn tot prügelst. Ein militanter Song, also. Und auf der Original-Single von Tommy Tucker ist auch die Rede davon, dass sie ihr Geld wieder haben und er einen bezahlten Scheck in der Hand hält. Diese Strophe wird von allen Interpreten immer weg gelassen, vielleicht, weil sie so schlecht zu einer Party – Situation passt.
Besonders beeindruckend ist die Cover-Version von Janis Joplin, mehr aber noch die von Laura Nyro, vor allem, wenn man das wörtlich nimmt und sich wirklich vorstellt, dass da zwei Frauen losziehen, die im Zweifelsfall auch bereit sind, sich auf eine Schlägerei einzulassen. Ein echter Pussy-Riot eben. Ein Song, der Frauen gefallen sollte.
Berlin, 20.05.2012
Stefan Schneider
Abbildung: https://lh4.googleusercontent.com/-16d0QWY-CXQ/Tz3_hazdyzI/AAAAAAAAAS4/3AsckSGi9aM/s720/_DS29459.JPG