Eines war sonnenklar: Ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Nicaragua, das war ziemlich weit weg, und außerdem war da seit einigen Jahren eine Revolution im Gange, die Unterstützung brauchte. Also meine Unterstützung. Kaffee pflücken in einer Solidaritätsbrigade. Das hieß: Spanisch lernen, mir die Geschichte des Landes und der Sandinisten drauf schaffen, mich in die Zusammenhänge von Kaffeeproduktion und Welthandel hineinzudenken, ein Visum zu beschaffen und weitere Reisevorbereitungen zu treffen. Vor allem aber musste Geld her: Für den Flug hin und zurück über Havanna, und auch Geld zum Leben vor Ort. Was also lag näher als mich nach einem Job umzusehen?
Ich war jung und ich brauchte das Geld. Ausgeschrieben war ein Job über 6 Wochen, mit mehr als 12 Mark die Stunde halbwegs gut bezahlt, bei FKF, einer Fleischkonservenfabrik. Ich bekam den Job über eine Zeitarbeitsvermittlung. Das ist heute noch aktuell, siehe hier. Die ganze Sache hatte einen kleinen Haken. Arbeitsbeginn war immer schon um 6 Uhr. Andererseits war schon um 14:45 Uhr Feierabend. Dann wäre noch Zeit für die Universitätsbibliothek, ich hatte noch eine Hausarbeit zu erledigen. So der Plan. Der ganze Job brachte zwei Probleme mit sich. Zum einen die Arbeit selbst. Ich hatte den ganzen Tag Konservendosen zu stapeln. Sie kamen noch lauwarm von der Verarbeitung und mussten auf das Laufband der Etikettiermaschine gestellt werden. Unablässig. Die Zeit wollte nicht rumgehen und die einzige Chance, sich davor zu drücken, war die Raucherpause. Ich glaube, ich habe noch nie so viel geraucht wie in diesen 6 Wochen. Das andere Problem war der Arbeitsanfang. Dieser lag mitten in meiner üblichen Hauptschlafenszeit.
Um den Arbeitsbeginn um 6 Uhr überhaupt schaffen zu können, musste ich mir am Abend zuvor alles zurecht legen: Socken, Hose, Schuhe, Hemd, dazu eine bereits vorbereitete Thermoskanne Kaffee und Stullen für den Tag. Wenn der Wecker um 5:23 Uhr schrillte, hatte ich genau 2 Minuten Zeit, um unter Auslassung des Zähneputzens angezogen mit Provianttasche das Haus zu verlassen und das Fahrrad zu besteigen. In Höchstgeschwindigkeit unter Missachtung jeglicher roter Ampeln gelang es mir nahezu immer, gegen 5:57 das Werksgelände zu betreten, die Klamotten in den Spind zu schmeißen, mich in die Arbeitsklamotten zu zwängen und gegen 05:59 die Stechuhr auszulösen. Gotcha! Ich war hellwach und schweißnass, hatte aber nichts weiter zu tun als Konservendosen zu stapeln. Gelegentlich wurde ich gefragt, ob ich auch Samstag arbeiten kommen könne. Die Arbeit begann immerhin erst um 7:00 Uhr, dauerte auch nur bis 12:30 und wurde mit 15 Mark die Stunde auch gut bezahlt. Mehr Geld für Nicaragua, dachte ich nur und zog das gnadenlos durch.
Die drei Monate in Nicaragua waren eine großartige Zeit. Ich verkürzte durch unangepasstes Verhalten die Zeit in der Solidaritätsbrigade auf 4 Wochen und zog danach im Land umher, half einem Deserteur, unerkannt nach Hause zu kommen, trampte durchs Land und besuchte Baumwollfelder, badete im Pazifik, fuhr über den Nicaragua-See und war auf dem Solentiname Archipel und beobachtete Affen, aß 3 mal täglich Langusten auf Corn Island und war Stammgast in der Kneipe von Myers, besuchte die alte Piratensiedlung Bluefields und versoff meine letzten Dollars auf dem Flughafen von Prag beim Warten auf den Anschlussflug nach Berlin. Was für eine Reise.
Auch im Nachhinein betrachtet war das Konservendosenstapeln und die anschließende Reise nach Nicaragua ein sinnvolles Gesamtkunstwerk. Das eine war eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit, eine Arbeit auf Zeit, das andere war eine im weitesten Sinne politische Reise, die mein Verständnis für globale Zusammenhänge schärfte. Zwar würde ich nicht mehr so ohne weiteres einen Arbeitsbeginn um 6:00 Uhr akzeptieren, aber für ein vergleichbares Projekt würde ich jederzeit wieder ein paar Wochen hart malochen.
Norddeich, Sonntag, 13.08.2017
Stefan Schneider
Foto 1: Essensausgabe in einer Kaffeekooperative bei Matagalpa, Nicaragua, Foto: Stefan Schneider
Foto 2: Pueblo Heroico Esteli, Plakat 1987, Nicaragua