[Leiden] Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht so: Ich schätze ihre Klugheit, ihren Humor, ihre Originalität und manchmal auch ihre Sturheit. Sie ist ein meistens freundlicher und im Grunde sehr hilfsbereiter Mensch. Doch etwas ist anders als ihr als bei den meisten anderen Menschen. Heute ist unser Verhältnis so, dass ich vielleicht alle 10 Tage nachsehe, was sich bei ihr im Postkasten gesammelt hat. Dann klopfe ich an ihrer Tür, wenn ich Glück habe, öffnet sie einen Spalt breit, nimmt die Post entgegen und wir tauschen kurz die neuesten Nachrichten aus. Sie sagt meistens nach wenigen Minuten schon: Ich melde mich, was auf deutsch heißt: Lass mich jetzt in Ruhe! Die Momente, in denen sie sich verhält wie die meisten anderen Menschen, sind in den letzten Jahren immer seltener geworden. Ich habe auch eine Zeit lang versucht, sie zu bewegen, eine Therapie zu machen, aber inzwischen spreche ich das Thema schon gar nicht mehr an, weil ich weiß, dass das nur eine ablehnende Reaktion verursacht. Dabei sagen die da draußen, dass das eigentlich kein Problem sei: Es gäbe Medikamente und die Therapien würden auch gut helfen. Wegen dieser Geschichte hat sie einen Haufen Ärger. Kleinere Rechnungen, die nicht bezahlt werden und aus denen dann Mahnbescheide und Gerichtsklagen mit erheblichen Nebenkosten entstehen. Post vom JobCenter und Kürzung und Streichung der Leistungen. In den besseren Phasen alles wieder aufzuräumen und in Ordnung zu bringen, das kostet sehr viel Kraft und dann biete ich ihr meine Hilfe an. Vieles macht sie aber auch alleine, um dann kurze Zeit wieder in die alte Lethargie zu verfallen. An manchen Tagen frage ich mich, ob ich als ihr Unterstützer nicht alles nur viel schlimmer mache. Ob es nicht besser wäre, sie sich selbst zu überlassen. Aber dann stelle ich mir vor, dass sie zwangsgeräumt und in eine Obdachlosenunterkunft eingewiesen würde und weiß, dass diese Kränkung sie vollständig kaputt machen würde.
[Therapie] Die Name dieser Krankheit heißt offiziell Depression. Es geht ihr nicht gut damit. Meines Erachtens ist es eine Verletzung der Seele, die viel mit den Zumutungen, Demütigungen, Verletzungen und Kränkungen zu tun hat, die diese kapitalistische Gesellschaft den einzelnen Menschen zufügen kann. Viele bemerken dies nicht einmal, und andere sind davon substantiell erschüttert und wie von einem Gift gelähmt. Wegen der oft beschriebenen Nebenwirkungen lehnt sie eine medikamentöse Behandlung ab. Nur wenige können Depressionen ohne Medikamente behandeln und dazu zählt ein neues Verfahren, mit Hilfe von speziell entwickelten Elektromagneten im Gehirn feinste Ströme zu induzieren, die dann eine Anregung der Gehirnzellen bewirken, die für die Stimmung zuständig sind. Und das ohne Schmerzen und Nebenwirkungen. So wird es wenigstens angepriesen. Ich denke, ich werde bei nächster Gelegenheit ihr diese Information einmal zukommen lassen. Denn die Hoffnung, dass sie wieder zu alter Form zurückfindet, stirbt zuletzt.
Berlin, 12.06.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schiele-tote-stadt.jpg [Egon Schiele: Tote Stadt III 1911, ehem. Sammlung Grünbaum, heute Leopold Museum Wien. Egon Schiele: Tote Stadt III 1911, Sammlung Fritz Grünbaum, Wien, 1938 verschollen, heute Sammlung Leopold Wien, nicht restituiert.]