[Attraktion] Als ich dann endlich im Alter von 9 Jahren das Fahrradfahren erlernen konnte, machte ich es mir zur Angewohnheit, täglich nach der Schule in den nahegelegenen Volkspark zu radeln und dort einige Zeit zu verbringen. Ich fuhr alle Wege ab – wohl, um zu kontrollieren, ob noch alles so war wie am vorherigen Tage – und dort, wo es mir interessant erschien, verweilte ich länger. Bei meinen Routinewegen liess ich aber den aufgeschütteten Trümmerberg aus. Der Aufstieg war mit meinem blauen Klapprad einfach nicht zu bewältigen – und im Grunde war der Berg auch etwas für den Winter. Das Plateau war nämlich der Startpunkt für die Rodelbahn. Attraktionen gab es im Volkspark im Grunde nur zwei: Modellbote auf dem grossen, vorderen Blümelteich und Fu0ballspiele im hinteren Teil. Das Mariendorfer Volksparkstadion mit seinen Rängen aus Stein war für den normalen Trainingsbetrieb normalerweise nicht zugänglich, aber davor gab es zwei Schotterplätze, auf denen regelmässig Fu0ballspiele ausgetragen wurden.
[Spielstand] Und so entwickelte ich mich zu einem exzessiven Fussballspielbeobachter. Es gab im Grunde zwei interessante Positionen. Zum eine war mehr oder weniger direkt an der Mittellinie und die andere direkt hinter einem Tor oder leicht seitlich versetzt, so dass ich nicht durch die Maschen gucken musste. Beide Positionen hatten so ihre Vorteile. Wenn das Spiel ausgeglichen war, war von der Mittellinie aus gut zu beobachten, wie das Spiel mal zur einen, mal zu anderen Seite wogte. Von der Hintertorposition liess sich gut beobachten, wie die eine Mannschaft versuchte, ein Tor zu erzielen und die andere, dieses zu verhindern. Dumm nur, wenn sich das Spiel überwiegend auf der anderen Spielfeldhälfte abspielte. Da ich aber mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte ich schnell die Beobachterpostion wechseln. Und so habe ich im Verlauf der Jahre etliche Spiele beobachten können. Das interessante daran war, dass nie abzusehen war, wie es ausging. Gut, es gab auch eindeutige Siege, aber fast genau so häufig kam es vor, dass eine Mannschaft, die in Führung war, das Spiel zum Schluss noch verlor.
[Sportwette] Heute habe ich das Interesse an Fussball nahezu vollständig verloren. Das Spiel ist mir zu wenig komplex, und es stört mich die extreme Kommerzialisierung. Und auch die nationalistische Fixierung, die ich im Grunde widerwärtig finde. Wenn da Lappen hochgezogen und Lieder geträllert werden und alle stehen stramm wie aufgezogen. Das ist doch ausgesprochen dumm. Und für Menschen, die Geld haben, gibt es noch die Möglichkeit, auf den Ausgang des Spiels zu wetten. Und weitere Infos zum Thema stehen selbstverständlich im Internet zur Verfügung. Da für mich Geld keine besondere Bedeutung hat, gebe ich das wenige Geld, was ich habe, dann doch lieber aus für Dinge, die ich für Geld am einfachsten erlangen kann. Aber wenn mich mal jemand mitnehmen würde, vielleicht würde ich mich auch auf die eine oder andere Fussballwette einlassen.
Berlin, 16.04.2013
Stefan Schneider
[Abbildung] commons.wikimedia.org/wiki/File:Tepantitla_mural,_Ballplayer_B_Cropped.jpg, Foto by Daniel Lobo (Daquella manera) Small detail of a reproduction of a mural at the Tepantitla complex of Teotihuacan. Cropped and enhanced from a photo by Daquella manera