[Grenzgänger] Mein Vater wurde im Jahr 1937 in Braunswalde/ Woppen geboren. Das damals ostpreußische Dorf Braunswalde kam nach 1945 zu Polen und heißt seit dem Brąswałd. Es liegt nordwestlich von Allenstein (heute Olsztyn) und ist ein ganz gewöhnliches Straßendorf, an dem am ehesten die etwas überdimensionierte in den Jahren 1894–1896 gebaute St. Katharinen-Kirche auffällt. Sie ist ein gutes Abbild der großen Ambitionen von Walenty Barczewski, der als damaliger Pfarrer dort auch die erste private polnische Schule errichtete. So weit zu Braunswalde. Mein Vater aber kam aus Woppen.
Wenn man nach Woppen wollte, musste man durch das Dorf durchfahren, kurz vor der Brücke über den Mosąg-See zur linken Seite einen Feldweg nach rechts einbiegen. Der Weg führt leicht aufwärts zu einer Wegkreuzung, in dessen Nähe kaum bemerkbare Holzkreuze an sowjetische Soldaten erinnern, die im Kampf um die Befreiung Deutschlands vom Faschismus hier ihr Leben lassen mussten. Hier muss man sich links halten und an den weiteren Weggabelungen eher wieder rechts – ganz genau kenne ich den Weg auch nicht mehr. Nach einer ganzen Weile erscheint eine größere Lichtung, und das ist Woppen. Eine Ansammlung von ehemals 4 Bauernhöfen, eine kleine Kolonie, eine Siedlung. Mehr nicht. Dennoch stößt man vereinzelt auf Dokumente, die angeben, dass dieses Woppen (heute Wopy) bereits um 1363 (also noch vor Braunswalde) gegründet wurde und sogar einen eigenen Bürgermeister hatte. Wenn man weiß, dass der weltberühmte Astronom um 1517–1519 hier dienstlich tätig war (um die Gegend gegen die Kreuzritter zu verteidigen) und das das Wort wopista übersetzt Grenzgänger bedeutet, dann kann man sich gut vorstellen, dass die Bewohner dieser Gegend es mit den regional Herrschenden und ihren Ansprüchen nicht gerade einfach hatten.
[Heimat] In meiner Familie hatte dieser Ort bald den Status eines Mythos. Immer, wenn wir in Polen Verwandte besuchten, machten wir auch einen Ausflug nach Wopy zum Ort, an dem mein Vater geboren wurde. Ich kann mich noch an ein altes Holzhaus erinnern, das später abgetragen wurde. Dann blieben noch Stall und Schuppen übrig. Als erstes zerfiel der Schuppen, und im Verlauf der Zeit geriet auch der Stall in Mitleidenschaft. Bewohnt war der Ort seit den 80er Jahren nicht mehr, und bewirtschaftet wurde die Fläche von meiner Tante Erna. Auch als Jugendlicher war ich später wiederholt in Polen und besuchte eigenständig diesen Ort und so halte ich es bis heute. Irgendwie auch, um inne zu halten und zu spüren, was gerade los ist mit mir und der Welt. Von einem dieser Ausflüge aus den 80er Jahren machte ich Fotos, ließ sie auf Posterformat vergrößern und schenkte sie meinem Vater, der sich sehr freute, diese lebendige Erinnerung an seine Heimat bei sich im Esszimmer ständig präsent zu haben. Und wenn ich heute eine ähnlich Geschenkidee hätte, würde ich auf auf der Homepage von foto-leinwand-guenstig.de genau sehen, welche Anbieter ich für eine Postervergrößerung zu wählen hätte.
[Tradition] Ich denke, auch als alter Mann werde ich noch gelegentlich an diesen Ort zurückkehren. Wahrscheinlich werden dann von dem einstigen Hof nicht mehr als ein paar wenige, kaum noch erkennbare Mauern stehen, die über und über mit Grünzeug überwuchert sind. Und ich werde über die Vergänglichkeit des Lebens nachdenken. Aber ich habe auch genug Phantasie, mir vorzustellen, dass eines Tages hier Menschen kommen und einen Neubau errichten. Es würde mich freuen, denn dieser Ort hat Tradition
Berlin, 26.07.2012
Stefan Schneider
PS: Ich selber überlegte tatsächlich um 1990 herum, als ich gerade etwas Geld hatte, den noch existierenden Stall von meiner Tante zu erwerben und als Landwohnsitz auszubauen. Aber ich lebte damals wie heute in Berlin und mir war klar, dass ich diesen Ort nicht würde ernsthaft bewirtschaften können, und dass eigentlich eine fast ständige Präsenz notwendig wäre – oder ich fremde Mieter zu akzeptieren hätte. Heute, im Zeitalter des Internets wäre es sehr viel einfacher für mich, dort auch zu wohnen und zu arbeiten – aber inzwischen ist das Objekt zu verfallen und mein Geld würde auch nicht reichen.