[Ave Maria] Meine katholische Sozialisation brachte es mit sich, dass ich schon früh mit Weihrauch konfrontiert wurde. Mir gefiel die würdevolle Eleganz, mit der da herumgeräuchtert wurde und der erhabene Geruch, der sich nach einiger Zeit im Kirchenraum verbreitete. Im Verlauf der Jahre lernte ich, dass es gute und schlechte Weihrauchsorten gibt. Die minderwertigen riechen rauchig, eindimensional, spitz und erinnern an Räucherstäbchen. Die besseren sind voll, erhaben und plastisch im Erleben. Mein Bruder war Meßdiener und brachte mir von der Kirchengemeinde ein paar Gramm mit. Im Winter konnte ich dann aus dem Ofenglühende Kohlestücken herauspicken und die Weihrauchkörner darauf verdampfen lassen. Das ganze Zimmer war in dichte Weihrauchschwaden gehüllt und ich fühlte mich irgendwie gut. Eine Tages eröffnete in der Potsdamer Straße das Ave Maria, ein Geschäft für Second-Hand-Devotionalien und ich erfuhr dort einiges über Mischungen und reine Weihrauchsorten, die gar nicht mal so teuer waren.
[Bezugsquellen] In meiner Kirchengemeinde gab es die Tradition, dass nach dem mitternächtlichen Weihnachtsgottesdienst in den Jugendräumen zu einem Umtrunk eingeladen wurde, der sich traditionell bis in die frühen Morgenstunden hinzog. Bei einem dieser Besäufnisse entdeckte ich in der Garderobe auf dem Weg nach Hause ein offen herumstehendes Weihrauchfass, das sich seit dem in meiner Obhut befindet. Die Gemeinde wird den Verlust sicher verkraftet haben, da sie mehrere besaß und das für gewöhnlich benutzte sicher in der Sakristei verwahrt war. (Ich nehme an - auch um meine Wegnahme nachträglich zu rechtfertigen -, dass es sich um ein Weihrauchfass handelte, mit dem geübt würde. Das würde auch erklären, warum es einfach in den Jugendräumen in einer Ecke abgestellt war.) Nunmehr ausgestattet mit einem Weihrauchfass und einer Bezugsquelle für Weihrauch startete ich meine Studien, die mich zu einem Weihrauchexperten werden ließen. Inzwischen bevorzuge ich statt Mischungen sortenreinen Weihrauch und liebe insbesondere den aus Eritrea und Somalia – vor allem wegen der Leichtigkeit. Ein besonderes Vergnügen war es, in der Jerusalemer Altstadt mit dem Weihrauchhändler unmittelbar an der Tempelmauer bei einem Tee ein ausführliches Fachgespräch zu führen über die besten Weihrauchsorten – und etlichen Räucherproben. Eine wirkliche Messe in Sachen Weihrauch.
[Pontifikalamt] Wer diesen religiösen Zirkus nicht will, kommt dennoch nicht umhin, die Heilkraft des Weihrauchs anzuerkennen. Der Rauch stimuliert das Gehirn und wirkt beruhigend, bisweilen konzentrationsfördernd und zugleich entspannend. Als Alternative zum klassischen Weihrauchfass bietet sich der Vaporizer an, ein Gerät zur Verdampfung von Gewürzen. Der unbestreitbare Vorteil gegenüber einem Weihrauchfass, bei dem eine Kohle verbrennt, besteht darin, dass der Vaporizer das Gewürz nur soweit erwärmt, dass die gewünschten Inhaltsstoffe verdampfen und keine unerwünschten Nebenprodukte entstehen. Auch ich habe inzwischen eine Technik entwickelt, bei der der Weihrauch im Weihrauchfass nicht mehr verbrannt, sondern eher verdampft wird. Die Rauchschwaden sind nach wie vor erheblich, aber das soll ja auch so sein. So zelebriere ich, wann immer ich will, mein ganz persönliches Pontifikalamt.
Berlin, 19.07.2012
Stefan Schneider