Fluchten. Es klingt pathetisch, wenn ich beiläufig erwähne, dass ich im Winter 1986/87 als Mitglied einer Solidaritätsbrigade in Nicaragua war und dort durch tatkräftige Mitwirkung an der Kaffee-Ernte die Sandinistische Revolution unterstützte. In Wahrheit war ich im Frühjahr 1986, als ich mich zu der Brigade anmeldete und an den Vorbereitungstreffen im Solidaritätsbüro in der Crellestraße teilnahm, ziemlich am Ende. Mit meiner ersten richtigen Freundin war es zu Ende (darüber habe ich schon an anderer Stelle geschrieben), das Studium der Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpädagogik erwies sich als absolut desillusionierend (Bindekitt für den Kapitalismus – das wollte ich nun wirklich nicht sein) und das Theologiestudium ließ mich mehr und mehr an der Existenz eines Gottes zweifeln und auch in der WG gab es erste Auflösungserscheinungen. Mit anderen Worten: Alles in allem war meine Situation ziemlich Scheiße und irgendwie war mir auch klar, dass diese Reise nach Nicaragua mehr oder weniger eine Flucht nach vorne war.
Trübsal. Dass die solidarische Unterstützung der Kaffee-Ernte in aller erster Linie propagandistischer Popanz war, merkten wir recht schnell. Auf der Finca in den Kaffee-Plantagen waren wir gute eineinhalb Stunden Fußmarsch von der nächsten Stadt Matagalpa entfernt irgendwo im Nirgendwo, und auch mit der Erntehilfe war es nicht weit. Die geübten Kaffeepflückerinnen, die davon lebten, schafften mit ihren Kindern an einem Tag drei oder vier Säcke, während unser bester und schnellster Kaffeepflücker gerade mal mit einem halben Sack anmarschierte. Um die Einkommen der einheimischen Frauen nicht zu schmälern – was ja richtig war – wurden wir im Grunde immer nur zum zweiten Erntedurchgang durch die Reihen geschickt. Der Kaffee schmeckte mehr oder weniger nach Abwaschwasser, und die Brigadeleitung maßregelte uns, wenn wir am Wochenende in Matagalpa uns einfach mal umsehen wollen. Solidarität nach ihrem Verständnis bedeutete, das ganze Wochenende dort in der Pampa abzuhängen. Damals habe ich mir wirklich gewünscht, über eine praktische Kompetenz zu Verfügen und vor Ort aus drei kaputten ein funktionierende Auto zusammen schrauben zu können – oder irgend etwas anderes nützlich. Meine sehr defizitären Sprachkenntnisse verstärkten das Trübsal noch weiter.
Erkundungen. Deutlich besser wurde es, als Jörg, Norbert und ich die Brigade vorzeitig verließen und das Land erkundeten. Wir zivilisierten einen flüchtigen Soldaten, der nach einem halben Jahr seine inzwischen geborene Tochter besuchen wolle und trafen ihn in seinem Dorf bei Esteli in den Baumwollfeldern am Fuße des Vulkans, wir badeten im Pazifik und sahen die Sicherheitsmaßnahme im Hafen von Corinto, ich besuchte die Kathedrale von Granada, fuhr über den Nicaraguasee nach San Carlos und beobachtete wilde Affen auf dem Archipel von Solentiname. Ich fuhr mit dem komplett überfüllten Bus nach Rama und von dort aus auf dem Fluss zur Atlantikküste nach Bluefields und mit einem rostigen Schiff auf einer waghalsigen Sturmüberfahrt nach Corn Island, wo ich 14 Tage mehr oder weniger von Langusten, Kokosnüssen, Kaffee, Bier und Rum lebte.
Träume. Die meisten Brigadisten beneideten mich, als ich am Tag des Abfluges von meinen Eindrücken erzählte. Ich hatte wirklich etwas von dem Land, von den Leuten und ihren Kämpfen, von ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfahren und war an einigen wichtigen Schauplätzen der Kämpfe und Auseinandersetzungen. Und ich habe die vielfältige Schönheit Nicaraguas mehr als nur genossen. Das ist jetzt gut fünfundzwanzig Jahre her. Dennoch gehe ich fest davon aus, dass ich eines Tages mit http://www.nachhaltiger-reisen.de wieder in Nicaragua unterwegs sein werde um zu sehen, was in der Zwischenzeit passiert ist und wie die Jugendlichen von damals heute darüber denken und wovon ihre Kinder heute träumen. Ernesto Cardenal und seine Gemeinde auf Solentiname waren damals jedenfalls überzeugt von der Heiligkeit der Revolution.
Berlin, 29.06.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://dc37.dawsoncollege.qc.ca/northsouth/fieldtrips/folkart.php(Christo Guerillero by Gloria Guevara. From E. Cardenal, Tocar el cielo, (Poesías illustrado con pinturas de Solentiname y fotografías del nuevo Nicaragua), Managua: Editorial Nueva Nicaragua, Ediciones Monimbó, nd.)