Profitrate. Eine wahre Goldgräberstimmung herrschte in den ersten Wochen und Monaten. Die schrägsten Typen schauten vorbei und fragten nach der Zeitung. Einige kauften gleich paketweise - das waren immerhin einhundert Exemplare. Trotzdem kamen sie meist schon am nächsten Tag wieder. Die Zeitung war damals neu, und entsprechend groß die Neugier bei den Berliner_innen – aber auch bei den zahllosen Tourist_innen. Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, konnte wirklich gut Geld machen. Armut wirkte damals nicht grau, sondern bunt. Das änderte sich mit der Zeit, immer mehr Verkäufer_innen kamen hinzu, die Idee nutzte sich ab, die ersten Verteilungskämpfe setzten ein, und obwohl die Auflage noch einige Jahre lang kontinuierlich stieg, dürfte der Gewinn der Einzelnen drastisch zurückgegangen sein.
Teambildung. Im Laufe der Zeit hat das Selbsthilfeunternehmen noch viele andere Menschen angezogen, auch welche, die nicht unbedingt gut Zeitung verkaufen konnten. Ich selbst habe das auch getestet und verstanden, dass diese Arbeit nicht jedem liegt. Es mussten andere Arbeitsfelder aufgebaut und entwickelt werden, und die Bedarfe lagen ja auf der Hand. Neben der Arbeit in der Redaktion der Zeitung und im Vertrieb war einiges an organisatorischer Arbeit zu erledigen. Im Verlauf weniger Jahre sind weitere Projekte entstanden, deren Reihenfolge sehr viel über die damaligen Prioritäten aussagt. Eine Notübernachtung, ein Wohnprojekt, ein Treffpunkt, ein Gebrauchtwarenhandel, eine Essensversorgung, ein Waschsalon, ein Selbsthilfehaus. Daneben gab es ein Vereinsbüro, später eine Finanzabteilung, eine Buchhaltung und eine Baugruppe. Eine wichtige Aufgabe hatte die IT-Abteilung, denn sie musste die interne Computerkommunikation gewährleisten, und später auch die Verbindung mit dem Draußen, dem Internet und die Pflege der eigenen Webseite. Da die besten Mitarbeiter_innen immer schnell weg waren, wenn sie lukrative Jobangebote fanden, blieben bei uns immer die, die weniger gut waren. Um dennoch ein hohes Niveau halten zu können, setzten wir bald auf Teambildung. Immer mehrere waren für ein Arbeitsgebiet gemeinsam verantwortlich und sollten sich gegenseitig unterstützen, anregen und austauschen. Das funktionierte in der Regel auch gut, die Teams waren über längere Zeit mehr oder weniger stabil.
Gerechtigkeit. Für mich lag die Bedeutung des Unternehmens immer in der geschaffenen Infrastruktur. Ich verstand die Projekte als eine Art Sozialversicherung, die ein Überleben gewährleisten sollen unter der Annahme, dass eines Tages der Staat nicht mehr zuständig sein wollen würde. Deshalb bestand lange Zeit die höchste Priorität auch daran, die vorhandenen Mittel möglichst gerecht zu verteilen. So, dass alle etwas abbekamen und jede_r sagen konnte: Ich habe hier einen kleinen, aber stabilen Zuverdienst. Und Zugriff auf Ressourcen wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Einrichtungsgegenstände, Kommunikation und Kultur, um einigermaßen zurechtzukommen.
Umverteilung. Als 2007 eine Clique sich des Unternehmens bemächtigte, bauten sie dieses System um und bevorteilten ihre Freunde und vor allem sich selbst mit größeren Privilegien. Alle anderen mussten im Grunde dafür arbeiten. Ungeliebte Mitarbeiter_innen mussten gehen. Hätte es zum damaligen Zeitpunkt schon einen Betriebsrat gegeben, hätte dieser wenigstens eine Sozialplan Beratung erzwingen können. So weit war dieses Sozialunternehmen zu jenem Zeitpunkt aber noch nicht, sonst hätte es sich erfolgreich gegen diese Clique gewehrt. So bleibt von dem einstigen Selbsthilfeunternehmen nur noch das soziale Etikett über. Bis zur Revolution. Danach dürfen die jetzigen Profiteur_innen die Toiletten putzen gehen.
Berlin, 29.06.2012
Stefan Schneider
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