Gelände. Ich habe erst relativ spät, ich glaube mit 11 Jahren das Fahrradfahren erlernt. Und zwar am Berliner Reichstagsgebäude. Dort, wo heute das Paul-Löbe-Haus steht, befand sich am Spreeufer eine unbefahrene und leicht abschüssige asphaltierte Straße. Wir, also meine Mutter und ich, trafen uns dort auf der Wiese am Reichstag mit meinem Vater, der aus Reinickendorf von der Arbeit kam. Wir verbrachten im Sommer die Nachmittage mit Ballspielen und Picknick. Ich brauchte auch nicht sehr lange, um auf dem 20-Zoll-Klappfahrrad das Fahrradfahren zu lernen. Wie ich das Gleichgewicht auf der abschüssigen Strecke halten konnte, verstand ich mehr oder weniger intuitiv, und es brauchte ein paar Versuche und ein bisschen Übung, bis das Fahrrad da hin fuhr, wo ich es wollte.
Gewohnheit. Wir wohnten damals in der Nähe vom Volkspark Mariendorf und selbstverständlich holten wir meinen Vater nicht jeden Tag von der Arbeit ab, um irgendwelche Ausflüge zu unternehmen. Also machte ich es mir zur Gewohnheit, nach der Schule mein Fahrrad zu nehmen und erstmal alle Straßen der näheren Umgebung abzufahren. Mein Lieblingsziel war aber der Volkspark. Ich machte es mir zur Angewohnheit, nach einem bestimmten System alle Wege abzufahren, im Grunde um zu sehen, ob alles immer noch so war wie am Tag zuvor. Wichtiger aber war noch, es gab fast immer etwas zu sehen. Zwei Sachen faszinierten mich besonders. Da waren die Modellboote am Teich. Da musste man aber immer viel Geduld haben. Denn wenn die alten Herren mit ihren Modellbooten ankamen, hieß das noch lange nicht, dass es gleich los ging. Vielmehr haben sie erstmal alles in Ruhe getestet, ein Schwätzchen mit den Kollegen gehalten, eine Zigarre geraucht oder ein Bierchen getrunken und dann erst ließen sie ihr Boot – vielleicht – zu Wasser. Insbesondere jener grünweiße Rettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hatte es mir angetan. Denn der hatte ein Beiboot und das konnte über eine Heckklappe zu Wasser gelassen und separat gesteuert werden. Das Beiboot dann aber wieder hochzuziehen, klappte häufig nicht im ersten Anlauf und war immer mit einer gewissen Dramatik verbunden.
Gelegenheit. Mehr noch interessierte mich der Fußball. Das Mariendorfer Volksparkstadion, am östlichen Ende des Parks gelegen, ist das siebtgrößte Stadion Berlins, wurde aber kaum bespielt und durch einen Zaun gesichert – wohl um den Rasen zu schonen. Davor gab es zwei Schlotterplätze, und dort wurde häufig gespielt. Das ein Spiel bevorstand, konnte ich daran erkennen, dass die Umkleidehäuschen geöffnet waren und Leute mit großen Taschen ankamen. Dann wurden auch bald die Eck- und Seitenfahnen aufgestellt und die Mannschaften mit den Trikots kamen auf das Spielfeld. Ich hatte damals zwei Lieblingsplätze. Einmal hinter dem Tor und der andere Platz war genau an der Mittellinie. Wenn ich sah, dass das Spiel mehr oder weniger auf ein Tor ging, war es natürlich günstig, sich hinter dieses Tor zu stellen. Bei ausgeglichenen Teams war die Mittellinie besser, da das Spielgeschehen hin- und herwanderte. Ich war immer ganz stolz, wenn ich mich nützlich machen konnte. Wenn ein Ball ins Aus geschossen war in meiner Nähe, rannte ich immer, um den Spielern den Ball zu bringen. Welche Mannschaft den Ball dann bekommen sollte, begriff ich recht schnell. Manchmal passierte es auch, dass ein Ball in einer der hohen Pappeln, die hinter den Toren wuchsen, einfach hängen blieb. Dann versuchten manchmal die Spieler, auf die Pappel zu klettern. Oder aber sie warfen Knüppel in Richtung Ball. Nach einigen Versuchen kam der Ball dann meistens wieder runter. Aber das Spiel war doch einige Zeit unterbrochen.
Gegner. Ich weiss gar nicht, wie viele Spiele ich so verfolgte. An manchen Tagen beobachtete ich auch zwei oder drei Spiele hintereinander weg oder wechselte von einem Feld zum anderen, wenn das andere Spiel interessanter zu sein schien. Frauenfussball gab es damals allerdings noch nicht, jedenfalls kann ich mich daran nicht erinnern. In www.themenportal.de wird jetzt darüber berichtet, dass selbst Frauenfußball, der bisher immer als spielerisch und technisch anspruchsvoll charakterisiert worden ist, inzwischen schon als hart kritisiert wird, jedenfalls, wenn man Elizabeth Lambert glauben schenken darf. Ich für meinen Fall habe jedenfalls Fußball als Sportart für mich nie aktiv verfolgt. Mich hat das immer überfordert, wenn sofort nachdem ich den Ball hatte Menschen mit bösen Absichten auf mich zugerannt kamen. Ich bevorzugte dann doch lieber Sportarten, bei denen der Gegner auf der anderen Seite blieb. Volleyball zum Beispiel. Oder Tischtennis. Oder Billard.
Berlin, 25.06.2012
Stefan Schneider
Abbildung: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Teich_im_Volkspark_Mariendorf.jpg