Wir lebten zu viert in einer 54qm - Wohnung am Mariendorfer Damm und meine Eltern suchten in den Jahren 1972 und 1973 händeringend nach einer größeren Wohnung, die damals schwer zu bekommen war.
Eine Option war das Merkwürdige Viertel. Ich kann mich noch an Spaziergänge erinnern, wo es neben den großen strahlend weißen beeindruckend hohen Hochhäusern viele freie Sandflächen gab, weil noch keine Freiflächengestaltung erfolgt war, die ersten Straßen waren angelegt, aber die Spuren der Bauarbeiten waren noch überall sichtbar. Die angepflanzten Straßenbäume wirkten wie ein aussichtsloser Versuch, diese Wüste aus Sand und Beton irgendwie kaschieren zu wollen. Obwohl vom Märkischen Viertel es mein Vater nur eine Viertel Stunde bis zu seinem Arbeitsplatz bei Stahlaufzüge gehabt hätte und eine Wohnung zu diesem Zeitpunkt dort noch vergleichsweise einfach zu haben gewesen wäre, entschieden sich meine Eltern doch, nicht dort hin zu ziehen. Im Jahr 1974 gelang es meinen Eltern schließlich, eine größere 3-Zimmer- Wohnung in Mariendorf zu finden, gleich um die Ecke von unserem alten Wohnort, im Morsbronner Weg. Meine Mutter wohnt dort bis heute.
Als ich 1984 mein Studium der Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der TU-Berlin aufnahm, begegnete mir das Märkische Viertel erneut, diesmal als sozialer Brennpunkt. Da mich das damals nicht sonderlich interessierte, habe ich mir nur zwei Sachen gemerkt: Zum einen, dass es dort eine überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate gab, was – so wurde das erklärt - darauf zurück zu führen war, dass diese Art von Architektur offenbar nicht menschengerecht war. Und zum anderen, dass es notwendig war, sozialpädagogische Angebote vor allem für Jugendliche zu errichten, denn es gäbe dort jede Menge soziale Probleme im Miteinander und vor allem keine sinnvollen Freizeitangebote, was ja irgendwie auch kein Wunder war, denn das Märkische Viertel war ja synthetisch am Reißbrett entstanden.
Wenn ich heute über mein Leben nachdenke, bin ich meinen Eltern ausgesprochen dankbar für ihre Entscheidung, denn ich wage nicht zu prognostizieren, was aus mir geworden wäre, wenn wir dort hin gezogen wären. Ich befürchte, ich hätte auch zu den Jugendlichen gehört, die dort mehr oder weniger frustriert über das soziale Nichts abgehangen haben. Drogen, Delikte, Devianz – sicher hätte ich kaum etwas ausgelassen, sicher hätte ich diese Perspektiven sehr gründlich verfolgt. Es sind eben auch die Verhältnisse, die die Persönlichkeit formen.
Siedlungen wie diese habe ich in meinem späteren Leben noch oft gesehen: In Ostberlin die Plattenbauten, in Warschau, in der Türkei, zuletzt hier in New York City. Inzwischen weiß ich ungefähr, was ich in meinem Leben will, so dass ich auch mit diesen Wohn- und Lebensstrukturen umgehen kann. Aber der Einfluss solcher Architekturen auf die Biografie von Menschen – das wäre sicher ein interessanter Forschungsgegenstand.
New York City, 06.05.2012
Stefan Schneider