Musterbuch. Bis zu meinem neunten Lebensjahr wohnten meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich in einer 54qm großen oder besser kleinen zwei Zimmer-Mietwohnung am Mariendorfer Damm. Da das eine Zimmer das Wohnzimmer war, schliefen wir alle 4 im hinteren Schlafzimmer. Wie beengt die Verhältnisse waren, ist mir erst heute bewusst. Denn mein Vater wiederum erzählte, dass er bis zu seinem 16 Lebensjahr mit seinem Bruder zusammen in einem Bett geschlafen hat. Und das stand im Flur. Als wir in die große 75qm Wohnung umzogen, bekamen mein Bruder und ich zusammen ein Kinderzimmer. Ich erinnere mich noch genau, dass wir aus einem riesengroßen Tapetenmusterbuch eine Kinderzimmertapete mit aussuchen durften. Es war eine okergelb-schifgrüne Ornamentiktapete, wie sie damals in den 70er Jahren üblich war, die von dort an unser Zimmer prägte.
Polstergalerie. Als ich mit 19 endlich von zu Hause auszog und zusammen mit meinem damals besten Freund Clemens und anderen die riesige Altbauwohnung in der in der Hauptstraße 147 in Berlin – Schöneberg renovierte, um dort eine Wohngemeinschaft zu beginnen, war die weiß gestrichene Raufasertapete nahezu überall obligatorisch. Nur wenige wagten sich damals an andere Farben heran und galten sogleich als spießig. Da eine weiße Fläche an und für sich schwer auszuhalten ist, kamen im Laufe der Zeit unzählige Poster hinzu. Am Ende meiner WG-Zeit war von der weißen Wand kaum noch was zu sehen, sie war bis obenhin zum Stuck über und über mit angepinnten, auch langsam vergilbenden Kunstwerken übersät.
Blickfang. Mit dem Abschied aus dem WG-Leben und dem Umzug in eine eigene Wohnung -die für mich allein übrigens größer ist das die, die wir damals als Familie bewohnten, soviel als Anmerkung zum stetig wachsenden Wohnflächenbedarf – war ein erneuter Stilwechsel angesagt. Ich fand es nun nicht mehr notwendig, meine Überzeugungen an meiner eigenen Wand zu zu dokumentieren, und überdies brachte das Leben in unterschiedlichsten Netzwerken genug politische Aktivitäten mit sich, so dass ich mich in den wenigen Stunden, die ich mit Muße in meiner Wohnung verbringen konnte, doch eher nach Ruhe sehnte. Zwar sind meine Wände noch immer durchgehend weiß – zu etwas anderem werde ich mich in meinem Leben auch nur schwer durchringen können – aber ich bevorzuge es, Bilder doch eher sparsam aufzuhängen nach dem Motto: Weniger ist mehr.
Im Moment deutet sich eine weitere Etappe meiner Wandgestaltungskultur an. Weniger ist mehr allein reicht nicht. Es soll schon etwas Besonderes sein. Eine Option wäre, mit einem Wandtattoo zu experimentieren. Es ist sogar möglich, ein ganz eigenes zu gestalten. Der andere Weg wäre, mit einem Künstler Kontakt aufzunehmen und ihm ein Bild abzukaufen. Die erstere Möglichkeit wäre sicher preisgünstiger, die zweite noch exklusiver. Aber so eine Stadtsilhouette von Berlin über meiner Couch, das wäre schon nicht schlecht.
Milanowek, 18.03.2012
Stefan Schneider
Abbildung: Honoré Daumier (1808-1879): In der Gemäldegalerie (Zeichnung), Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Daumier_galerie_tableaux.jpg
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