80 Kilometer östlich vom Alexanderplatz beginnt Polen. Von Berlin aus sind Szczecin näher als Magdeburg, Praha und Poznan näher als Köln, Warschau näher als München, und dennoch sind diese Städte Ewigkeiten entfernt in unseren Köpfen. Polen, gar Weißrussland oder Russland sind Ferienziele bestenfalls für Aussenseiter oder Heimwehtouristen. Die Kette der Vorurteile läßt beispielhaft sagen in einem Satz: Ehrlicher Pole mit eigenem Auto sucht Arbeit! Umfragen dokumentieren: In der Beliebtheitsskala der Ausländer rangieren Bürger slawischer Staaten ganz unten. Lieber akzeptieren die Berliner einen Türken oder Afrikaner als Nachbarn als einen Polen. Polnische Wirtschaft: Obwohl niemand genau sagen kann, was das ist, markiert dieser Begriff ein Schimpfwort. Die wenigen deutsch-polnischen oder deutsch-russischen Gesellschaften agieren fast völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit, über die Grenze fährt man bestenfalls zum Polenmarkt oder aber zum Tanken. Dabei ist Polen bereits Nato-Mitglied, die EU-Aufnahme steht in wenigen Jahren bevor. Die Oder markiert nicht nur eine harte Sprachgrenze, sondern auch eine mentale Grenze: Ab hier beginnen die Vorurteile.
Nach dem "Mietenreport" und "Hauptstadt der Verdrängung. Berliner Zukunft zwischen Kiez und Metropole." legt der taz-Redakteur Uwe Rada nunmehr sein drittes Buch vor, es heißt: "Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt". Das ist genaugenommen kein Buch über Osteuropa, sondern ein Buch über den Berliner Osten, der im Zentrum der Hauptstadt beginnt und irgendwo hinter Moskau endet. Im ersten Kapitel "Der Berliner Osten" zeigt der Autor: Die Osteuropäer sind schon längst präsent in Berlin, sie wohnen, leben, arbeiten hier, haben längst eigene Zentren von Kultur und Kommunikation entwickelt. Die Autoscheibenputzern am Kottbusser Tor gehörten dazu ebenso wie die polnische christliche Gemeinde in Tempelhof, der internationale Basar in Treptow und die russischen Siedlungen in den Plattenbauten Marzahns. Der zweite Teil "Östlich von Berlin" beschreibt die komplexen und sich ständig verändernden Wirtschafts- und Grenzbeziehungen der Pendler, Saison- und Gelegenheitsarbeiter, Migranten und Märkthändler zwischen Berlin - Lichtenberg über die deutsch-polnische bis hin zur polnisch-ukrainische Grenze bis nach Russland hinein. Der polnische Arbeiter, der in Berlin gelegentlich jobt, um an der polnischen Küste eine eigene Ferienwohnung eröffnen zu können, ist nur ein Beispiel. Das dritte Kapitel "Der Westen schlägt zurück" ist das schwierigste. Der Schrei nach Sicherheit und Ordnung, die verworrenen politischen Programme zum Thema, die Beschreibung von Grenzziehungen und Abgrenzungen innerhalb der Stadt und der Stadtentwicklungspolitik - ja. Schwierig zu verstehen - vor allem für nichtberliner Leser - aber ist, was die architektonische stadtplanerische Zielsetzung rund um den Alex damit zu tun haben soll.
Das Buch ist angereichert durch ein schönes Fotoessay zum Thema "Grenzstadt Berlin" der Fotografin Claudia C. Lorenz und enthält noch ein kurzes Nachwort in Form von neun Notaten des Publizisten und Architekturkritikers Wolfgang Kil sowie eine ganze Reihe von Anmerkungen und Literaturangaben. Nur eine Liste mit weitergehenden Literaturempfehlungen habe ich vermißt. Das Buch ist mit 19.40 Euro zwar nichts für den schmalen Geldbeutel - aber es ist unterhaltsam geschrieben, regt an zum Nachdenken und zum Weiterlesen. Rada geht hin, schaut zu, schreibt auf. Reportage anschaulich, detailliert, präzise. Ergänzt durch Hintergrundinformationen, Daten, Zahlen, Fakten, Zitate. Bilder und Fragen tauchen auf.
Das vierte und kürzeste Kapitel "Nicht mehr und noch nicht" ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Provisorien und dafür, Vertrauen zu haben in Menschen, die nach Berlin kommen, weil sie sich hier eine Perspektive erhoffen, vielleicht aus Armut, vielleicht aus Neugier, vielleicht nur zeitweise oder für eine Zwischenstation. Der Osten ist im Westen schon längst angekommen. Und weil die Menschen längst schon da sind, müssen wir nicht fragen: Was nehmen sie uns weg? sondern vielmehr: Wie können Sie uns bereichern? Und warum?: "Wer nach Osten geht, weiß, daß die Menschen, die in diesen Zügen sitzen, etwas mitbringen, worauf man sich im Westen erst wieder besinnen muß: nichts als sich selbst.", sagt Uwe Rada. Das aber ist schwierig auszuhalten.
Stefan Schneider
Uwe Rada: Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt. Mit einem Fotoessay von Claudia C. Lorenz und einem Nachwort von Wolfgang Kil. Berlin: Basisdruck Verlag GmbH 2001. ISBN 3-86163-115-6, 245 Seiten, 32 Fotos, 19,40 Euro