Werner Franke hatte mich gebeten, anlässlich von 15 Jahre Strassenfeger etwas zu den Anfängen des Vertriebs bei den Strassenzeitungen in Berlin zu sagen. Bei dem mob - magazin wurden die Zeitungen von der Druckerei in die mob - Räumlichkeiten in die Kleine Hamburger Str. 2 in Berlin - Mitte geliefert. Die Verkäufer_innen kamen dann dorthin und konnten sich die Zeitungen dort abholen. Hotte saß dort zeitweise am Schreibtisch, aber auch andere, die nach Übernahme des Projekts durch den 1994 gegründeten Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. in den ursprünglich nur für Redaktionszwecke angemieteten Räumen zeitweilig lebten, wohnten und arbeiteten. Dass immer wieder Geld in der Kasse fehlte, war das eine Problem. Das andere waren die berühmten Zettel. 10 Mark entliehen, gez. Manne. Von wann war dieser Zettel, und wer verdammt nochmal war Manne? Das Geld sahen wir natürlich nie wieder, und wir schafften es aber dennoch, das Finanzamt davon zu überzeugen, dass das gültige Belege für unabdingliche Ausgaben waren. Dreister war aber noch die andere Geschichte: Wir wunderten uns immer wieder, warum so viele Menschen bei der Zeitungslieferung halfen. Denn immerhin waren die Pakete nicht gerade leicht und in den zweiten Stock zu tragen. Erst nach einigen Monaten kamen wir dahinter. Während des Hochtragens verschwanden einige Pakete im Keller, und beim Stapeln wurden Pakete der alten Ausgabe reingeschummelt, so dass die Gesamtzahl der Pakete immer stimmte. Für die alten Ausgaben interessierte sich ja kaum jemand von den Nicht-Verkaufenden. So ist es einigen Verkäufer_innen gelungen, das Prinzip Die Zeitung kostet zwei Mark, davon zwei Mark für die Verkäufer! praktisch umzusetzen. Es gab sogar Gerüchte, dass ganze Pakete vom mob - magazin im nahegelegenen zosch gegen gutes Shit getauscht worden seien. Aber ich glaube, die wenigen Leute, die das gemacht haben, waren von ihrem großen Coup so berauscht, dass sie hinterher sicher maßlos übertrieben. Die damals parallel erscheinende haz (= hunnis allgemeine zeitung) hatte da eine ganz andere Strategie. Sie hatte einen VW-Bus, der regelmäßig am zentral erreichbaren Bahnhof Friedrichstraße stand. Dort saß immer einer, der direkt vom Wagen aus verkaufte. Eigentlich das bessere Konzept, weil näher dran an den Leuten von der Straße. Aber es gab andere Unregelmässigkeiten, die unter anderen im großen Durst des Vertriebschefs begründet lagen, dass dieses Konzept zur damaligen Zeit nicht wirklich erfolgreich war. Dennoch hat diese Idee sich später durchgesetzt. Die motz hatte schnell ihren Stammplatz am Nollendorfplatz gefunden. Denn der ebenfalls sehr attraktive Brennpunkt am Zoo war schon von der Platte besetzt. Die hatte im hinteren Bereich, wo es eine kleine verwilderte Grünfläche gab, einen Wohnanhänger mehr oder weniger dauerhaft geparkt - ein Prinzip, dass sich schließlich auch beim Strassenfeger durchsetzen sollte. Vertriebsorte an Sozialen Brennpunkten zu platzieren, das war also das zentrale Konzept. Was sicherlich auch damit zu tun hatte, dass in der Anfangsphase sehr viel stärker als gegenwärtig, der Zeitungsverkauf von vielen Junkies als Alternative zur Beschaffungsprostitution oder zur Beschaffungskriminalität gesehen wurde. Das hat sich nach etwa einem Jahrzehnt Strassenzeitungen reletiviert, nicht zuletzt deshalb, weil es aufgrund des moralischen Verschließes der Idee der Straßenzeitungen zu deutlichen Umsatzeinbrüchen kam. Dann war das Zeitungverkaufen insbesondere für die hardcore-Junkies nicht mehr so attraktiv. Dennoch waren gerade in der Anfangszeit die Strukturen sehr durchlässig. Und zwar in beide Richtungen. Bekannte Strassenfeger-Redakteur_innen wie Uwe Spacek, Karsten Krampitz und auch Ulrike Steglich machten regelmäßig Vertriebsdienst am Bahnhof Zoo oder am Ostbahnhof, dem anderen Zeitungsausgabepunkt vom Strassenfeger. Das war keine bloße Aushilfe, sondern zentrales journalistisches Prinzip. So kannten die Redakteur_innen den Großteil der Verkäufer_innen persönlich, und, was noch viel wichtiger war, unzählige authentische Geschichten sind zu dieser Zeit geschrieben worden. Die Redakteure brauchten bloß das aufzuschreiben, was die Verkäufer_innen ihnen erzählten. Das war mehr als bloße Lebensgeschichten. Vor Ort wurden Ausgaben geplant, Beräge besprochen, Aktionen verabredet. Eine Zeit lang gab es den berühmten Tausender-Bonus, der regelmäßig für sehr viel Spaß sorgte. Der Tausender-Bonus ging so: Wenn an einem Tag an einem Standort insgesamt mindestens eintausend Zeitungen verkauft worden waren, gab es am nächsten Tag als Belohnung für alle drei Zeitungen gratis - und zwar für alle, die am Vortag bei Zeitungsverkauf dabei waren. Das führte zu interessanten Effekten. Viele kamen extra am späten Nachmittag noch zum Bahnhof Zoo gefahren (dem Vertriebsstandort mit den höchsten Umsatzzahlen und der größten Wahrscheinlichkeit für einen 1000er Bonus), um sich nach dem Stand der Verkaufszahlen zu erkundigen. Wenn nicht mehr sehr viele Zeitungen fehlten, verabredeten sich die anwendenden Verkäufer regelmässig, den Tausender-Bonus zu knacken. Sie kauften einfach die Zeitungen, die sie sonst erst am nächsten Tag gekauft hätten - und tranken dann am Abend ein paar Bier weniger. Und auch die, die davon nichts mitbekamen, freuten sich regelmässig am nächsten Tag, wenn es zu der einen Zeitung, die sie regelmässig nur kauften, drei Zeitungen extra gab. Eine im Grunde biblische Form der gerechten Belohnung in einer so ungerechten Leistungsgesellschaft. Auch die, die nur Weniges zu der Gesamtverkaufszahl begetragen hatten, konnten sich gleichermaßen mit freuen. Auch die Mitarbeit im Vertrieb war eine Chance, um wieder das Leben in den Griff zu bekommen. Viele Verkäufer_innen, die Arbeit statt Strafe abzuleisten hatten, bekamen ihre Chance in der stundenweisen Übernahme der Zeitungsausgabe. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn schließlich mussten Zeitungs- und Geldbestände mittags zum Schichtwechsel und abends zur Abrechnung penibel stimmen. Aber davon ein andermal.