Die Obdachlosen aus der Oderberger 12

Das baufällige Wohnhaus in Prenzlauer Berg ist fest in der Hand von Trebern: Der Verein "Obdachlose machen mobil" hat es gepachtet. Weil der aber kein Geld hat, helfen nun Menschen beim Sanieren aus, die sich einst selbst nicht mehr zu helfen wussten

Ralf Schönball

Grau ist dieser Tag, und der Regen nieselt herab auf die Passanten. Sie gehen eilig ihrer Wege, die Köpfe zwischen den Schultern eingezogen. Heute hat die Oderberger Straße im Prenzelberg nichts vom diskreten Charme des Bohème-Kiezes. Der herrscht vor allem nachts und spült die Alternativ-Reise-Touristen ins "Entweder-Oder". Oder in den Griechen nebenan. An diesem Vormittag aber ist der Kiez wie die Fassade von Hausnummer 12: nicht mit anzusehen. Doch es wird wieder. Ganz sicher. Das Wetter. Und dieses Haus. Denn hier kümmert sich wer. Wer? Ein Haufen Penner - sagen solche, die sich an die Fassade halten und gerne "dem ersten Eindruck" glauben schenken. Wie leicht ist es, sich selbst zu betrügen. Egal wo man steht. Auch hier, in der Oderberger Straße, wo Menschen eine Chance bekommen sollen, die sonst wohl nirgendwo eine kriegen. Obdachlose, Knastbrüder, Sozialhilfe-Empfänger.

Stefan Schneider ist ein schmaler Mann Ende Dreißig. Er hat eine Brille mit großem milchweißem Gestell und ein Vertrauen schaffendes, offenes Gesicht. "Wir haben ein Erbbaurecht auf das Gebäude", sagt er. Dann macht er eine Pause. Man hört ihn denken. Endlich lächelt er, bevor er wieder zum sprechen ansetzt: "36 000 Mark Pacht im Jahr verlangt die Eigentümerin." Ein Spottpreis für diese Lage im Szene-Kiez. Alle wollen nach Prenzelberg. Wie zu Mauerzeit in West-Berlin alle nach Kreuzberg zogen. Da die Nachfrage groß ist, steigen die Preise. "Nebenan", sagt Schneider "haben sie das Haus in Eigentumswohnungen aufgeteilt." Alle verkauft. Die Fassade ist frisch getüncht. Die Tür zum Szene-Laden im Tiefparterre steht offen. Das Nachbarhaus könnte auch in Hamburg stehen. Die Oderberger 12 nicht.

Über Hamburg kam auch die Idee für die "straz" nach Berlin. Die "Straßenzeitung" ist eine Berliner Obdachlosen-Zeitung, wie sie Treber in U-Bahnen und Kneipen verkaufen. Schneider ist der Herausgeber des Blattes. Und die Redaktionsanschrift ist natürlich: Oderberger Straße 12. Zwei Baustellen in einer - könnte man meinen. In Wirklichkeit aber geht es nur um das eine: Menschen, die irgendwann abgerutscht sind, auf die Beine zu helfen. Das hat etwas mit Erziehung zu tun. Und Erfahrung. Schneider, studierter Pädagoge, hatte Mitte der neunziger Jahre eine Stelle an der Hochschule der Künste. Danach war er zwei Jahre arbeitslos.

Ausgemustert und abgestempelt

Das sagt er, irgendwann, ganz beiläufig. Erwerbslos gewesen zu sein - wer möchte sich schon dieser Erfahrung rühmen? Stigmatisierung droht. Dabei sind bald wieder vier Millionen Menschen arbeitslos. Sozialhilfe-Empfänger ausgenommen. In Arbeitsprogrammen Geparkte nicht mitgezählt. Gar nicht zu reden von jenen, denen es gegen die Ehre geht, stempeln zu gehen - oder als "Sozialfall" abgestempelt zu werden.

"Haben Sie mal Zeit für ein paar Fragen?" - "Nach 16.30 Uhr", antwortet der schlanke Mann im feuerwehrroten Overall. "Da bin ich schon weg", drängle ich. "Na schön, in der Mittagspause", erwidert er und lotst eine Schubkarre vom Hof zum Mischcontainer vor dem Haus. Peter Exner ist der Bauleiter. Genau genommen hat er zwei Jobs. Er ist außerdem Zimmermann. Gegen Mittag kommt er dann ins Zimmer von Schneider. Das ist im Vorderhaus und Sitz von Redaktion, Verein sowie Bauleitung.

Selbstbewusst schaut Exner drein, setzt die Kaputze ab und beginnt programmatisch: "Dies ist ein Aufruf, wir brauchen Leute", und er schaut herausfordernd wie einst vielleicht Genossen, wenn sie zum Kampf für die Rechte der Arbeiter aufriefen: "Das ist die Chance, am eigenen Wohnen mitzuarbeiten." - Wo in der Welt gebe es sonst derartige "gestalterische Freiräume", wo einem doch längst alles "in Durchschnitts-Norm vorgesetzt wird" - "Das alles kann man hier durchbrechen." Dann teilt Exner noch mit, dass die Qualität meines Artikels daran zu messen sein werde, wie viele Menschen seinem Aufruf Folge leisten werden. Dann ist er fertig und könnte eigentlich wieder gehen. Doch er bleibt. Und schweigt. Während ich notiere. Und schweige. Pädagoge Schneider grient. Architekt Heinrich Schauer sitzt regungslos da, wie in Meditation versunken. Er kennt seinen Bauleiter.

Und der Bauleiter kennt seine Leute. "Manche kommen an", sagt Exner, "und erzählen, was sie sonst so alles können." Heiße Luft, meint der Bauleiter, die machen sie, "weil sie ein Mal durch alle Raster durchgefallen sind." Er selbst lasse es erst einmal laufen, vor allem aber "komme ich nicht auch noch mit neuen Rastern." Bald fänden seine Leute dann wieder zu sich und knüpften dort wieder an, wo sie in ihrer individuellen Entwicklung stehen geblieben waren. Da muss der Bauleiter sie dann abholen.

Und das wird oft schwierig. Nicht nur weil es am Bau einstweilen hart zugeht. Sondern auch "weil man durch Arbeitslosigkeit das Arbeiten verlernt", sagt Schneider, der Erfahrene. Vier fest angestellte Bauleute der Oderberger 12 verdanken ihren Job dem Programm "Integration durch Arbeit" (ida). Einer der vier ist in regelmäßig wiederkehrenden Abständen krank. Zwei weitere blieben an diesem naßkalten Tag einfach weg. "Vielleicht sind die ja auch krank", sagt Exner, "aber sie melden sich nicht."

Noteinsatz vor dem Sturm

Aber auch wenn alle da sind, ist es nicht immer ganz einfach: Eines Tages, als das Dach noch abgedeckt war, zog ein Sturm auf. Erste Regentropfen klatschten auf den Boden. Die Bauleute focht es nicht an. Sie machten gerade Pause. Exner stürmte hoch, packte den Tisch, hob ihn in die Höhe und ließ ihn wieder herabfallen. "Der Mittagstisch war durcheinandergewirbelt, aber da hatten es alle verstanden", sagt der Bauleiter. Vier Männer griffen nach einer Plastikplane, die wie ein Segel unter den Böen widerspenstig auf und ab schlug, während ein anderer das Provisorium an den Dachsparren festtackerte. Die Baustelle war gesichert.

Noch ist die Oderberger 12 ein Rohbau. Überall war Hausschwamm. Vor allem im Hinterhaus, weil das zehn Jahre unbewohnt und ungeheizt war. Wegen der agressiven Sporen mussten sogar Böden und Decken raus. Türen und Rahmen sind auch weg. Teilweise liegen Türen auf den Böden, damit die Bauarbeiter nicht von Holzsparre zu Holzsparre springen müssen. Die neuen Grundrisse der Etagen im Hinterhaus sind aber bereits zu erkennen.

Architektin Angelika Döhnert hat jeweils eine kleine Einzimmer-Wohnung und eine Zwei-Raum-Wohnung mit Essküche vorgesehen. Wer lange auf Trebe war, und Gesellschaft dort suchte, wo die Rotweinflasche kreiste, findet vielleicht in einer Zweier-Wohngemeinschaft einen anderen Rückhalt. Das wäre ein kleiner Sieg im ungewissen Feldzug gegen die Erfahrung sozialer Ausgrenzung und der üblichen Flucht davor: in die Krankheit Alkohol. Und vielleicht beugt das einem Rückfall vor. In der Einraum-Wohnung kann eine Mutter mit Kind einziehen. Zum Beispiel. Oder jemand, der für sich sein will. "Mit dem Wohnen ist es wie mit der Arbeit - wenn man es verlernt hat, muss man sich erst wieder daran gewöhnen", sagt Schneider, der Pädagoge.

Der Aufruf des Bauleiters, die Visionen der Planer - eine Welt sozialer Verantwortung nimmt Gestalt an, doch auch sie muss sich in einer widerspenstigen Realität bewähren. Bis heute fehlen einige Grundbuch-Eintragungen. Deshalb hat die Bank den Kredit noch nicht freigegeben. Ohne Geld kann der Architekt keine Aufträge vergeben. Die Bauarbeiten sind vier Monate im Verzug. Nicht nur wegen des Geldes. Auch wegen der Motivation, um die es bei einigen Bauarbeitern im Selbsthilfe-Projekt nicht immer zum Besten bestellt ist. Und wenn die ihre Arbeit schleifen lassen, "dann laufen die Profis auf", sagt Architekt Schauer.

Die Profis sind Handwerkerfirmen. Diese bekommen Aufträge, wo Gewährleistung wünschenswert ist. Für Elektro-Installationen zum Beispiel und Wasserleitungen natürlich. Auch das Dach decken erfahrene Handwerker-Betriebe. In Selbsthilfe haben die Bauleute das Haus entrümpelt, Wände abgetragen und kleinere Maurerarbeiten geleistet. Als Lohn winkt eine Wohnung. Wer sich eineinhalb Jahre verpflichtet, zehn bis fünfzehn Stunden wöchentlich zu arbeiten, der erhält eine Bleibe für 7,30 Mark pro Quadratmeter. Wer nicht helfen will, muss eine Mark mehr zahlen.

Dennoch erklären sich längst nicht so viele Leute zur Mitarbeit bereit, wie es sich der rührige Projekt-Kern aus Architekt, Bauleiter und Vereinschef wünscht. "Die Leute haben häufig nicht die Zeit dafür, sie müssen sich um ihre Einnahmen kümmern", sagt Schneider. Keine Zeit, obwohl das Sozialamt die Mitarbeiter rekrutiert? Eher eine Frage des Geldes: Die ehrenamtliche Mitarbeit bei der Sanierung bringt den Bauleuten drei Mark die Stunde. Sie dürfen außerdem nicht mehr als 40 Stunden im Monat arbeiten. Mit höchstens 120 Mark dürfen sie ihre Sozialhilfe aufbessern. Hartes Brot.

"Bei dem Lohn ist die Motivation manchmal mäßig", sagt der Architekt. Die anderen, "festen Mitarbeiter" aus dem Ida-Programm verdienen dagegen netto um die 1500 Mark pro Monat. Nicht gerade ein Vermögen. Außerdem sind die Bauleute unkündbar. "Wir haben also kein Druckmittel, zum Beispiel eine Minderung der Rechnungssumme bei einem Bauverzug", sagt der Architekt. Und schließlich arbeiten in der Oderberger 12 noch die Männer "aus dem Knast". Sie erkaufen sich einen Tag Freigang durch einen Tag gemeinnützige Arbeit. "Die sind richtig motiviert", sagt Bauleiter Exner.

Der Architekt nickt: "Das ist Kraft, die hier reingeht." Ein sehr guter Maurer sei unter den Freigängern gewesen. "Die sind besser, weil sie Ordnung und Gesetz aus dem Knast kennen", sagt Exner. Im Vollzug werde jeder Fehltritt bestraft. Da sich die Männer auf der Prenzelberger Baustelle Freiheit erarbeiten könnten, die sie auf sonst keinem Wege erlangten, seien sie fügsam. Meistens. Doch ausgerechnet an dem Tage, als die Sozialarbeiterin in der Oderberger 12 die Leistungen der Freigänger überprüfen wollte, waren zwei Männer vorzeitig verschwunden. Bauleiter Exner hatte nichts davon mitbekommen. Der Strafvollzug reagierte. Die schweren Stahltore fielen hinter den Häftlingen wieder ins Schloss, und das Geschäft, einen Sonnabend Arbeit für einen Sonntag Freiheit, sollte vorerst aufgekündigt werden.

aus: Tagesspiegel Berlin, Sonnabend, 01.12.2001

Wie die Sanierung ohne eigenes Geld gelingen soll

ball

Um die Sanierung des Wohnhauses Oderberger 12 bemüht sich der gemeinnützige Verein "obdachlose machen mobil" (mob). Der mob ist Herausgeber der "Straßenzeitung", Bauherr des Gebäudes und wird nach Abschluss der Arbeiten die Wohnungen vergeben. Gegründet 1994 zählt der mob 23 Mitglieder. Die Finanzierung des Bauprojektes erfolgt über das Programm Wohnungspolitische Selbsthilfe Mod-Inst RL 96 (Modernisierung und Instandsetzung nach Richtlinie 96). Die Baukosten der 1200 Quadratmeter Nutzfläche großen Oderberger 12 betragen 3,8 Millionen Mark. Davon erhält der Verein 42,5 Prozent als Baukosten-Zuschuss, weitere 42 Prozent als zinsgünstiges Darlehen. Die verbleibenden knapp 16 Prozent (650 000 Mark) der Baukosten bringt der Verein in Selbsthilfe auf. Ferner kann sich mob Leistungen von Mitarbeitern aus Sozial-Programmen anrechnen lassen. Beispiel "Integration durch Arbeit" (ida). Ida-Kräfte sind Empfänger von Sozialhilfe, sie schließen einen Arbeitsvertrag mit dem Sozialamt, und dieses verteilt sie auf Einsatzorte. Dazu zählen Baustellen gemeinnütziger Einrichtungen und private Unternehmen. Statt des Regelsatzes für Sozialhilfe von rund 900 Mark, erhalten Ida-Arbeiter rund 1600 Mark im Monat. Ferner sind in der Oderberger 12 Mitarbeiter aus dem Programm Gemeinnützige zusätzliche Arbeit (gzA) im Einsatz. Sie erhalten drei Mark je Stunde und dürfen maximal 40 Stunden im Monat arbeiten. Im Jahr 2000 fanden rund 30 000 Berliner durch diese und ähnliche Programme eine Stelle. Das Programm "Arbeit statt Strafe" schließlich richtet sich an Menschen, die zu Geldstrafen verurteilt wurden, doch diese nicht zahlen können oder wollen - und diese stattdessen bei einem gemeinnützigen Träger abarbeiten. Den Stundenlohn leiten die Gerichte aus dem letzten Einkommen des Betroffenen ab. Geldstrafe geteilt durch Stundenlohn ergibt die Zahl abzuleistender Strafarbeits-Stunden.

aus: Tagesspiegel Berlin, Sonnabend, 01.12.2001

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