Gerhard Rieger (genannt Jonny)

Die Vagabunden-Internationale

Gerhard Rieger, einer aus der Intern. Bruderschaft der Vagabunden, ein berliner Jungarbeiter, 23 Jahre alt, hat den Weltreise-Wettbewerb von "Berlin am Morgen" und der "A-I-Z" (unter 2356 Teilnehmern) gewonnen. Nachstehend sein Beitrag, der den ersten Preis erhalten hat.

Das war in Genf. - Ich hatte gerade meine Ausweisung wegen Vagabundage weg. Aus dem lieblichen Lausanne, dem Kanton Vaud.

Die Abendsonne geisterte in der Ferne über dem Montblanc, wie über einen riesigen, weißen Zuckerhut. Am Kai war es windig; - auch noch anders windig. Ich stocherte weiter: Villen, Hotels, Flaggen, Brücken, Plainpalais, Rue du Vienne, Billand 25. - Richtig! - "Armee du Salut": diese gottsverfluchte, internationale Vagabundenquetsche. Was die Loggia dei Lanzi in Florenz, Albergo Populare in Mailand, Schönbrunn in Wien, Pik Aß in Hamburg, das ist die Armee du Salut in Genf: Treffpunkt der Tramp-Internationale.

Eine verdammt herrliche Bande war da zusammen: Ein Schweizer mit zerbeultem Mumiengesicht, der sich, weiß der Teufel woher, eine Fahrkarte nach Afrika besorgt hat. In einigen Tagen will er abgondeln. Ein Spanier, politischer Flüchtling, schreibt Briefe. Ein dänischer Heizer macht Rast auf dem Tramp nach Konstantinopel. Zwei Tschechen kauderwelschen mit einem Bremer, der soeben der französischen Legion entwischt ist. Ein von allen verkohlter Russe ist da, der uns den Kaffee bringt. Weißhaarig wie eine Silberpappel ist der Knabe schon. Er spielt jetzt Dienstmädchen und träumt noch von der Zarendynastie. Der Koch, Monsieur Wüst, ist Südfranzose.

Es war zum Verrücktwerden gemütlich. Bis das Mumiengesicht die Geschichte von den sieben Spaniern erzählte, die von der Legion ausgekrazt waren: - "Ende 28 war es. Sie fuhren blind von Algier auf einem Kasten im Reserve-Wassertank. Und wie der Teufel sein Spiel hat, wurde der Reserve-Tank gebraucht, wurde voll Wasser gepumpt. - Und später, bei den Reinigungsarbeiten, fand man sieben spanische Leichen. Elendiglich umgekommen waren die Kerle. Die Passagiere haben das Leichenwasser gesoffen, - brrr... - Aber die Sache ist nie rausgekommen. Was machts denen schon aus, wenn sieben arme Deibel absaufen wie Katzen. Soll man deswegen den Herrschaften 1. Klasse den Appetit verderben?"

"Ich fuhr auf der 'France' von Cherbourg", nahm der dänische Heizer das Wort. "Sechs Italiener machten blind in einem engen Schacht, der Verbindung mit dem Heizkessel hatte. Als wir es merkten, waren vier hops. Erstickt."

Die Stimmen sprangen durcheinander: "Auf der 'Rouen' holten wir vier Franzosen halberstickt hinter der Wandverschalung des Musiksalons hervor."

So ging es weiter: erstickt, - verhungert, - im Kettenkasten zerquetscht. Die namenlosen Toten. Verweht; - ausgelöscht.

Und dann erzählte das Mumiengesicht wieder. Er war 26 und sah aus wie ein alter Mann. Sein Gesicht war hart, eingefallen. Die Augen vom Hunger verglast:

"Da waren wir auf dem Schub von Paris. In einem Güterwagen. 26 Mann in einem Güterwagen. Jeder bekam etwas Stroh, auf das er sich legen konnte. Sieben Nationen waren vertreten. Stellt Euch das vor: sieben verschiedene Sprachen. Hunger und Haß einten uns. - Jahrelang nicht mehr richtig satt geworden. Nirgends Arbeit. Der Mund, ein schmaler Strich, zusammengepreßt. Wir hätten geschrien vor Hunger, Angst und Verbitterung. - Aber wir konnten nicht mehr schreien. Die Worte waren uns in der Kehle erstickt. Es reichte nur noch zu einem gepreßten, unheimlichen Fluch. Die Glieder zuckten; eine unempfindliche Masse. Wir waren so ziemlich sargreif. - Aber ein sargreifer Tramp darf alles, nur nicht den Lebensmut verlieren. Das darf er nicht. Dann ist es auch. - Verdammt, und die Hose rutschte uns über die abgemagerten Hüften, so holperten sie mit uns los. Erst froren und fluchten wir nur. Dann versuchten wir uns zu unterhalten; das ging aber schlecht. Plötzlich fing einer an zu singen und das verstanden wir, obwohl er ungarisch sang. Und alle sagen wir mit; nein, wir brüllten und faßten uns um die Schultern. Und wißt ihr, was wir sagen? - Die 'Internationale'! Die 'Internationale' in sieben Sprachen. Und doch war alles eins, und einer verstand den anderen. Als wir in Straßburg getrennt werden sollten, kamen uns die Tränen in die Augen und wir riefen uns zu: Servus, Brüder! - Und vergeßt nicht die Internationale! - Das riefen wir. Und als die Gendarmen brüllten, wir sollten das Maul halten, fingen wir noch einmal an zu singen, bis sie uns in verschiedene Richtungen abführten." Dabei schlug der Mann mit dem Mumiengesicht auf den Tisch und stand auf, um seine Schlafmarke zu holen.

Wir gingen mit. Und einer sagte noch langsam, Wort für Wort betonend: "... Die Internationale erkämpft das Menschenrecht." -- Mit heißen, trockenen Worten sagte er es, auf denen der Staub all der tausend Straßen, die er gezogen, zu lasten schien und in denen der Hunger lag.


aus: Der Vagabund, Heft 5, 4. Jgg., 1931. (Wieder abgedruckt in: Trappmann, Klaus: Landstraße, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Berlin: Gerhardt Verlag 1980)

Solidarische Hinweise

Countdown

Joomla template by a4joomla