I.
Hans Reiser ist bäuerlicher Herkunft. Sein Großvater saß auf einem Hof in Farchant bei Garmisch: menschenscheu, menschenfeindlich, ein Bauer von fürstlichem Stolz, dessen Abneigung gegen die Stadt sich bis zum Haß steigerte. Der Vater war gleichfalls Landmann, zog aber bereits in die Stadt und wurde Fabrikarbeiter in München. Von da ab war der Großvater mit der Familie entzweit.
Hans Reiser, 1888 in Schwabing bei München geboren, geht in die Volksschule und soll im gleichen Fach bleiben, aber einige Stufen höher steigen, das Ziel heißt: Lokomotivführer. Er beginnt als Schlosserlehrling. Auf Rat der Geistlichkeit aber geben die Eltern den geweckten Burschen bald schon in ein "gehobeneres" und auch frommes Handwerk: er wird Glasmaler. Auch diese Lehre hat er bald hinter sich, und die nächste Station ist wieder weltlicher: eine Autofabrik in Eisenach, in der er als Fräser arbeitet. Hier schreibt er sein erstes Gedichtbuch: "Der Freund". Es sind unbeholfene, holprige Verse, empfunden, aber ungestaltet, mit Ansätzen zu echter Lyrik.
Halb erschlagen von einer Eisenplatte, zurück ans Kassabuch, eine zweijährige Tippelreise durch Italien und die Schweiz, bei der er mehrfach eingesperrt wird, und noch ein drittesmal zurück: "Zureden, Grübelei und Unreife verurteilen mich, noch einmal den Beweis bürgerlicher Verwendbarkeit zu liefern in der Erwerbssklaverei..." Gleichzeitig liest er (zwei Drittel des kleinen Gehaltes werden in Büchern angelegt), schreibt, malt und erlebt die Künstlerwelt der Münchener Bohéme. Mit 22 Jahren wirft er endgültig jeden bürgerlichen Beruf hinter sich. Der entscheidende Durchbruch hat sich vollzogen. Er erkennt, daß es besser ist, ohne Gehalt zu leben als ohne Inhalt, wichtiger, zu wissen, wozu man lebt, als wovon.
Noch vor dem ersten Weltkrieg heiratet Hans Reiser. Ein Jahr verlebt er in Brüssel. Der Krieg bricht aus. Er eilt nach München, stellt sich freiwillig. Dreieinhalb Jahre steht er in vorderster Front im Westen; sein Söhnchen sieht er zum ersten Male, als er zwei Jahre alt ist. Ende Oktober 1918, acht Tage vor dem unerwarteten Ausbruch der Revolution, desertiert er. Er hat es nicht verschwiegen, das Maß ist voll.
Er verkriecht sich zwei Jahre im Gebirge, in Tölz, dreißigjährig, doch ein alter, kranker Mann. Seine Gesundheit ist zerbrochen, seine Ehe ist zerbrochen, aus "Trotz" schließt es gleich wieder eine zweite, aber auch ihr war keine Dauer beschieden. Und das Handwerk ist es, durch das er wieder gesundet. Er fängt an zu schreinern, schafft sich einen neuen kleinen Hausstand durch eigner Hände Kraft und Fertigkeit.
Jetzt wächst er allmählich in sein Werk hinein. Gleich 1918/19 schrieb er, noch unter dem Druck des Kriegserlebnisses, sein Kriegsbuch: "Nacht!", das sofort von der Presse begeistert aufgenommen, mit Barbusse und Andrejew verglichen wurde und doch heute vergessen ist, weil es viel zu früh erschien. Vieles mußte damals anders gesagt werden, anstatt geformt zu werden. Aus kaum einem anderen Kriegsbuch jedoch spricht so vernichtend der unmenschliche, entmenschende Dreck und Gestank des Krieges. Jetzt folgen "Binscham" und "Yatsuma", zwei seiner gelungensten Bücher. Daneben aber entstehen merkwürdig verschiedenartige Produkte: ein stilvoll märchenhaftes, aber unwahrscheinlich abgeklärtes Kinderbuch: "Holdegluck und Dieterwackl", "Sonette", in denen Reiser sich mit der Zeit auseinandersetzt, wenn auch als ein Prediger in der Wüste, dessen Stimme nicht durchdringt, und eine Komödie "Der Ausflug", nicht unwitzig, psychologisch wahr, nur noch sehr primitiv.
Reiser spürt selbst, wie er auf dem Lande draußen ein wenig sonderlich wird und kehrt in die Stadt zurück. Inflation - er muß noch einmal in die Fron, sehr unfreiwillig; schlägt sich als kunstgewerblicher Zeichner durch, als Fabrikarbeiter. Schreibt sich eine Novelle vom Hals: "Der Verfolgte", die Geschichte seiner ersten Ehe, eine seelische Röntgenaufnahme von beklemmender Deutlichkeit. Versucht als freier Schriftsteller zu leben - es geht nicht! Wieder auf die Walz! In letzter Minute kommt unvermutet ein Romanauftrag: Dreivierteljahr auf Villons Spuren in Frankreich, und der fertige Roman ("Der geliebte Strolch") wird bei Erscheinen mit der Kleistpreisehrung bedacht.
Damals lernte ich Hans Reiser kennen. er wohnte in einem kleinen Atelierzimmer in Schwabing: nächtlich ein Chaos von Wein, Schnaps, Grammophon, Anekdoten, Mädchen, Zigaretten, morgendlichem Kaffee, mit einem vereinsamten Mahnzettel der Ablieferungsfristen von Arbeiten und Aufsätzen am Kleiderschrank, am Tage ein fanatisch ordentliches, sauberes kleines Dachzimmer, hell und durchsichtig, dessen Tür Besucher nur nach vorheriger schriftlicher Anmeldung passieren dürfen. Ich hatte in seiner Gegenwart immer das Gefühl: ein Mensch auf der Suche und dicht vor dem Ziel, er weiß nur noch nicht, wo er es findet. Als ich ihn 1931 in Berlin wieder traf, spürte ich sofort: Reiser hat seinen Lebensinhalt gefunden, seine Lebensform, sich selbst. Inzwischen hatte er die gewagteste und zugleich folgenreichste Weltbummelei seines Lebens gemacht. Anlaß: eine Zeitungsnotiz über eine enorme Erbschaft in Brasilien, die er 1928 in München liest. Er will etwas darüber schreiben, unterrichtet sich ein wenig über Brasilien, Südamerika beginnt ihn zu interessieren, Peru mehr als Brasilien. Nicht lange darauf landet er in Callao, der Hafenstadt von Peru - mit einem Dollar in der Tasche. In einer zwölfmonatigen Fahrt legt er über 5000 Kilometer zu Land und zu Wasser zurück und durchstreift die bisher unerschlossene, weglose Wildnis nach allen Richtungen, photographiert, schreibt, malt und filmt. Er hat seine eigentliche Heimat entdeckt: dort wird er als Farmer siedeln, als Bauer leben und wie seine Vorväter und nicht "schreiben", sondern dichten: nur das schreiben, was ihm drängend am Herzen liegt. Vielleicht bleibt er noch ein Jahr in Deutschland oder zwei, dann soll der endgültige Abschied kommen. Sein Buch "Abenteuerliche Wanderung durch Peru" schildert jene Reise lebendig. Und dorthin zieht es ihn zurück. Er will für immer in den Urwäldern Perus verschwinden.
II.
Noch sehe ich ihn vor mir an jenem Märzabend 1932, kurz vor der Abreise, der zweiten, ins Quelland des Amazonas. Die Kisten waren gepackt, nicht zuletzt mit Maschinen- und Durchschlagpapier, Farbbändern, Schreibmaterial aller Art, Mal- und Foto-Utensilien, denn drüben sollte literarisch und künstlerisch gearbeitet werden, wenn die Siedlung erst fertig sein würde. Es war eine Gruppe von Kameraden, die Reiser um sich versammelt hatte, Auswanderungsbegierige der verschiedensten Sorten, mancherlei Handwerker darunter, wenige Frauen - allzuwenige, wie sich später herausstellen sollte. Die unternehmungslustige Schar hatte noch nicht einmal das Fahrgeld bis Hamburg beisammen, aber war guten Mutes. Und das Wunder geschah: sie ist tatsächlich fortgekommen. Reisers Plan war: eine Gemeinschaft zu bilden, deren Glieder sich ergänzen; in paradiesischer Landschaft von den Früchten zu leben, die in den Mund wachsen, von den Vögeln in der Luft, den Fischen im Wasser und so Zeit zu gewinnen für die Erforschung von Land und Leuten, Zeit für das persönliche Schaffen; ohne Miete, Steuer, Telefongebühren, Garderobe und alle Unkosten des modernen Lebens - frei von Europa.
Anderthalb Jahre später erhielt ich folgenden Brief:
Cahuapanas-Rio Pichis-via Callao-Pto. Bermudez,
Peru, den 25. September 1933
"Lieber Freund Günther!
Ich habe, seit ich fort bin, eine Pechwelle, eine Pechsintflut beinahe ist es, die mich verfolgt und irgendwo hinschwemmen will, und der ich mich mit zusammengebissenen Zähnen und aller Kraft, deren ein Mensch fähig ist, entgegenstemmen muß.
Ich bin allein, Günther! Um aber nicht zu lügen - zwei Hunde habe ich noch - den Papagei hat einer von ihnen gefressen. Es ist eine gefräßige Sache, dieses Leben und diese Welt; und ich selber habe auch einen ganz guten Appetit. Zum Hungern ist es eigentlich nicht, nur daß man manchmal etwas lange unfreiwillig zum Vegetarier wird, wenn Jagd und Fischerei nicht glücken; aber Bananen haben eine unglaublich vielseitige Verwendungs- oder Zubereitungsmöglichkeit. Und in dieser Beziehung kann ich wirklich nicht klagen. Wenn ich noch fünf Jahre bliebe, dann hätte ich alle Lebensmittel im Überfluß, ja sogar schon in zwei Jahren. Aber das soll nicht sein, aus vielen Gründen.
Meine Kameradin hat mich schon Anfang dieses Jahres verlassen. Es wurde ihr zuviel, was ich ihr nachfühlen kann. Man muß gerecht sein, was ich hinter mich habe, war für männliche Nerven schon etwas zuviel. Es waren eben, alles in allem, zu wenig Mittel, die mir halfen.
Es geht etwas durcheinander in dem Brief, eben waren zwei Indianer da, die für mich zum Fischen gehen wollen - und die haben mich aus dem Konzept gebracht -.
Ich habe also meine Pflanzung und mein Haus, ein recht hübsches Quartier, trotz alledem geschafft. Und ich wollte, ich könnte Dir eine Kiste Ananas mitsenden, die eben reif sind - sie sind eigentlich immer reif, je nachdem, wie man sie pflanzt. Rätselhafte, überreiche Erde!
Was aber viel wichtiger ist, ich habe aus alledem noch etwas gebaut, einen Roman: "Der neue Robinson". Und dieses scheint mir ein gutes Werk zu sein. Jedenfalls hat seit dem alten Robinson - dessen Insel gar nicht weit von hier ist - keiner mehr sowas gemacht - ja vielleicht hat Defoe es auch nicht selbst erlebt, sondern nur erzählen hören; wobei er freilich so gut erzählt, daß man es für erlebt nehmen kann. Ich nun habe mehr erlebt und vielleicht weniger gut erzählt. Immerhin aber, wenn alles schief gehen sollte, diese Erzählung habe ich gerettet alsdann. Ich will aber nicht schwarz sehen.
Als also manches schief ging, da setzte ich mich hin und sagte: jetzt erst recht. Und arbeite und arbeite, sende Artikel und Beiträge; das muß mich herausreißen; später auch der neue Roman; und noch ein neuer Plan, den ich Dir noch erzählen werde.
Ja, irgendeinen Vertrauensmenschen, einen Freund sollte ich drüben haben, Günther! Obgleich ich meine Zelte hier langsam abbreche, aber das alles dauert noch sehr lang und wer weiß, wo ich dann hinschwimme. Ich will aber nicht wie so ein Stamm auf den Flüssen hier wahllos dahintreiben, sondern meinem Weg eine Richtung geben und einen Sinn; wie ja mein Hierherkommen auch nicht sinnlos war. Es heißt also jetzt erst recht sich auf die Hinterbeine setzen und sehen und tun, daß man noch halbwegs hier wieder davonkommt und nicht nur die Gegenwart, sondern auch das Künftige damit in eine erträgliche Ordnung bringt.
Ich will hier nun gewisse photographische Aufnahmen vor allem zu Ende bringen, zeitraubend; mein Apparat ist noch dazu kaputt und in Lima zur Reparatur. Das ist unerläßlich notwendig. Dann muß ich meine bei den halbwilden Weißen gemachten Schulden abtilgen. Ist dieses geschehen, dann möchte ich mir ein Floß bauen lassen mit Haus darauf und langsam hinuntertrudeln bis zum Atlantik! Eine interessante Reise, die ich beschreibe und photographiere. Und die Beschreibung dann verkaufe. So kostet mich die Flußreise nichts, im Gegenteil, ich gewinne dadurch, und außerdem verspricht es eine beschauliche ruhige Zigeunerfahrt zu werden. Ein wandernder kleiner Haushalt. Wenn ich also nicht noch weiter Pech habe, sondern auch einmal ein bißchen Schwein, dann könnte ich im Frühjahr loshauen, wenn die Flüsse noch hoch sind. Dann will ich nach Europa. Vielleicht auf eine billige Weise sehen, hinüberzukommen. Will in Portugal-Spanien Unamuno besuchen, um vielleicht die Übersetzung des "Yatsuma" zu erreichen; dann nach Paris zu demselben Zwecke wegen des Villonromans. Will sehen, was aus alledem wird.
Ja, lieber Günther, es ist nicht so, daß ich großartig davonlaufe und dann klein und häßlich heimkomme. Sondern es ist mir eben allzuviel fehlgegangen, ohne daß ich eine andere Schuld sehe, als meine allzu naive Vertrauensseligkeit.
Ich werde wohl doch einmal die Ruhe und den Platz finden, den ich für die Arbeit brauche. Ich suche ehrlich das, was mir drüben in der Großstadt fehlt, den Boden; und suche ihn noch. Es geht hier nicht, wie ich habe lernen müssen, wegen der unmöglichen Postverhältnisse; denn ich muß ja, wenn ich auch noch so sehr in einen Winkel krieche, dennoch die Verbindung haben, die Verbindung mit der Heimat, mit der Kultur, mit Menschen.
Außer den Indianern gibt es hier niemand, der so anzusprechen wäre. Sie allein haben, schweigend, ein Mitgefühl mit dem Einsamen im Walde.
Und nun bin ich, mich freuend auf Nachrichten von Dir, und Dich grüßend von Herzen Dein Freund
Hans Reiser
Nach zwei weiteren Jahren, im Herbst 1935, kam Reiser in Hamburg wieder an. Und wieder fehlte das Fahrgeld bis Berlin. Er war lange und schwer in Brasilien erkrankt, die Postverbindung war immer wieder unterbrochen, nur mit Mühe fand er einen Weg zur Heimkehr. Reiser war noch magerer als früher und völlig mittellos. Das Unternehmen war gescheitert. Aber er hatte Manuskripte bei sich, farbig und kompositorisch prachtvolle Aquarelle, ethnographisch genau und doch stimmungsvoll, auch vorzügliche Zeichnungen. So hatten Wort und Bild den Urwald eingefangen, sein wahres Gesicht. Die Verwertung war schwieriger, als gedacht, es gelang ihm nur mit großer Mühe, Fuß zu fassen. Der Kampf um das tägliche Brot ging weiter.
Einige Jahre blieb er in Berlin, und er wäre nicht der Schwabinger auf Lebenszeit gewesen, hätte er nicht versucht, mit Künstler-Stammtischen, Binscham-Bällen und Hiddensee-Kostümfesten ein wenig Farbe in die Nöte des Alltags zu bringen. Dann zog er sich nach Oberbayern zurück, es wurde stiller und stiller um ihn, und obwohl er immer wieder helfende Hände suchte und auch fand, so schwer er es denen, die es gut mit ihm meinten, oft machte, ihm treu zu bleiben, der keine Streitigkeit kannte, auch nicht im Menschlichen, und dessen Unbeständigkeit fast alle Bande selbst zerstörte - zuletzt war es fast ganz allein. Lange saß der Keim tödlicher Krankheit in ihm, dann brach er aus und verzehrte quälend langsam den Körper. Seit Hauptwunsch war, noch viel zu malen. Es sollte ihm nicht mehr vergönnt sein; die erkrankten Hände versagten den Dienst. Im August 1946 meldeten einige spärliche Zeitungsnotizen, er sei in einem Münchner Krankenhaus gestorben.
Peru hat ihm den Tod gebracht. Aber alles, was er nach jenem zweiten dreiundeinhalbjährigen Aufenthalt in Südamerika noch geschrieben hat, galt diesem Erdteil, in dessen Inneres er eingedrungen war wie wenige Weiße. "Einer ging in die Wildnis", "Das Auge der Göttin", "Shiri Kaipi vom Amazonas", "Indios" - alle diese Bücher sind Robinsonaden, aus unmittelbarer Anschauung geschöpft, mit Maleraugen gesehen, frisch, unpathetisch, unterrichtend, Erlebnisberichte und Poesie zugleich. Grundthema blieb: Zivilisation oder Wildnis, und es geht dabei nicht ab ohne Ironie, Satire, Anklage gegen die "Kultur", freilich auch nicht ohne Heimweh auf fremder Erde. Fernweh hatte Reiser zweimal in den grünen Himmel hinübergetrieben, Heimweh trieb ihn zweimal aus der grünen Hölle zurück. Beides lag untrennbar in ihm, jagte den unrastigen, zerrieb ihn, Reiser war einer der wenigen deutschen Weltfahrer der neueren Literatur, und er hat in aller Armut reiche Ernte heimgebracht, auch das Zarte in sich nicht verleugnet und nicht den Alles überwindenden skurilen, oft jungenhaften Humor. Man lernt ein Stück Südamerika kennen, wenn man diese Bücher liest: wirtschaftlich, politisch, kulturell, völkerpsychologisch. Sie sind sachlich und persönlich; duftig und wild; immer anschaulich, immer originell; in der Form ungleich. Seine dichterische Leistung ist sein Jugendwerk.
III.
Es besteht aus drei Romanen: "Binscham, der Landstreicher", "Yatsuma, eine Donquichoterie aus Schwabing", "Der geliebte Strolch, ein Gaunerroman" - schon die Titel geben einen Begriff. Die Helden aller drei Bücher sind Vagabunden. Aber sehr verschiedenartige.
Binscham ist ein blutjunger Kerl, strotzend von Kraft und Übermut, Raufbold, Witzbold und Eulenspiegel. Streiche, Schwänke, "Narreteien und Affenstücke" sind sein Tagwerk, und zur Nacht ist er gleichfalls nicht faul. Doch der Hitzkopf und Händelsucher, der Schädel und Nasenbeine zu Dutzenden bricht, bricht kein Herz. Binscham ist Adam vor dem Sündenfall. Er genießt in vollkommener Unschuld, denn er ist Natur. Und diese Unschuld macht seine Rauheit keusch. Binscham ist oft derb, aber nie roh, und vor dem rechten Weibe werden seine Hände sanft. Keine hält ihn, aber jede beglückt ihn, wie er jede beglückt. Noch das süßeste, innigste Erlebnis im "Gartenhaus" (eine der schönsten Liebesgeschichten des heutigen Schrifttums) bleibt eine kurze Begegnung, denn Binscham wünscht, "sich in die Fremde zu verlieren wie ein Regentropfen, der ins Meer fällt". Binscham muß wandern.
Auch Yatsuma muß wandern. Aber Binscham wandert als Heide, Yatsuma als Christ. Binscham kennt kein Gewissen. Yatsuma wird von seinem Gewissen getrieben. Binscham ist der Strauchritter, Yatsuma der Asket der Landstraße. Binscham ist Fleisch. Yatsuma ist Geist. Yatsuma heißt eigentlich Deschl und ist in Schwabing zu Hause. Sein Leben ist eine Reise auf tausend Wegen um München herum, für ihn aber führt jeder Weg durch einen anderen Erdteil. Er ist ein verrückter, wunderlicher Heiliger, ein "Idiot" wie Dostojewskijs Fürst Myschkin. Sein Mund spricht die Weisheit des Narren. Er predigt Baum, Wolke, Mensch und Tier: ein neuer Franziskus. Er predigt: "Ich habe nichts dagegen, daß der Mensch Besitz hat, ich sage aber wohl etwas dagegen, daß der Besitz ihn hat". Der "geschworene Liebhaber des Verzichtes, der Entbehrung und der Sorglosigkeit um Dinge, die ihm wertlos sind, sammelt aufreibende Erlebnisse und unsinnige Anstrengungen, Katastrophen und Gefahren, wie andere Menschen Grundstücke und Pfandbriefe sammeln", es lebt vom Hunger, aber seine Idee hält ihn trotz allen Spottes, Hohnes und aller Prügel aufrecht auf seinen langen schwankenden Beinen, die Idee einer Beschwörung der blinden Menschheit, aufzuschauen zum Licht.
Der "geliebte Strolch" ist Binscham und Yatsuma zusammen und noch mehr dazu. Das Buch trägt die Widmung: "Meinem Freund, dem großen Dichter und armen Spitzbuben Francois Villon, geboren 1430 bei Paris, verschollen und gestorben unbekannten Jahres." Es ist zunächst Villons Biographie, verfaßt von einem, der sein Leben mit ihm geteilt hat: Franz Villon und Hans Reiser sind Kumpane, der Dichter und sein "Zwillingsbruder" vor 500 Jahren sind eins, und damals ist heute. Das ganze Mittelalter ist darin mit seinen Kapellen, Gassen, Fürstenhöfen, und dazwischen stehen Trambahnschuppen, Tankstellen, Telephonleitungen, und von Eisenbahnunglücken ist die Rede und Preisboxern. Die Biographie steigt auf zu einer phantastisch-realistischen Vision vom Vagabunden. Dieser "geliebte Strolch", Elendsbruder, Leuterupfer, Kirchenräuber, Einzelgänger, Bandenführer, dieser Galgenvogel, Wüstling und Poet, dieser Grenzenlose ist "ein ganz einfacher, schlichter Mensch, ein Mensch mit einem Herzen wie ein kleines Mädchen".
Die Form der drei Romane zeigt dieselbe Einheit wie ihre Menschen, ihr Gehalt. Die Form ist die Anekdote. Jedes Buch zerfällt in eine Anzahl einzelner kurzer Stücke, und im Einzelnen lebt das Ganze. Diese Stücke sind lustig oder traurig, still oder laut, frech, fromm, witzig, klug, melancholisch, heiter - immer erzählt eine gesunde, klare Sprache, die viel verschweigen kann und doch beredt ist.
IV.
"Wenn irgendwo ein klassischer Zeuge dafür lebt, daß Innenleben und äußeres Dasein eine unzertrennliche Einheit sind, so ist es der Vagabund", sagte Reiser einmal. Damit hat er, der diese Einheit verkörperte, selbst schon früh das Wort gefunden, das ihn am ehesten bezeichnet: er war ein vagabundischer Mensch. Vielleicht hat jeder bedeutende Mensch einen vagabundischen Zug, wenn man darunter, wie Reiser, verstehen will: "Tiefe innere Unruhe, Rastlosigkeit, Einsamkeit der Seele und des Blutes, Sehnsucht nach dem Vollkommenen und Unerreichbaren". Bei Reiser machte das Vagabundische sein ganzes Wesen aus. Es war sein Schicksal.
Der Vagabund in der Dichtung ist so alt wie der vagabundische Dichter. Schon Odysseus war ein Vagabund. Der Enkolp des Petronius, Cervantes' Don Quichotte, Grimmelshausens Simplizissimus, Dofoes Robinson, Eichendorffs Taugenichts, Chamissos Schlemihl, Gaudys Wandernder Schneidergeselle, de Costers Ulenspiegel - sie alle sind Vagabunden.
In Frankreich heißen die vagabundischen Dichter Villon, Verlaine und Rimbaud, in Rußland Gorki und Ljesskow, in England Stevenson und Kipling, in Amerika Walt Whitman und Jack London. Norwegen hat Hamsun, der später die "Landstreicher" schrieb, die Tschechen besitzen Jaroslav Hasek, die Deutschen, in jüngerer Zeit, Peter Hille, das Genie des Fragments, und Ringelnatz.
Der Jüngste war Reiser. Niemand von seinen Vätern und Brüdern im Geist wird sich seiner geschämt haben, als er, aller Erdenlast entledigt, zu ihnen emporfuhr ins himmlische Reich der Vagabunden und Poeten.
Herbert Günther
In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift. 2. Jahrgang 1947, S. 129 - 133. Drei Säulen Verlag
siehe auch den Wikipedia Artikel zu Hans Reiser
Der Nachlass soll sich in der Münchner Stadtbibliothek finden lassen. Zumindest gibt es hier einige seiner Werke zu finden.
Für Jo Mihaly mit einem herzlichen Gruss
Ich bin der Wind
der über Felder weht,
der hier sich verfängt
und dort mal stille steht...
und wieder weiter weht.
Ich bin die Wolke
die über Wälder zieht,
die der Sturmwind peitscht
und die im Abend glüht...
und wieder weiter zieht.
Ich bin der Fluß
der über Ufer schäumt,
der Ernten zerstört
und in der Sonne träumt...
in wieder weiter schäumt.
Ich bin der Mensch
der ohne Maß und Ziel
sein Leben verbraucht,
und der dem Segen einhaucht,
was dem Fluch verfiel...
aus: Klaus Trappmann: Landstrasse, Kunde, Vagabund. Berlin 1980, S. 270.
Informationen über Helmut Klose
(...) Ein Landstreicher, wegen Vagabondage und Bettelei vor Gericht gestellt, antwortete auf die Frage des Richters, ob er etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen hätte, folgendermaßen: "Ich bin die notwendige Entsprechung zu einem Milliadär", sagte er überlegen grisend; der Richter verstand ihn ausgezeichnet, brüllte "Frechheit" und verurteilte ihn zu drei Wochen Gefängnis.
Was war denn nach der Meinung des Richters an der überaus kurzen, klaren und darum - so meinen wir - preiswürdigen Verteidigungsrede des Landstreichers frech?
Frech war, daß dieser halbverhungerte, verlauste Habenichts sich erlaubte, mit acht Worten (und Gegrinse) die bestehende Ordnung über den Haufen zu werfen. Mit ein paar Worten - und dabei hatten Generationen solcher Männer, wie er, der Richter, einer war (jeden Morgen frisch gebadet, tadellos rasiert, satt, vermögend, religiös, in guter, nicht zu anstrengender, aussichtsreicher Stellung) daran gearbeitet, diese heilige Ordnung aufzurichten und für die Ewigkeit zu preparieren. Und nun... "Frechheit!" Frechheit!"
Den nächsten Landstreicher, der drankam, verknackte der Richter zu nur drei Tagen. Der wußte nähmlich nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen.
Nachher trafen sich die beiden Verurteilten, die einander im Gerichtssaal zum ersten Mal gesehen hatten, in der Gefängniszelle. "Sag mal", sagte der mit den drei Tagen Knast zu dem mit den drei Wochen: "Ich hab dich vorhin, glaube ich, doch nicht so recht verstanden. Was hast du dem eigentlich sagen wollen?"
"Nun", sagte der mit den drei Wochen Knast, "eigentlich wollte ich ihm eine richtige Rede halten. Aber dann dachte ich, je kürzer um so besser, und außerdem ist es für unsereinen nicht gut, mit leerem Magen zu reden - da packt einen doch gleich die Wut. So hab ich ihm nur den Schlußsatz mit geziehmendem Anstand in die Visage gespuckt. Aber dir kann ich die Rede ja halten."
Die gedachte Rede.
"'Hohes Gericht', hatte ich vor zu beginnen, 'ihr Beruf ist, zu richten und zu strafen. Mein Beruf ist, durchs Land zu stromern und zu betteln. Ohne mich gäbe es Sie nicht. Oder - was wahrscheinlich ist - umgekehrt? Bin ich, weil Sie sind? Gesellschaftsordnung nennen Sie das. Schöne "Ordnung", solange es uns gibt. Zehntausende meiner Sorte. Was reden Sie vom "fauligen Sumpf, in dem ich stecke"?
Natürlich sind wir im Sumpf. Es gibt noch allerhand andre Sümpfe, Herr Richter. Haben Sie etwa die Sümpfe geschaffen? Denken Sie darüber nach. Ich für meinen Teil halte dafür, dieselben Leute, die das Korn auf dem Halm faulen lassen, lassen auch Menschen faulen, wenn es ihnen paßt. Daher kommen die Sümpfe. Sie nennen mich einen Lumpen. Natürlich bin ich ein Lumpen, ein ausgewrungner, zerfetzter und auf die Straße geworfner Lumpen! Sie haben recht. Ihre Gesellschaftsordnung fabriziert erstaunlich viel Lumpen, Herr Richter! Hoher Gerichtshof: Sie sagten, es sei uns ein 'ausgesprochenes Vergnügen, zu betteln'. Erstaunlich, muß ich dann schon sagen, daß Ihre Millionäre, die sich sonst doch kein Vergnügen entgehen lassen, an unsern 'Vergnügen' nicht teilnehmen? Etwa die Krupps und Klöckners und Fords und Rockefellers in aller Welt. Oder Sie selbst. Glauben Sie mir - wir würden den Krupps und Ihnen alle 'Vergnügen der Landstraße' mit großem Vergnügen überlassen. Wirklich. Sie sagten, Ihre Aufgabe, die Aufgabe des Gerichts, sei die Wahrheitsfindung. Nu - hier haben Sie die Wahrheit.'" schloss der Landstreicher die gedachte und nicht gehaltene Rede. So geschehen im Sommer des Jahres 1927 in einer deutschen Provinzstadt. (...)
Ausschnitt aus: Gregor Gog: Die Landstrasse auf dem Weg zur Organisation. Die 'Internationale Bruderschaft der Vagabunden'. Geschrieben: Moskau 1936;
publiziert in: Trappmann, Klaus (Hrsg.): Landstraße, Kunden, Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Berlin: Gerhardt Verlag 1980, S. 223f.
Die Gesellschaft, vertreten durch ihre Behörden, spricht von ihrer Fürsorge. Das Gesetz sorgt für sich, für die Gesellschaft, für die Satten, damit die Opfer ihrer Tyrannis ihnen nicht nahe an den Leib rücken. Ihre "Fürsorge" ist Polizistenhumanität! Ist "Vorsorge"! Sie treiben "Fürsorge", d.h. treffen Vorsorge, dass ihre Türme nicht umfliegen, durch die sie aus der irdischen Welt eine einzige große Kaserne machen.
Die tugendfreien Spießer sprechen von den Vagabunden als einem arbeitsscheuen Gesindel. Was weiß diese Gesellschaft vom Weg und Ziel der Landstraße?
Am Anfang jeden wesentlichen Werkes steht die Erkenntnis von den Dingen. Die Kunde, der Vagabund aber ist es, der auszieht, sie zu bringen! Seine Aufgabe ist in dieser Welt nicht die spießbürgerliche Arbeit. Diese Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung, wäre Arbeit an der bürgerlichen Hölle! Sklavendienst zum Schutze und zur Erhaltung der Unterdrücker! Der Kunde, revolutionärer als Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen:
Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglich Generalstreik!
Nur durch einen solchen Generalstreik ist es möglich, die kapitalistische, "christlich" kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!
Aufruf Kongress der Vagabunden 1929 Stuttgart
Quelle: Künstlerhaus Bethanien (Hrsg): Wohnsitz: Nirgendwo – Vom Leben und vom Überleben auf der Strasse, Verlag Fröhlich und Kaufmann, Berlin 1982
Ein Vortrag in der Wärmestube Schöneberg
Endlos ist der Zug der Heimatlosen. Von einer Stadt zur anderen, zwanzig, dreißig, vierzig Kilometer am Tage, heute in einem Stall, morgen bei Mutter Grün, übermorgen in einer verlausten oder verwanzten Penne schlafend, zieht dieses Heer in wachsenden Kolonnen durch das Land.
(Aus dem Tagebuch eines Wohlfahrtsdezernenten, Berlin 1932)
Gerammelt voll war die Wärmestube Schöneberg, Hohenstaufenstraße 22, ein Projekt des Unionhilfswerks in Berlin. Ein interessiertes und gut informiertes Publikum hatte sich da versammelt, um den Sozialarbeiter Hannes Kiebel aus Bochum anzuhören, der am Mittwoch, den 15. Februar, einen Vortrag zum Thema: Nachtasyle, Wärmestuben - Obdachlose in den 20er Jahren hielt.
Im Jahre 1958 weilte der damals 22jährige im Rahmen eines sozialen Praktikums für drei Monate in Berlin. Damals nächtigte er im Johanneshaus in der Stresemannstraße, nebenan waren die Pennerzimmer.
Er lernte in der Kneipe Bella Bimba Eddi aus Köln kennen, mit dem er so einiges anstellte. Durch Eddi wurde er zum ersten Mal mit Problemen der Obdachlosigkeit konfrontiert, und seitdem ließ ihn das Thema Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit nicht mehr los.
In drei Zeitabschnitte teilt er seinen Vortrag ein: 1918 bis 1924 - Revolution; 1924 bis 1928 - Stabilisierung und Festigung; 1928 bis 1933 - Massenarbeitslosigkeit, Stagnation, Diktatur.
Massenhafte Not
"Berlin trug damals noch den Stempel des verlorenen Krieges," zitiert Kiebel Carl Zuckmayer über das Berlin der 20er Jahre, "Blindgeschossene und Beinlose prägen das Stadtbild, so wie sie Grosz und Dix gemalt haben."
Demobilmachung und massenhafte Not kennzeichnen nach dem Ersten Weltkrieg die Straßen der Stadt. Acht Millionen Soldaten müssen Arbeit finden. Frauen, die früher Positionen in Männerberufen hatten, müssen diese jetzt wieder räumen.
Schon der außerordentlich kalte Winter 1891/92 lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die unbemittelten Arbeitslosen der grimmigen Kälte schutzlos preisgegeben sind. So wurde das Komitee der Wärmehallen e.V. in Berlin gegründet, das unter bzw. in den vier S-Bahnbögen nahe dem Bahnhof Alexanderplatz Wärmehallen unterhielt.
Wärmestuben als Meldeadresse
Die Reichsfürsorgepflichtverordnung versucht 1924 die rechtliche Diskriminierung von Hilfesuchenden aufzuheben. Es wird zum ersten Mal eine Fürsorgepflicht staatlicherseits für diese Menschen anerkannt. Verantwortlichkeit wird aber nach wie vor durch Zuständigkeit bestimmt. Wer nicht polizeilich gemeldet war, bekam keine Unterstützung, keine Lohnsteuerkarte. Hier halfen manchmal die Wärmestuben: Sie fungierten als Meldeadresse.
Seit 1871 ist im damaligen Reichsstrafgesetzbuch Betteln und Landstreicher unter Strafe gestellt. Jeder Mensch mußte nachweisen, daß er sich um eine Unterkunft bemüht hat. Im Kern ist dieses Gesetz erst 1974 aufgehoben worden. Wer zum Beispiel in der Nachtunterkunft Platz suchte, durfte sich hier fünf Tage aufhalten, bekam eine warme Suppe. Danach wurde er verwarnt, weitere Obdachlosigkeit hatte Haftstrafen zur Folge.
Im Berlin der 20er Jahre gibt es Niedere Herbergen, Wanzen-Herbergen, Kaffeeklappen, Herbergen christlicher Stiftung und Häuser der Heilsarmee. Seit 1908 gab es Kaffeehallen. 1927 zählt man mehr als 60 Wärmehallen.
Im Wedding verpachtete der Berliner Asyl-Verein 1920 die "Wiesenburg" von 1896 an die Jüdische Gemeinde, 1926 an den Berliner Magistrat; 1931 wird diese soziale Einrichtung geschlossen.
Hundert Jahre wird die Wiesenburg nächstes Jahr alt, und dieses Jubiläum soll gefeiert werden. Ein Schild am Beamtenhaus erinnert an die 1931 geschlossene Wiesenburg, deren äußere Erscheinung ein wenig einer Synagoge in Danzig ähnelte.
Auch das Bodelschwingh-Haus wird besonders erwähnt, ein Haus, das 1929 etwa 360 bis 390 Plätze anbot.
Multimedialer Vortrag
Ein Hauch von Romantik zieht durch den Raum, als Dias gezeigt werden, Bilder von Otto Nagel, Käthe Kollwitz, Heinrich Zille, Otto Dix und anderen. Eindrucksvoll beschreiben sie Armut und Obdachlosigkeit.
Auch ein Videofilm mit einem Ausschnitt aus einem Film von 1931 über ein Obdachlosenasyl verdeutlicht, wie es war: Kleider wurden vor dem Schlafengehen desinfiziert, jedes Bett hatte eine Nummer.
"Keenen Sechser in der Tasche" - das Eislersche "Stempellied" fehlte auch nicht in diesem multimedialen Vortrag.
Besonders interessant: Der Begriff "nichtseßhafter Mensch" stammt von dem SA-Standartenführer Alarich Seidler (1938) und wird bis heute verwendet. Oder: Wer wußte, warum das "Nasse Dreieck" so heißt? Man geht solange um den dreieckigen Häuserblock, bis man "naß" (betrunken) ist. Der Roman "Das nasse Dreieck oder: Die weiße Taube" von Otto Nagel ist sehr lesenswert und beschreibt nicht nur dessen Stammlokal "Der alte Fritz", sondern auch das Milieu der Menschen im Wedding der 20er, 30er Jahre.
Ein kleines Hörfunkbild schließt den Vortrag ab: Razzia 1933. Systematisch wird Straßenzug für Straßenzug durchsucht. "Warum haben sie keinen Ausweis?" Auf diese harsche Frage stottert die Antwort: "Ich wollte bloß den Paß verlängern, ... wohne schon dreißig Jahre hier... " Ab in die Polizeidienststelle! "Nebeneffekt", laut Sprecher dieser Aktion: Auch Politische konnten so gefunden werden.
Ab 1934 hört jede Fürsorge für Obdachlose auf. "Der Deutsche hungert nicht!" Es gibt natürlich die Möglichkeit, in die SA zu gehen; hier wurde man versorgt. Häufiges Schicksal für Obdachlose und Hilfsbedürftige ist ansonsten das KZ.
Nachdenklich verläßt man die Räume in der Hohenstaufenstr. Am Ende des Vortrages hat Hannes Kiebel noch Fragen aus dem Publikum beantwortet. Die Wärmestube will wieder solche Abende veranstalten, im April unter anderem mit dem Poeten Heiko André Meyer und dem Schriftsteller H.P. Daniels. Hingehen lohnt sich!
Maren Cronsnest
(erstmals veröffentlicht im Schöneberger Stichel. Stadtteilzeitung für Schöneberg und Friedenau, Ausgabe Nr. 106 vom März 1995, S. 5)
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Jonny G. Rieger (1908 - 1985)
Warum Jonny G. Rieger? - In den Gesprächen auf der Straße mit Wohnungslosen konnte ich den Satz gelegentlich hören: "Was ich alles erlebt habe, darüber könnte man ein Buch schreiben!" Es bleiben in der Regel ungeschriebene Bücher. Bei genauerem Hinsehen sind es nicht wenige, die über ihr Leben auf der Straße geschrieben haben. Einer von ihnen ist Jonny Rieger.
1908 in Berlin-Wedding geboren, kommt mit Kriegsbeginn 1914 in die Schule, "ewiger Kampf gegen kriegsverrückte Lehrer", danach Ausbildung als Metallbildhauer "im Grunde ein feiner Beruf", anschließend arbeitslos, seit 1926/27 auf der Straße. Reiste 1931 als Reporter der 'Arbeiter Illustrierten Zeitung' um die Welt, arbeitete in verschiedenen Berufen. Emigriert 1932 über Frankreich, Spanien, Luxemburg, Holland und Schweden nach Dänemark: Lebt dort bis zu seinem Tod 1985. Artikel, Reiseberichte, Erzählungen und Romane in deutscher und dänischer Sprache.
Gregor Gog schreibt über ihn:
"Ein armer Schlucker von Landstreicher war er, der an keinem Morgen weiss, wo ihn die kommende Nacht vervirgt. Gesetz war ihm ein Stück Brot für den Tag; im übrigen: Augen auf! Die Tage umblättern wie die Seiten eines Buches und kein Wort verlieren von dem, was das Leben jeden Tag neu in dieses Buch hineinschreibt. Schön war die Erde! Und schön war das Leben! Aber die Menschen hausten darin wie Verrückte in einer Irrenanstalt. Wer - alle? Wer waren die Architekten dieser Irrenanstalt? Dieselben, die Hunderttausende und Millionen Menschen auf die Strasse spucken wie - wie Rotz? Augen auf, Jonny! Das muss man auskundschaften! Jung war er, anfangs der Zwanziger; dreimal waren wir uns seither begegnet. Die gierigen Augen sagten: "Ich fress dich." Aber das war nicht so schlimm gemeint. Der da ein- und zweimal vor mir sass, konnte noch lachen wie ein Junge. In der Rocktasche trug er, statt Brot, Gedichte. Worte und Sätze standen da, die wie helle Hammerschläge an ein verriegeltes Tor klopften: "Aufgemacht!""
Hier gehts zur Bibliografie und hier zum Nachlaßverzeichnis.
Jonny Rieger sagt von sich selbst:
"Als ich achtzehn bin, brechen Wandertrieb und der ewige, ungestillte Hunger nach dem Leben endgültig und unaufhaltsam durch-: Vagabund, Landstraße.Wieder und wieder Landstraße. Der Beruf taugt nichts. Nicht eine Brotkrume ist er wert, trotz dem Prüfungsprädikat "Sehr gut", trotz dem "Preussischen Staatspreis" bei einer Ausstellung von Berufsarbeiten, trotz dringenden Empfehlungen an die Akademie der Künste. Alles einen Dreck wert. Das Kunsthandwerk verludert - die Werkstätten wurden geschlossen. K-r-i-s-e! K-r-i-s-e! Also: immer nur Gelegenheitsarbeit. Immer wieder Arbeitslosigkeit, immer wieder Hunger, Mittellosigkeit, Obdachlosigkeit, Bettler, Vagabund. Und weiter, immer weiter unterwegs: Hunger nach Brot und nach dem Leben dieser Welt. Und so viel gemordete Sehnsucht und Liebe...
So - so wars; und alles das war ich. Und dabei habe ich gelesen und gelernt, gelernt und gelesen und aus der Überlast des Erlebens zu begonnen: Artikel, Skizzen, Reportagen, Kurzgeschichten, Novellen. Nicht viel; sehr langsam, sehr wenig, sehr sparsam und kritisch."
Und ein Rezensent urteilt über Riegers Roman "Mein Leben gehört mir!":
Im Unterschied zu zahllosen Romanen, die zuerst ermüden und dann langweilen, beginnt Riegers autobiographischer Roman zugegeben etwas schleppend, vermag aber zunehmend den Leser zu fesseln. Ich empfehle dieses Buch: Die dort gestellten Fragen, die dort geschilderte Auseinandersetzung haben nichts an Aktualität verloren.Er beschreibt, was er erlebt, sieht und wahrnimmt, was er tut und was ihm passiert, er sagt, was er denkt, was ihn bewegt und was ihn verfolgt und ihm Angst macht. Seine unspektakuläre, klare, ungekünstelte Sprache ohne gewährt Einblicke in die ganze Komplexität seines Innenlebens, seiner Gefühls- und Gedankenwelt, den Beweggründen seines Unterwegsseins im Niemandsland. Sentimentalitäten oder romantische Verklärungen des Lebens auf der Straße kommen erst gar nicht auf.
Es ist eine echte Alternative zu den zahlreichen Produkten auf dem literarischen Markt, bei denen die Autoren sich in eine ihnen fremde Realität hineinschummeln, um ihr schriftstellerisches Gestümper mit dem billigen Schein gelebter Autentizität zu vergolden. Ganz anders Rieger: Indem er über sein Leben auf der Straße schreibt, wird er damit fertig - ohne je damit fertig zu sein. Bei alledem bleibt Rieger unbequem, und das beschreibt die Faszination, den dieses Buch ausübt:
"unsere Welten waren so verschieden. Ich watete im Morast herum, und er schwebte über den Wassern. Wenn ich zu dem realen Grund der Dinge kam, dann kletterte er schon wieder auf einer Himmelsleiter in überirdischen Dimensionen herum. Ich holte ihn wieder herunter, und alles begann von vorn. Alles bekam einen tieferen Untergrund oder einen höheren Übersinn, wenn er es betrachtete. Wenn ich vom Hunger sprach, meinte ich den Hunger. Er meinte - "ein Stadium harter Prüfungen, die erlösenden Einfluß auf die geistige Durchdringung ausübten, um die ethischen Fähigkeiten des Menschen fördernd zu durchdringen."
Er beschreibt, was Wohnen auch sein kann: Der Tod auf Raten in den eigenen 4 Wänden. Es ist ja so: Was wir von den sog. "Betroffenen" erwarten, sind Einblicke in die Lebenssituation - wie es wirklich ist - und wie "es dazu kam". Jonny Rieger fasziniert, weil er sich gegen jedes Schema stellt:
"Mein Leben gehört mir - und niemand soll darüber bestimmen, sich da reinmischen oder darin rumpfuschen, keiner dieser Kerle mit oder ohne Uniform, kein Staat, kein Gott. Unser Schicksal gab uns keinen Kredit. Wir gerieten ins Niemandsland der Kastenlosen. Wir wurden Parias, heimatlose Nomaden und vaterlandslose Rebellen."
Im Zeitalter der Computergesellschaft wird genau das Thema des Nomadentums wieder thematisiert: Das kann kein Zufall sein! Und genau aus diesem Grund - so meine These - ist Rieger aktueller als jemals zuvor.
Wer mehr über Jonny Rieger wissen möchte, sollte in diesen WWW-Seiten nachschauen. Wer es etwas sinnlicher möchte, kann im Ausstellungskatalog zu "Wohnsitz: Nirgendwo" nachschlagen. Dort finden sich auch noch Abbildungen einiger seiner Artikel und Fotos. Und hier sollte es demnächst auch mehr geben...
Berlin, Januar 2008,
stefan schneider