Edito
Der große WYGOTSKIJ prägte einmal den Begriff von der "Tätigkeit in der Zone der nächsten Entwicklung". Er meinte damit den engumgrenzten Bereich zwischen den endlosen Variationen des gegenwärtig Gekonnten und Erreichten einerseits und der vollzogenen (Selbst)Überschätzung mit den Resultaten Überforderung, Überlastung, Resignation und letztendlichem Stillstand oder gar Rückzug andererseits. Allein in diesem Raum, der wohl nie genau beschrieben werden kann, weil er so relativ ist, sei, so die darin enthaltene Aussage, ein relevantes, beständiges und stabiles individuelles als auch gesellschaftliches Vorwärtskommen möglich. Alles andere ist vorübergehend, schöner Schein und letztendlich Selbstbetrug.
Ein Jahr Aufruhr ist ein Anlaß, einmal kritisch zu bilanzieren: Was war denn konkret an Tätigkeit und an neuer Qualität... Präziser gefragt: Beweg(t)en wir uns denn - das gilt sowohl für Einzelne als auch für das Projekt selbst - in dieser "Zone der nächsten Entwicklung"?
Dies zu bewerten, ist nicht in erster Linie unsere Aufgabe - aber trotzdem wird sich an dieser Frage entscheiden, ob wir als Selbsthilfeprojekt dauerhaft erfolgreich sein können. Und ergänzend dazu thematisieren wir denn auch rückblickend in dieser Ausgabe: Was tut not, um herauszutreten aus dem Zustand entwürdigender Obdachlosigkeit? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit jemand von sich sagen kann: Ich bin nicht mehr auf der Straße, ich bin nicht mehr obdachlos?
Ich meine, wir haben einiges bewegt und werden weiter bewegen. Aber lesen und urteilen Sie bitte selbst.
Wie auch immer: Obdachlosenprojekte wie mob e.V. und strassenfeger sind (gesellschaftliche) Tätigkeit und noch immer in (der Zone der nächsten) Entwicklung - auch wenn einer motzt!
In diesem Sinne
Stefan Schneider
Wohnen und Arbeiten im neuen Projekt
Seit Ende November sind sie im vollen Gange, die Arbeiten am Haus in Hebstahl. das ehemalige Wohn- und Werksgebäude wurde vom Selbsthilfeförderverein Arbeit und Wohnen, Mitherausgeber der “Strassenzeitung” gekauft und soll nun als erste eigene Immobilie des Vereins seine Ziele, bedürfnisorientiertes Arbeiten und Wohnen, verwirklichen.
“Schaffe, schaffe, Häusle baue...”, nicht so ganz, aber “Häusle renoviere und umbaue” ist derzeit Alltag für die künftigen Bewohner. Das Haus in Hebstahl, neues Projekt des Looser-Bauprogramms im Odenwälder Sensbachtal, auch Tal der Liebe genannt, wird in bezugsreifen Zustand gebracht. Tapeten werden runtergeholt, renoviert, tapeziert, gestrichen und vieles mehr. Jetzt beginnen auch die Handwerker mit den ersten Arbeiten, Wände müssen versetzt, Elektro- und Wasserinstallationen verlegt werden.
Die Arbeit entpuppt sich wie so oft als wesentlich mehr wie auf dem ersten Blick geahnt, es fehlt an vielem. Dennoch, bis zum Jahreswechsel sollen die ersten beiden Wohnungen zumindest bezugsbereit sein.
Edith und Joseph, zur Zeit tagtäglich mit Kleister, Pinsel, Hammer oder Bohrer tätig, werden die ersten Bewohner des Hauses sein. Beiden soll die neue Stätte nicht nur Wohnraum sondern auch Arbeitsplatz bieten.
Edith kam vor etwa vier Jahren zum Selbsthilfeförderverein Arbeit und Wohnen. Sie war damals von Obdachlosigkeit bedroht, gähnende Leere in Portemonnaie und Kühlschrank. Nachdem Edith jahrelang in ihrem Beruf als Erzieherin in Behinderteneinrichtungen gearbeitet hatte, fiel es ihr schwer mit der neuen Situation der Arbeitslosigkeit und vorallem mit den damit verbunden Behördengängen klarzukommen. Auch kannte sie im Odenwald keinen Menschen, war es doch der neue Job, weshalb sie hierher gekommen war. Das Arbeitslosengeld ließ ewig auf sich warten, aus welchen Gründen auch immer, das Sozialamt wollte nicht zahlen, die Wohnung war zu teuer, das alte Argument. Als schließlich gar nichts mehr ging wandte sie sich an die Diakonie, die wiederum vermittelte sie an den Selbsthilfeförderverein.
Edith bekam eine vom Verein angemietete Wohnung im Rahmen des Sozialsatzes, die Sache mit dem Arbeitslosengeld lief schließlich an. Im damaligen Trödelladen des Vereins half sie zunächst aus, für einige Zeit führte sie den Laden dann selbst, bis sie das Arbeitsamt in eine dreimonatige Maßnahme öabrief mit der Folge daß sie im Anschluß wieder arbeitslos und der Laden anderweitig besetzt war. So ganz ohne Job entpuppte sich die Wohnung vom Verein, ein Ein-Zimmer, Küche, Bad -”Hexenhäuschen” am Waldrand, doch als Burg der Isolation. Edith zog “auf den Berg”, damaliger Vereins- und Redaktionssitz. Als Mitbewohnerin des Hauses verfügte sie auch hier über ihre eigene abgeschlossene Wohnung, an Arbeit mangelte es in dem Haus nicht, für einen Job jedoch reichte es nicht aus.
Das neue Projekt bietet nun auch neue Perspektive für die Siebenunddreißigjährige. Klar, zunächst muß renoviert und eingerichtet werden, steht das Projekt aber baulich kann man sich auf die inhaltlichen Ziele konzentrieren wie den “Urlaub für Arme” der vorränglich Urlaub für Alleinerziehende und Sozialamtsabhängige einbeziehen soll. Wenn gestreßte Mütter und Väter Urlaub machen, wollen sie sich erholen, die lieben Kleinen hingegen Abenteuer, Spaß und Spiel erleben. Das Drumherum inklusive der Landschaft bietet hier alles, für die pädagogische Betreuung und gegen eventuelle Ferienlangeweile des Nachwuchses könnte Edith aktiv werden. Hinzu könnten organisatorische Aufgaben rund ums Haus kommen.
Auch für Joseph bietet das Projekt Hebstahl Zukunftsperspektiven. Heute seit Jahren trockener Alkoholiker durchlief er allen Tiefen der Sucht. Schließlich Therapie und betreutes Wohnen. Über einen Straß0enzeitungsverkäufer kam Joseph in Kontakt mit dem Selbsthilfeförderverein, seit einem guten halben Jahr wohnt auch er “auf dem berg”. Endlich wieder selbstständiges Leben und Arbeiten. Im Verein übernahm Joseph dann ehrenamtliche Aufgaben, unterstützte den Vertrieb, kümmerte sich um Haus und Hof. In Hebstahl ist für Joseph eine feste halbe Stelle in Planung, das Haus, seine Instandsetzung und -haltung bietet genug an Aufgaben.
Im Januar wird noch Gerd dazukommen. Er hofft hier, genug Werkraum ist vorhanden, seinen Traum von Möbelaufbereitung und -restaurierung verwirklichen zu können. Gerd ist eigentlich Kfz-Schlosser von Beruf, seine extreme Schwerhörigkeit machten ihn allerdings berufsunfähig. Sämtliche Versuche eine Reha-Umschulung durchs Arbeitsamt zu erreichen liefen bislang schief. Letztendlich wird auch Werner Picker, Vorsitzender des Selbsthilfefördervereins hier sein Domizil aufschlagen. Die großzügigen Werkräume, Gargen und Außenflächen bieten noch weitaus mehr Gelegenheit neue Arbeitsbereiche zu erschließen. Gedacht wird inzwischen an eine Holzwerkstatt, eine Fahrradwerksatt mit Verleih für die Feriengäste, vielleicht eine Töpferei.
Das neue Projekt soll neben der “Strassenzeitung”, Ex-Looser und Ex-Looser/strassenfeger zweites Standbein zur Finanzierung der Vereinsarbeit sein. Und es soll Arbeitsplätze schaffen. Sind die Umbauarbeiten abgeschlossen, dient das Haus vorallem als Begegnungstätte. Die geplante tagungsgerechte Ausstattung soll Seminare, Erwachsenenbildung, Freizeiten ermöglichen.
Kein Projekt einer Straßenzeitung sollte ohne Notübernachtung für Obdachlose angelegt sein, zwei Plätze (mehr wird im ländlichen Raum nicht gebraucht) werden hierfür zur Verfügung stehen.
Einkommensschwache können hier zum Billigtarif Urlaub machen, “normale Touristen” sollen mit einem Solidaritätsaufschlag den Urlaub der Armen mitfinanzieren. Wald, Wiese und jede Menge Freiraum bietet vorallem ein Paradies für Kinder, Naturliebhaber kommen hier voll auf ihre Kosten: hügelige Landschaft, die waldreichste Ecke Hessens umsäumt und bestückt von Historischen und “sagenhaften” Stätten, die Römer waren hier ebenso Zuhause wie die Nibelungen. Der Neckar ist per Auto oder von einem nahegelegenen Ort per Zug in knapp zwanzig Minuten erreichbar, Heidelberg in einer guten halben Stunde. Neben Wanderern ist die gesamte Ecke im Sommer bei Mountain- und Tourenradfans und Motorradfreaks schwer beliebt.
Fakt ist, daß das gesamte Gebäude so schnell wie möglich in einen Zustand versetzt werden muß, in dem es Geld erwirtschaftet und nicht nur welches kostet. Mit dem über einen Kredit finanzierten Kaufpreis von 320 000 Mark ist es noch lange nicht getan, Umbau und Einrichtungen werden noch einiges verschlingen. Die Zeitung trägt sich selbst, aber nicht mehr. Um das Projekt so schnell wie möglich in ein wirtschaftliches Unternehmen umzuwandeln, sind wir auf die Hilfe unserer LeserInnen angewiesen. Gleichermaßen danken wir auch all jenen, die unser Vorhaben bislang unterstützt haben und bis zu diesem Punkt erst ermöglichten.
Gabriele Lermann
Naturfans aufgepaßt!
Bereits im Herbst/Winter 99 kann das Freizeitangebot HEBSTAHL genutzt werden.
Sylvester 2000 im Tal der Liebe ?
Kein Problem!
Rufen Sie uns an unter:
06063/57xxx
oder
06151/711xxx
oder faxen sie unter
06063/913xxx
Wenn Obdachlose Selbsthilfe organisieren, kommt so einiges zusammen. Im Verein vereint sind dann so beieinander: Einige Jahre Knast, ein erkleckliches Vorstrafenregister, die ganze Palette bekannter Süchte, zerbrochene Ehen und Beziehungen, Prügel, Schläge und Gewalterfahrungen, Behinderungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen, private Schulden in mehrstelliger Höhe, Konkurse, Pleiten, Pech und Pannen, ein gutes Potential krimineller Energie und noch einiges mehr. Nicht, daß irgendjemand darauf stolz wäre und damit prahlen würde. Aber genug Gründe, sich nicht mehr richtig einsortieren zu können in die bürgerliche Welt. Am Rande zu stehen. Wahrscheinlich dort zu bleiben. Positiv gesagt: Jede Menge Lebenserfahrung und eine Überzeugung im Sinne der Bremer Stadtmusikanten: Etwas besseres als das, was wir hinter uns haben, organisieren wir alle mal.
Womöglich ein historischer Glücksfall, da§ ausgerechnet zu einer Zeit jene alte Idee der Vagabundenbewegung aus den 20er Jahren populär wurde, als die Zahl der Obdachlosen wieder rapide zunahm Mitte der 90er: Zeitung machen, nunmehr in der low-budget-Variante am eigenen PC. Die Zeitung, weit mehr als nur eine marktwirtschaftliche Variante des Bettelns, vielmehr ein "kollektiver Organisator" im Sinne Uljanows (Was tun? 1902), der die Vereinsform als Herausgeber nahelegt und damit zu finanzieller und demokratischer Transparenz zwingt. Zeitung als Medium und Strukturelement des Selbsthilfe- und Vernetzungsgedankens. Obdachlose und ehemals obdachlose, arme und behinderte Menschen als Verkäufer, Vertriebsmitarbeiter, Schreiber und Redakteure, …ffentlichkeitsarbeiter und Entscheidungsträger. Auch wenn viele (noch) nicht begriffen haben, was sie dort in den Händen halten, wenn sie die alte Leier herunterbeten: "Guten Tag, ich bin der Udo, und ich verkaufe hier ...", na, Sie wissen schon.
Da hat sich die PARITÄT aber Mitglieder (siehe oben) angelacht! Ein Haufen "Penner" eben (bzw. eine Gurkentruppe oder ein komplettes Chaosteam - je nach dem), die Leute vom Verein "mob - obdachlose machen mobil e.V.", die diese Zeitung strassenfeger, demnächst die strassenzeitung machen, herausgeben und verbreiten. Sieht man der Zeitung gar nicht an.
Wenn diesem Rundbrief die Strassenfeger-Ausgabe "Wohnopoly - Das ist unser Haus!" vom November 1998 beigelegt ist, dann aus drei Gründen:
Sie enthält auf den Seiten 11 - 22 den "Wegweiser der Kältehilfe 1998/99", erstellt in Zusammenarbeit mit der AG Leben mit Obdachlosen und enthält eine sehr umfangreiche, nahezu vollständige Auflistung aller relevanten Einrichtungen und Projekte in diesem Bereich - zur freundlichen Kenntnisnahme, zur Verwendung und mit der Bitte um Rückmeldung.
Zweitens: In den Zeiten der Diskussionen um Qualitätskontrolle und -sicherung ein Beitrag von Unten in Form der Kampagne: "Stiftung Wärmestubentest". Es sind die Nutzer, die häufig aufgrund ihrer Armut gar keine Chance mehr haben, darüber abzustimmen, ob ein Angebot was taugt oder nicht. Daran wollen wir was ändern, wohl wissend, da§ wir uns damit nicht nur Freunde machen.
Last but not least verstehen wir den PARITÄTISCHEN Grundgedanken dahingehend, da§ er auf dem Prinzip des gegenseitigen Gebens und Nehmens beruht. In diesem Sinne verstehen wir die Zeitung auch als ein Angebot an andere PARITÄTISCHE Mitgliedsgruppen und Vereine, sich mit ihren Themen, Anliegen und Projekten bei uns darzustellen. Natürlich haben unsere Redakteure genug anderes zu tun, als auf Beiträge zu warten, die da kommen könnten, ein gewisses Beharrungsvermögen und ein ansprechender Stil ist schon vonnöten, um eine ganze Seite in der Zeitung zu ergattern. Aber wer möchte, kann auch Platz im Strassenfeger kaufen - böse Zungen sprechen in diesem Fall von einer Anzeige. Als ob wir davon nicht schon genug hätten. Ganz nach dem Motto: Armut läßt sich nur mit Geld bekämpfen!
In diesem Sinne wünschen wir frohes Lesen der beigelegten Strassenfeger-Ausgabe.
Stefan Schneider
mob - obdachlose machen mobil e.V.
Hauptstr. xxx
10827 Berlin
http://userpage.fu-berlin.de/~zosch
Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du?
Die Arbeit mit Obdachlosen von Pfarrer Ritzkowsky
Von Anne Landsberg
Kürzlich wurde Joachim Ritzkowski, Pfarrer an der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche, für sein langjähriges Engagement in der Arbeit mit Obdachlosen mit dem Ingeborg-Drewitz-Preis der Humanistischen Union ausgezeichnet (die Straßenzeitung berichtete). Der Preisträger hatte darum gebeten, während der Festveranstaltung nicht fotografiert oder gefilmt zu werden. Die Medien hielten sich so gründlich daran, daß über die Preisverleihung kaum berichtet wurde. Schade eigentlich. Halten wir uns deshalb an das gerade erschienene Buch von Joachim Ritzkowsky. Es heißt “Die Spinne auf der Haut : Leben mit Obdachlosen” und trägt den Untertitel “Bericht – Analyse – Deutung”.
Das schmale Bändchen enthält Texte und Reflexionen, die der Autor in den letzten Jahren zu verschiedenen Anlässen und in verschiedenen Rollen – etwa als evangelischer Gemeindepfarrer, als Wirt der Wärmestube im Gemeindehaus in der Nostitzstraße oder als Mitbegründer der Berliner “Arbeitsgemeinschaft Leben mit Obdachlosen” - geschrieben hat. Stark sind die Texte, in denen Ritzkowsky schildert, wie er 1990 aus der Zehlendorfer Bürgerlichkeit heraus die Pfarrstelle in Kreuzberg antrat, sich massiv mit Obdachlosigkeit, Verwahrlosung und Krankheit konfrontiert sah und nicht wegschaute, sondern begann, für das Recht von Wohnungslosen auf medizinische Betreuung und eine Meldeadresse zu streiten (siehe das Kapitel “Sterben auf Berlins Straßen” und die Verteidungsrede vor dem Landgericht Berlin 1996). Die Texte, in denen der Autor versucht, die Ursachen von Wohnungslosigkeit zu erklären oder das Leben von Obdachlosen als Leben im ˆffentlichen Raum zu beschreiben bzw. zu deuten, lassen die Rezensentin in einer gewissen Ratlosigkeit zurück. So erfaßt Ritzkowskys These, daß Menschen deshalb obdachlos werden, weil immer mehr Menschen auf Grund der Individualisierung von Lebensstilen immer mehr Wohnraum und Freizeitflächen beanspruchen (Kapitel “Obdachlos ist wohnungslos”), nur ein winziges Stück Oberfläche weitaus komplexerer gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich zunehmend ungleiche Zugänge zu Bildung, Erwerbsarbeit, Gesundheitswesen, gesellschaftlicher Beteiligung und natürlich auch Wohnraum zeigen.
Aus allen Texten von Joachim Ritzkowsky sprechen aber ein großer Respekt vor obdachlosen Menschen und ihrem Leben auf der Straße und die daraus abgeleitete radikaldemokratische Haltung, daß die Stadt für alle da sei. Wer den Ansatz vom Leben mit Obdachlosen ernst nähme, “verklärt weder Armut noch Elend, noch verdrängt er Arme und Elende aus der Innenstadt, sondern sucht die Möglichkeiten und Fähigkeiten der obdachlos Gewordenen in der Stadt zur Geltung zu bringen.” Es sei notwendig, “Lebenswirklichkeiten zu finden, die mit weniger Raum, weniger Geld, weniger Komfort und weniger technischen Prothesen auskommen. In dieser bestimmten Hinsicht kann von den Armen gesagt werden, daß sie gesellschaftliche Zukunft vorwegnehmen. Das "Leben mit Obdachlosen‘ verliert – so verstanden – jenen Geruch, der aller sozialen Tätigkeit anhaftet – den des 'Almosengebens‘. Der Hauptunterschiedspunkt zwischen dem Senatskonzept der 'Einweisung von Obdachlosen in Pensionen‘ und unserem Konzept des 'Lebens mit Obdachlosen‘ liegt in der Alternative, ob die Obdachlosen lediglich als Empfänger (Sozialhilfeempfänger) angesehen oder als Menschen erkannt werden, von denen etwas in Bezug auf die auf uns zukommende Zeit zu erkennen und zu lernen ist, und mit denen wir zusammenbleiben wollen. Das Überleben der Armen enthält eine Erkenntnis, wie die Gesellschaft insgesamt überleben, das heißt leben kann”. (S. 27 f.)
Hierüber ließe sich trefflich streiten, zumal derartige Überlegungen auch in der internationalen Debatte über die Zukunft großer Städte eine Rolle spielen. Leider führt Ritzkowsky seinen Gedanken nicht weiter aus. Das Handeln des Pfarrers ist dann – gemessen am Anspruch – überraschend pragmatisch. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde unterhält bereits seit zehn Jahren eine Wärmestube (vom Autor geschildert aus seiner, des “Wirtes”, Perspektive im Kapitel “Die Wärmestube – Funktionsweise oder Geheimnis”), und seit dem letzten Herbst ist die Gemeinde Träger eines großen ABM-Obdachlosenhilfe-Zentrums in der Gitschiner Straße 15.
Die inzwischen drei Berliner Obdachlosenzeitungen, die im Gegensatz zu vielen Zeitungen in anderen Städten von Obdachlosenselbsthilfegruppen herausgegeben werden, werden im Kapitel “Gespieltes Leben” lediglich erwähnt, und zwar als “unter anderem Foren der Selbstdarstellung der Szene” (S. 85). Als Szene erscheinen die auf der Straße, also einer “Bühne” lebenden nichtregistierten Obdachlosen, die ihr Leben, weil es im öffentlichen Raum stattfindet, faktisch “spielen”, während der “bürgerliche Ernst” von den Wohnenden, Erwerbsarbeitenden, Integrierten repräsentiert wird. - Die Erfassung von Straßenzeitungen als Resultat des Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotentials von Obdachlosen, als Marktteilnehmer und Repräsentanten einer sich entwickelnden Wirtschaft von unten bleibt Aufgabe anderer Bücher und anderer AutorInnen.
Joachim Ritzkowsky, Die Spinne auf der Haut : Leben mit Obdachlosen, Bericht – Analyse – Deutung. – Berlin : Alektor Verlag, 2001
Leben auf der Straße - Band 17 der Mitmachzeitschrift Brückenschlag erschienen!
Der Paranus - Verlag aus Neumünster gibt in regelmäßigen Abständen, etwa einmal im Jahr, den Brückenschlag heraus, eine "Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst". Wobei der Begriff Zeitschrift irreführend ist, zumal es sich eher um eine thematische Verlagsreihe in Buchform handelt. So auch hier: In diesen Tagen erscheint der Band 17 mit dem Titel: "Leben auf der Straße". Bereits 1999 hatte der Verlag unter anderem die deutschsprachigen Straßenzeitungen gebeten, Material zur Verfügung zu stellen für einen Sonderband, nun hat sich der Verlag aber doch entschlossen, das Thema in der Brückenschlag-Reihe zu veröffentlichen. Die 268 Seiten der Zeitschrift sind, entsprechend dem Stil der Zeitschrift, unterteilt in vier Abschnitte: "Berichte - Aufsätze - Stellungnahmen", "Gedichte - Bilder - Texte", "Kurzgeschichten & kurze Geschichten" sowie "Buchbesprechungen - Anhang". Insgesamt versammelt das Buch 71 Beiträge und 29 zum Teil farbige Abbildungen sowie im Anhang 11 - zum Thema passende - Buchbesprechungen und ein Verzeichnis der Autoren.
Um es vorab zu sagen: Das Buch macht Spaß. Die Beiträge sind kurz und leicht lesbar. Es enthält im Berichtsteil ein buntes, aber gutes Sammelsurium über verschiedene Aspekte von Obdachlosigkeit und Armut: Jürgen Blume schreibt über die Vagabundenbewegung in den 20er Jahren, Hannes Kiebel gibt eine kurze Literaturübersicht, Ulrich Schneider äußert sich grundsätzlich zur Frage von Armut und Ungleichheit in Deutschland, Uwe Britten berichtet über die Situation von Straßenkindern in Deutschland, Thomas Lindenberger beschreibt die Rechtssituation, Angela Stroppe gibt einen kurzen Bericht zur Geschichte der Straßenzeitungen in Deutschland. Auch Einrichtungen und Aktionsformen werden beschrieben: Zeitdruck, ein Projekt von jungen Ein- und Aussteigern, die Gründung der Tafelbewegung am Beispiel der Wolgaster Tafel, ein Bericht über das Hotel Plus - ein Hotel für obdachlose psychisch kranke Menschen fehlt ebensowenig wie die Würdigung der Mission e.V. - eine von Christoph Schlingensief initiierte "Künstlerische Maßnahme gegen die Kälte".
Lange Zeit war Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit ein Thema, was den Sozialarbeitern vorbehalten war. Seit Beginn der Neunziger Jahre kam das Interesse am "Wohnungslosen Subjekt" hinzu: Plötzlich waren authentische Berichte von Betroffenen auf der Straße gefragt - kein Wunder, um diese Menschen geht es doch schließlich. Der hier vorliegende Band gibt eine Vorstellung davon, daß Obdachlosigkeit ein allgemeines Thema ist, das in der Wahrnehmung nicht nur die Betroffenen und die Hilfeexperten beschränkt werden sollte. Insofern ist dieses Buch geeignet für unterschiedliche Lesergruppen. Für junge Leute, die einen unterhaltsamen Einblick bekommen wollen: Was ist eigentlich los auf der Straße, wie fühlt es sich an: Obdachlosigkeit? Für Menschen, die als ehrenamtliche Mitarbeiter oder Spender oder aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit im weitesten Sinne etwas mit Armut zu tun haben, und sich mal etwas ausführlicher mit Obdachlosigkeit beschäftigen wollen, ohne gleich ein trockenes Fachbuch lesen zu müssen. Und schließlich für aufgeklärte Bürger, die sich dieses Buch vielleicht in den Urlaub mitnehmen möchten als eine Art literarische Bildungsreise.
Und zum Schluß: Spannend ist der "Brückenschlag" vor allem auch deshalb, weil diese Zeitschrift als "Mitmachzeitschrift" konzipiert ist. Der nächste Brückenschlag ist geplant zum Thema "Beziehungen". Dazu schreibt der Verlag: "Der Band 18 des Brückenschlags geht also auf die Suche nach den Grundlagen und Veränderungen im Mikrokosmos zwischen dem Du und dem Ich. Und lädt Sie ein, mitzusuchen, mitzuforschen und mitzugestalten. Wir freuen uns auf Ihre Text- und Bildeinsendungen! Essays, Geschichten, Gedichte, Berichte und alle weiteren Textformen sind wieder willkommen. Einsendeschluß ist der November 2001, Erscheinungstermin ist Mai 2002." Na, also dann!
Robert Thiel
Brückenschlag: Zeitschrift für Sozialpsychiatrie - Literatur - Kunst. Band 17 - 2001: Leben auf der Straße. Paranus - Verlag, Neumünster, 268 Seiten, DM 27,--.
Das Buch kann bezogen werden über den Verlag: Die Brücke Neumünster gGmbH, Postfach 12 64, 24502 Neumünster. Tel: 043 21 - 2004 - 500, Fax: 043 21 - 20 04 - 411, email:
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Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006