Zeugen einer Hoffnung
Ja, es war schon subversiv. Solange ich zurückdenken kann, immer Sonntag vormittags diese Versammlungen. Später bin ich freiwillig hingegangen. Zunächst habe ich gar nicht so richtig verstanden, worum es geht: Diese Kostümierungen, sitzen, stehen, knien, singen, zuhören, essen gehen. Was sich mir eingeprägt hat, waren diese Erzählungen. Da macht einer eine Party und lädt Huren ein und Verbrecher. Da sind Leute krank und kaputt und sie werden geheilt. Da sind Leute ausgestoßen, keiner will mit ihnen zu tun haben und der Typ geht da hin und feiert mit ihnen. Zum Schluß waren sie so besoffen, da§ sie glaubten, er könnte übers Wasser spazieren. Der Kerl marschiert in den Tempel ein und räumt erst mal auf. Da treffen sich spontan 5.000 Leute und Essen und Trinken ist da bis zum Abwinken. Wasser wird in Wein verwandelt. Kommunismus wird propagiert. "Der Stein, den die Baumeister verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden." (Ezechiel). Provokation, Aufstand, Aufruhr. Leben, Sterben, Kämpfen. Hoffnungen. Gelebte, realisierte Hoffnungen. Utopien, Träume, Illusionen, Programme. Und das alles in den kleinen, in den kindlich Kopf. Sonntag für Sonntag. Organisierte Indoktrination. Mit Stolz, mit Freude, ritualisiert, euphorisch, durchschnittlich, letztlich bürgerlich. Wurzeln menschheitsgeschichtlicher Erinnerungen, verkleidet, verschüttet, rudimentär. Durst ist schlimmer als Heimweh.
Schon deshalb kann er nicht tot sein. Wer mit seiner Botschaft - seiner Lebensleistung, wie man heute sagen würde - in der Lage ist, sich derart in die Köpfe der Menschen zu bringen, selbst 2 Jahrtausende nach seiner Ermordung - der lebt, der ist gegenwärtig. Wer sagen kann "ich bekenne, ich habe gelebt", der ist unsterblich. Zeuge einer Hoffnung. Nur wenige Tage nach dem Putsch von General Pinochet starb in Chile der große Pablo Neruda. Auf seinem Trauerzug wurden die Namen der Opfer des Putsches genannt. Die Leute riefen zu jedem Namen: "presente": Sie sind hier, sie sind unter uns, sie sind bei uns, sie leben. Zeugen einer Hoffnung: "Steige auf, mit mir zum Leben zu erwachen, Bruder." (Neruda)
"Gott ist das beste Wort für das der Materie innewohnende Prinzip" (Siggi Pethke). Ernesto Cardenal gründet auf Solentiname eine Gemeinde und diskutiert jeden Sonntag mit nicaraguanischen Bauern die politischen Schlußfolgerungen des Evangeliums. Er mischt sich in den militärischen Kampf gegen den Diktator Somoza ein: Sein Argument: "Die Waffen brachten Frieden!" Daniel Berrigan kämpft zeitgleich in den USA in gewaltfreiem Widerstand gegen den atomaren Abschreckungswahn und schreibt Cardenal aus dem Knast: "Jeder Tropfen Blut, der vergossen wird, ist ein zu hoher Preis für die Freiheit". Wir werden dieses Problem nicht entscheiden können, Gott selbst ist zu widersprüchlich, zu wenig eindeutig. "Ich bin, der ich sein werde" - so offenbart er sich dem Mose im brennenden Dornbusch. Kraft und Vision genug, um den Exodus zu wagen, den Aufbruch der Menschheit aus der Sklaverei hin in das gelobte Land. Daß von denen, die da aufbrachen, niemand ankam, wäre das ein Grund gewesen, diesen Schritt nicht zu tun?
Es ist nicht wichtig, ob es Gott gibt, ob Jesus lebt, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Selbst Christen sagen, da§ man diese Fragen nicht beantworten, sondern nur glauben kann. Gebt Zeugnis von Euer Hoffnung! Diese Botschaft ernstgenommen, bedeutet: Gehen wir in die Kirchen, sie sind unser zu Hause, teilen wir, was wir haben, feiern wir dort grandiose Feste und verwandeln wir Wasser in Wein, besprechen wir dort alle wichtigen Fragen, organisieren wir uns!
Bruno Katlewski
Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du wirst neben mir keine anderen Götter haben. Du wirst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du wirst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben auf auf meine Gebote achten, erweise ich tausenden meine Huld. Du wirst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mi§brauchen, denn der Herr lŠ§t den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht.
Du wirst des Sabbats gedenken und ihn heilig halten. Sechs Tage wirst du schaffen und jede Arbeit tun können. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm wirst du keine Arbeit tun, du, dein Sohn, und deine Tochter, deine Freunde und Freundinnen, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.
Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
Du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott dir gibt.
Du wirst nicht morden.
Du wirst nicht die Ehe brechen.
Du wirst nicht stehlen.
Du wirst nicht falsch gegen deinen Nachbarn aussagen.
Du wirst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen, nach seinem Freund oder seiner Freundin, seinem Rind oder seinem Daimler oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehšrt.
Diese Worte sagte der Herr auf dem Berg zu unserer vollzähligen Versammlung, mitten aus dem Feuer, aus Wolken und Dunkel, unter lautem Donner, diese Worte und sonst nichts. Er schrieb sie auf auf zwei Steintafeln und übergab sie mir.
(2. Buch Mose: Exodus 20, 1-17; 5. Buch Mose: Deuteronomium 5, 22)
Von Obdachlosen lernen ...?
Der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V., der diese schöne Zeitung herausgibt, ist gemeinnützig und auf Grund dessen von einigen Steuern befreit. Das Finanzamt, das eine solche Bescheinigung nach Prüfung aller Unterlagen ausstellen kann, hat dies damals damit begründet, das der Verein "der Förderung der Volksbildung" diene. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, erschließt sich aber nach einigem Nachdenken. mob e.V. wurde 1994 gegründet mit der Zielsetzung, vorrangig die Lebensumstände obdachloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen zu verbessern. Dabei ging es damals zu aller erst darum, als demokratische Gruppe, der von Anfang an auch Obdachlose und ehemals Obdachlose angehörten, eine Obdachlosenzeitung herzustellen, herauszugeben und in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Diese Zeitung hieß damals mob - magazin, später motz, dann strassenfeger, zwischenzeitlich sogar strassenzeitung oder kurz straz. Natürlich war es von Anfang an wichtig, mit der Zeitung armen und obdachlosen Bürgern damit eine Verdienstmöglichkeit zu eröffnen, und damit ein Stück Würde und Selbstbestimmung zu geben. Aber auch die Idee, Menschen auf diese Art und Weise eine Plattform für ihre eigenen Anliegen zu eröffnen, stand im Mittelpunkt der Arbeit. Nicht nur im Verkaufsgespräch, sondern auch durch Artikel, die in der Zeitung veröffentlicht wurden und durch Stände auf Strassenfesten und politischen Veranstaltungen. Damit ist es gelungen, dem Thema Obdachlosigkeit einen breiten Raum in der öffentlichen Wahrnehmung zu verschaffen. Mit diesem Impuls hat sich in den letzten Jahren die Situation der Wohnungslosen deutlich verbessert: Es sind weniger geworden, die Zahl der Obdachlosen ist seit einigen Jahren leicht rückgängig. Auch ist das Netz der Versorgungsangebote besser und dichter geworden, überall sind Übernachtungsstellen, Kleiderkammern, Wärmestuben, Beratungsangebote, betreute Wohnformen hinzugekommen. Auch die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, hat abgenommen, es ist für diese Menschen sicher leichter geworden, Hilfen zum Überleben zu finden. Gerade in der Zeit vor Weihnachten überschlägt sich die Bereitschaft, Obdachlosen etwas Gutes zu tun.
Insofern ist es durchaus berechtigt, festzustellen, daß es die Obdachlosen selbst waren, die durch ihre langjährige Arbeit dazu beigetragen haben, daß sich an der Situation insgesamt einiges gebessert hat. In dem Maße, wie sich arme Menschen durch den Verkauf der Zeitung zu ihrer Armut bekennen, tragen sie dazu bei, daß diese Thema nie aus der Aufmerksamkeit verschwindet, auch im Sommer nicht, auch dann nicht, wenn andere Themen (wieder) wichtiger werden. Und auch der Verkauf der Zeitung ist nur die Spitze des Eisbergs, was Aktionen und Initiativen angeht, die Lebenssituation armer und ausgegrenzter Menschen zu verbessern. Eigentlich seit Beginn der Strassenzeitungen wird in diesem Umfeld daran gearbeitet, Notübernachtungen und Versorgungsmöglichkeiten anzubieten, Anlaufstellen offen zu halten und Beratung zu organisieren, Kleiderkammern, Essensversorgung, Hilfe bei der Wiederbeschaffung von Wohnraum und Wohnungseinrichtung sind weitere Stichworten. Im Kern geht es darum, ohne staatliche Förderung ganz unterschiedliche Formen der Selbsthilfe auf die Beine zu stellen, einfach um zurechtzukommen. Auch hier kann es sein, daß mit den verschiednen erprobten Ansätzen die Obdachlosenvereine mal wieder einen wichtigen Schritt nach vorne gehen: In Zeiten knapper (staatlicher) Kassen kann die Phase des Heulens und Zähneklapperns einfach übersprungen werden - Selbsthilfeprojekte wie mob e.V. mußten und wollten auch von Anfang an eigenverantwortlich wirtschaften und zurechtkommen und so ein großes Stück an politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit bewahren. Auch wenn es natürlich korrekt ist, von der einen oder anderen Stelle einen Arbeitsplatz oder Arbeitsmaterial gefördert zu bekommen.
Die ganze Arbeit der (Selbst-)hilfe von und für Wohnungslose funktioniert natürlich nur, das muß an dieser Stelle ebenfalls klar und deutlich gesagt werden, weil es von Anfang an Bürgerinnen und Bürger gab, die bereit waren, etwas von sich aus zu geben, um die Arbeit beispielsweise von mob - obdachlose machen mobil e.V. zu unterstützen. Die Formen dieser Unterstützung sind dabei so vielfältig wie unser Selbsthilfeansatz selbst. Beginnend mit der Bereitschaft, eine solche Obdachlosenzeitung überhaupt zu kaufen, war im Verlauf der Jahre zu konstatieren, wie Firmen Material spendeten, Menschen angeboten haben, sich einige Stunden ehrenamtlich zu engagieren, es gab kostenlose Tipps und Hinweise, die Arbeit zu verbessern, Anrufe, gebrauchte Kleidung oder Möbel abzuholen, Lebensmittel kurz vor dem Verfallsdatum dürfen kostenlos abgeholt und weiter verarbeitet werden, Menschen möchten ihr Praktikum ableisten oder eine Forschungsarbeit über Selbsthilfearbeit schreiben, die Redaktion darf Artikel kostenfrei abdrucken und vieles mehr. Dieses Potential, was hier nur angedeutet werden kann, wurde in seiner ganzen Fülle bisher gar nicht wirklich genutzt werden. Das bedeutet nicht, daß der Verein mob - obdachlose machen mobil e.V. in irgendeiner Weise finanziell reich sei: Das Gegenteil ist der Fall.
Ein schlagendes Beispiel dafür ist das neue Projekt von mob e.V. in der Prenzlauer Allee 87: Weil der bisherige Treffpunkt in der Schliemannstraße mit seinen Funktionen Notübernachtung, Küche, Büro und Beratung, Dusche, Küche, Kleiderkammer und Treffpunkt aus allen Nähten platzte, machte der Verein sich auf der Suche nach neuen und größeren Räumlichkeiten, um seinen selbst gewählten Auftrag der Verbesserung der Lebensumstände wohnungsloser und armer Menschen besser nachkommen zu können. Neben der Aufgabe, die damit verbundenen Kosten an Miete und Betriebskosten selbst erwirtschaften zu müssen, müssen die Räume erstmal überhaupt für diese Funktionen ausgebaut werden. Der Verein benötigt dafür Estrich, Rigips, Farbe, Schrauben, Werkzeug und weiteres mehr. Und selbst wenn das alles vorhanden ist, muß alle nochmals praktisch umgesetzt werden, was bedeutet: Arbeit ohne Ende. Und das zusammen mit den Menschen, die diese Einrichtung später (und eigentlich: jetzt schon) nutzen werden. In diesem Sinne bedeutet Bildung wortwörtlich ganz einfach, sich in einer schwierigen Umgebung erst einmal so einzurichten, daß es möglich wird, dort zu wohnen, zu leben, zu arbeiten.
Stefan Schneider
mob e.V. und strassen/feger - Jetzt weltweit im Internet
www.strassenfeger-berlin.de
Informationen zur Arbeit des Berliner Obdachlosenselbsthilfevereins mob - obdachlose machen mobil e.V. mitsamt seinen Projekten können Sie ab sofort - wenn alles so funktioniert hat, wie wir uns das vorgestellt haben - auch digitaler Form im Internet finden - sofern Sie Zugang zu einem Computer haben, der mit dem weltweiten Internet verbunden ist. Sie finden die jeweils aktuellen Informationen zum Verein mob e.V. und einiges andere mehr im World Wide Web (WWW) unter der Adresse: "http://www.strassenfeger-berlin.de". Auf diesen Seiten werden Sie in Zukunft auch eine pdf-Datei mit dem kompletten Inhalt der jeweils aktuellen Ausgabe des strassenfegers finden, die sie herunterladen, auf Ihrem Bildschirm lesen und bei Bedarf auch ausdrucken können.
Warum das Ganze?
Natürlich finanzieren wir unser Zeitungsprojekt weiterhin durch den Straßenverkauf gemäß der Devise: Einen Teil (achtzig Cent) für den (obdachlosen) Verkäufer, eine Teil (vierzig Cent) für den Verein zur Finanzierung. Dieses Prinzip, das direkt den Wohnungslosen nutzt, wollen wir damit nicht in Frage stellen, und wir wollen auch keine Käufer abwerben. Tatsache ist aber, daß die Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft zunehmende Bedeutung erfährt, kaum ein Bereich des öffentlichen und privaten Lebens ist davon nicht betroffen. Mit Sorge sehen wir einer Entwicklung entgegen, die die ohnehin schon bestehenden sozialen Gegensätze verschärfen könnte: Daß nämlich die Gesellschaft zerfällt in eine privilegierte Gruppe derer, die diese neue Technologie beherrscht und in die Gruppe der Computeranalphabeten, die zunehmend an den Rand gedrängt wird, keine Perspektive mehr hat auf dem Arbeitsmarkt und immer weiter ausgeschlossen wird von den Entwicklungen im Bereich Politik, Bildung, Qualifikation, Kultur und Soziales - eben weil sie diese immer wichtiger werdende Kompetenz der Computerliteralität nicht mehr beherrscht oder - noch viel einfacher - weil sie sich diese Technik schlichtweg nicht leisten kann. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, indem wir mit unseren Verein, seinen Projekten und unserer Zeitung im weltweiten Internet präsent sind und zugleich mit unserem Projekt, Armen und Wohnungslosen den Zugang zum Internet zu ermöglichen. Den ersten Schritt haben wir getan, der zweite Schritt - ein öffentliches Internetcafé für Obdachlose und Arme - steht noch aus.
Computerliteralität
Anders gesagt: Der Umgang mit dem vernetzten Computer ist eine Schlüsselqualifikation der heutigen Zeit, und der entscheidende Vorteil ist, daß der oder die AnwenderIn eben nicht auf eine bestimmte Art der Nutzung festgelegt ist. Ob ein Wohnungsloser den Computer dazu nutzt, weltweit Liebesbriefe abzusetzen, seine Gedichte und Texte verbreitet, elektronisch verfügbare Zeitungen, Zeitschriften, Aufsätze und Publikationen ließt, zu bestimmten Themen recherchiert, auf Stellenanzeigen oder Angebote der Wohnungsvermittlung reagiert oder einfach nur irgendwelche Spiele spielt, oder ob er oder sie sich mit diesen erworbenen Fertigkeiten um einen Job bemüht oder einfach den elektronischen Postkasten benutzt, um erreichbar zu sein, daß ist letztlich egal und jedem einzelnen überlassen. Und eines ist klar: Wer in das Netz eine Nachricht schickt oder sich mit einem Text präsentiert, dem sieht man nicht an, ob er wohnend oder wohnungslos ist, Mann oder Frau, schwarz oder weiß, behindert oder nicht-behindert, süchtig oder clean, alt oder jung. Vorurteile können dadurch abgebaut werden, allein Argumente und Positionen zählen. Die Frage ist, was wir daraus machen können, was wir damit bewegen können? Das wird sich herausstellen.
Informationssuche und redaktionelles Arbeiten im Netz
Indem wir "mob - obdachlose machen mobil e.V./ strassenfeger" im Internet präsentieren, wollen wir einen ersten Schritt in diese Richtung unternehmen. Wichtig ist, daß wir unser inhaltliches und politisches Ansinnen nun im Internet weltweit verbreiten können. Im Editorial der ersten Ausgabe der von uns 1995 mitgegründeteten motz schrieben Sonja Kemnitz und ich: "In unserem redaktionellen Selbstverständnis wollen wir die Sicht derer von Unten, der Ausgegrenzten drucken und manchem Ängstlichen helfen, seine Stimme zu erheben. Insbesondere Obdachlose sind unsere wichtigsten Korrespondenten, aber auch jene, die sich in der gefahrenvollen Welt der Armen und Heimatlosen bewegen. Wir sind ein Armenjournal, reich an Ideen für einen lebendigen, anspruchsvollen und kritischen Journalismus sowie hintergründige Informationen. Wir wollen etwas bewegen und werden auch Bewegung einfordern - nicht nur bei den Politikern. Wir schauen aus der SZENE heraus nach draußen, nicht von draußen auf die Szene drauf." (Editorial der motz 0, Mai 1995). Daß wir von diesem inhaltlichen Anspruch mit den Seiten www.strassenfeger-berlin.de noch Lichtjahre entfernt sind, dürfte nicht verwundern. Immerhin: Ein erster Schritt ist getan.
Bedarf/ Ziele/ Perspektiven
Wir hoffen, daß wir von Seiten weitere Unterstützung und Beratung erhalten. Wir brauchen vor allem weitere Computer für unsere zum Teil wohnungslosen Redakteure, damit sie an eigenen vernetzten Computern in unseren Redaktionsräumen in der Prenzlauer Allee 87 arbeiten und und im weltweiten Internet recherchieren können, wir brauchen weitere Rechner als auch Drucker und Scanner, um unsere redaktionelle Arbeit verbessern und auch anderen Wohnungslosen Computerarbeitsplätze anbieten zu können.
Aber die Zielsetzung der internationalen Computervernetzung von "mob e.V./ strassenfeger" ist einigermaßen klar: Bislang gibt es nur lockere Kontakte zwischen den Armen- und Wohnungslosenprojekten in Deutschland, Europa und weltweit. Indem wir uns vernetzen, können wir unser gemeinsames Anliegen vorantreiben, uns schneller gegenseitig informieren, Artikel und Positionen austauschen und vor allem sehr viel schneller und effizienter gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen planen und durchführen. Wenn wir damit anfangen, werden andere nachziehen, weil sie die Vorteile sehen. Wenn Armut und Wohnungslosigkeit ein globales Problem ist, dann müssen wir auch entsprechend darauf reagieren. Das heißt zum einen, daß möglichst viele Wohnungslose die Gelegenheit erhalten sollten, dieses neue Medium für sich und ihre Zwecke zu nutzen, und zum anderen, daß strukturelle Lösungen gesucht werden müssen, um das Engagement gegen Armut, Ausgrenzung, Vertreibung und Wohnungslosigkeit auf eine internationale Ebene zu bringen und modellhafte Projekte zur Verbesserung der Lebenslage obdachloser und armer Menschen auf den Weg zu bringen.
Stefan Schneider
PS:
"www.strassenfeger-berlin.de" im Internet käme nicht zustande ohne die Hife von vielen Menschen, die aus Überzeugung und mit großem ehrenamtlichen Engagement bereit sind und bereit waren, diese Idee auch praktisch voranzutreiben. Unser Dank gilt vor allem Thomas Schulz (
SelbstHilfe - Der Mensch ist Mittelpunkt!
Nach unseren Schätzungen werden - allein im Land Berlin - im Jahr mehr als 1.000 Menschen von SelbstHilfegruppen im Bereich Wohnungslosenhilfe erreicht. Erreicht bedeutet hier, daß diese Menschen in irgendeiner Form eingebunden werden dergestalt, daß damit eine, manchmal unmittelbare, manchmal nachhaltige Verbesserung der Lebenslage erreicht wird. Setzen wir diese Zahl ins Verhältnis zu den weniger als 10.000 im Land Berlin registrierten Wohnungslosen, dann heißt dies, daß deutlich mehr als 10% der Wohnungslosen in SelbstHilfegruppen eingebunden sind. Mit Blick auf die bisher entstandenen Initiativen und Gruppierungen ist zu erwarten, daß dieser Bereich auch in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen wird, sowohl was die Vielzahl der Projekte angeht, als auch in Bezug auf den Anteil der erreichten Personen. Hinzu kommt der Anteil der Wohnungslosen, die, in welchen Formen auch immer, an den vielfältigen Aktivitäten im Bereich des ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements eingebunden sind. Das fängt an bei Menschen, die in kirchlich organisierten Suppenküchen mitarbeiten und geht weiter bei den Wohnungslosen, die bei den Tafeln als Beifahrer zum Laden tätig sind. Auch in den konventionellen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wird ein Großteil der Arbeit und der Angebote nur deshalb bestritten, weil Wohnungslose oder ehemals Wohnungslose dort tätig sind, oftmals ehrenamtlich oder mit nur geringer Entlohnung. Auch dies sind SelbstHilfepotentiale, auf die hier zurückgegriffen wird. Oftmals ist es doch so, daß Menschen, die in akuter Not waren, nach der Überwindung der schlimmsten Zeit für sich selbst das Bedürfnis entwickeln, wiederum anderen helfen zu wollen. Schon jetzt ist der Anteil von SelbstHilfe und SelbstHilfestrukturen oder Ansätzen und Potentialen dafür wesentlich größer, als wir vielleicht wahrzunehmen bereit sind.
Angesichts dieser Bedeutung von SelbstHilfe in der Wohnungslosenhilfe fordern wir
- eine systematische Finanzierung für Initiativen, Gruppen und Verbände sozialer SelbstHilfe und bürgerschaftlichen Engagements auf den Ebenen EU, Bund, Länder und Kommunen,
- Programme der Wohnungspolik, die es vorrangig Wohnungslosen und SelbstHilfegruppen ermöglichen, über Grund und Boden, Immobilien und die Finanzierung von Bauvorhaben in Eigenregie zu verfügen, ohne daß ein etablierter Hilfeträger dazwischen geschaltet werden muß,
- innovative Modelle im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, wo ganz klar beschrieben und gefordert werden muß, daß immer da, wo Obdachlose und engagierte Bürger jenseits von konventionellen Beschäftigungsformen anfangen, Arbeitsstrukturen aufzubauen, eine ganz deutliche Selbstbestimmung gegenüber den Ämtern erreicht werden muß, in dem Sinne, sich selbst eine ABM oder SAM oder IdA-Stelle schaffen zu können oder als Projekte ganze Maßnahmen gefördert zu bekommen. Und natürlich ganz klar, eine vorrangige Förderung von Arbeits- und Sozialamt bei Initiativen, die in SelbstHilfe etwas aufbauen wollen,
- die Anrechnung ehrenamtliche Arbeit in Projekten sozialer SelbstHilfe bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern: Wo SelbstHilfeinitiativen oder -potentiale da sind, sind diese auch vorrangig zu unterstützen.
Professionelle Hilfe, ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement sowie SelbstHilfe sind drei gleichberechtigte Säulen der Wohnungslosenhilfe, die sich einerseits unterscheiden und in Konkurrenz zueinander stehen, die sich aber auch in wichtigen Bereichen ergänzen. Bei allen Diskussionen um Hilfe, SelbstHilfe und Hilfe zur SelbstHilfe sollte nicht vergessen werden: Der Mensch ist Mittelpunkt, eine Bank ist kein Zuhause.
Jutta Welle/ Stefan Schneider
Editorial
Keine Frage: Looser/Strassenfeger ist die strassenzeitung zwischen Bremen und Tübingen, Berlin und Essen, Wittstock und Bensheim. Zugegeben: Die nunmehr ein halbes Jahr dauernde Zusammenarbeit zwischen den Looser-Leuten aus Südhessen und den Strassenfegern aus Berlin war auch nervig und stressig. Es ist nicht ganz einfach, redaktionelles Arbeiten über eine Distanz von 600 Kilometern zu koordinieren, ohne da§ sich jemand auf dem Schlips getreten fühlte, weil ein Artikel nicht berücksichtigt wurde oder zu spät eintraf. Dennoch: Die Zwischenbilanz ist positiv, das Vorhaben hat sich bisher ausgezahlt: Neue Verteilerstellen konnten aufgebaut werden, regionale Gruppen haben sich gegründet und weitere im Entstehen, Artikel und Spenden erreichen uns aus ganz Deutschland, auch in den Medien werden wir als die strassenzeitung zu Kenntnis genommen. Und vor allem für arme und obdachlose Menschen, die hŠufig unterwegs sind oder sein müssen, ist es ganz wichtig, auf diese bundesweit verbreitete strassenzeitung zurückgreifen zu kšnnen, um ein paar Mark zum Überleben zu verdienen. Es entsteht soetwas wie Solidarität untereinander, bisweilen auch Freundschaften. Erst kürzlich hatten wir einen VerkŠufer aus Bielefeld in Berlin zu Gast, der ganz selbstverständlich als Kollege unter Kollegen aufgenommen wurde.
Vieles ist erreicht, nicht alles ist perfekt. Wir arbeiten zur Zeit nachhaltig daran, diese Idee der Selbsthilfe weiter zu verbessern: Eine übersichtlichere Gestaltung, ein klareres redaktionelles Profil, weitere Verteilerstellen, neue Partner und Gruppen, bundesweit. Damit diese Gazette schon bald das wird, was sie jetzt (in AnsŠtzen) schon ist: die strassenzeitung! Seien Sie gespannt, wir sind es auch!
Stefan Schneider & Werner Picker
Unterkategorien
Selbsthilfehaus O12
Das Selbsthilfewohnhaus jetzt!
Das Selbsthilfe(wohn)haus von mob e.V.
Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich.
Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob – obdachlose machen mobil e.V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative in Stand gesetzt und modernisiert.
Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und 2 Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von obdachlosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Obdachlosen ein sehr ehrgeizigen Sanierungsvorhaben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen.
Der Verein verwaltet die Häuser selbst und hat deshalb einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an obdachlose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsscheinen (WBS) vergeben.
Stand: 09.05.2006