
Vortrag von Bärbel Krämer am 23.06.2010 bei Paula Panke
anläßlich der Aktionswoche zur Nationalen Armutskonferenz -
Arm in einem reichen Land: Gemeinsam gegen Frauenarmut
Präsentation Armut ist weiblich.pdf
Frauen tragen aufgrund ihres Geschlechts immer noch ein durchgehend erhöhtes Armutsrisiko. Schaut man sich die Ergebnisse des ersten Gender - Datenreports der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen an, so wird deutlich, dass Männer und Frauen nicht in gleichen Maßen von Armut bedroht oder betroffen sind. Neben der immer noch klaffenden Schlucht von 25% [1] im Verdienst zwischen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen und Männern, ist die Gruppe der Alleinerziehenden und im speziellen der alleinerziehenden Mütter die, die am stärksten von Armut bedroht oder betroffen ist.
Nun macht die Analyse der Zahlen einiges bewusst, jedoch liefert der Datenreport keine Ursachen für die herrschenden Verhältnisse. Auf Spurensuche begeben sich SoziologInnen, SozialwissenschaftlerInnen und im besten Falle PolitikerInnen.
Eines wird bei der Auseinandersetzung mit der Thematik jedoch überdeutlich: Die Benachteiligung von Frauen resultiert aus ihrer Gebärfähigkeit und aus der geschlechtsspezifischen Zuordnung der Gesellschaft.
Frauen werden arm, weil sie nicht in einer „Normalfamilie“ leben. Obwohl Menschen heute angeblich aus einer Vielzahl von Lebensformen auswählen könnnen, führt ein Abweichen von der „Normalbiografie“, zu der Ehe und festgelegte Geschlechtsrollen gehören, oft zu Armut. Eine Umgestaltung des Ehegattensplittings, das vor allem den Tatbestand der Ehe und alleinverdienende Ehemänner subventioniert, steht nicht (mehr) auf der Agenda der Regierungsparteien. Geschiedene und alleinlebende Frauen sind weit eher von Armut betroffen als „Familienfrauen“ und haben auch im Alter keine besseren Aussichten. „Alleinerziehende“ Frauen, die am Ärmsten dran sind, wehren sich mit Recht dagegegen, per se als arme Frauen zu gelten. Viele haben sich diese Lebensform selbst gewählt, oder sie erscheint ihnen erstrebenswerter, als das Aufrechterhalten einer unerträglichen Beziehung. Dennoch werden sie zu Bittstellerinnnen gegenüber dem Staat gemacht und sind kontrollierbar.
Im Mai 2003 lebten in Deutschland 2,5 Millionen „Einelternfamilien“, 85% waren Mutterfamilien. 26,3% waren auf Sozialhilfe angewiesen. Erschwerter Zugang zu Erwerbstätigkeit und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten waren die wichtigsten Ursachen. Der Armutsrisikoquotient betrug bei den Alleinerziehenden im Jahre 2003 35,4% während bei „Normalfamilien“ (2 Erwachsene mit Kindern) 11,6% betrug. Seit 1.1.2005 müssen Frauen, die keinen finanzstarken Partner in ihrer Bedarfsgemeinschaft haben, Erwerbsarbeit leisten. Dies, obwohl in der BRD 27 Erwerbslose auf eine offene Stelle kommen und sie sich einer ständig schwindenden Zahl von Kindertagestätten und Kindergartenplätzen mit kontinuierlich steigenden Kosten gegenüber sehen [2].
Zu Beginn ihrer Karriere erhalten Männer und Frauen heutzutage für die gleiche Arbeit in den meisten Berufen in etwa das gleiche Gehalt und es entwickelt sich auch weitestgehend parallel bis ungefähr Mitte 30. Dann plötzlich steigen die Männergehälter weiter an, die der Frauen hingegen fallen zurück, und die Lücke zwischen den Einkommen wird immer größer.
Grund dafür ist, dass Frauen Kinder kriegen und ihre Karriere unterbrechen. Zwar steigen viele später wieder in den Beruf ein, verrichten dann aber in aller Regel andere Tätigkeiten als ihre männlichen Kollegen, die keine Karrierepause hatten und bekommen dafür auch weniger Lohn.
Mit zunehmendem Alter vergrößert sich die Einkommensdifferenz zischen den Geschlechtern. In den Altersgruppen der 55- bis 65- jährigen entfielen nur ca. 21% der weiblichen aber noch rund 37% der männlichen Bevölkerung auf ein monatliches Nettoeinkommen von über 1500 Euro [3].
Frauen haben in Deutschland eine durchschnittliche Rente von 650€ [4], die Renten für Männer sind im Durchschnitt doppelt so hoch. Die Ursachen hierfür liegen in den geringeren Beitragszeiten, die vor allen Dingen durch Unterbrechung der Erwerbstätigkeit wegen Kindererziehung begründet sind und in den niedrigeren Beiträgen, die Frauen auch in vergleichbaren Tätigkeiten erzielen.
Der maximale Freibetrag, der Frauen bei der Grundsicherung zugestanden wird beträgt 13.000€ (im 65. Lebensjahr). Bei einer Geldanlage in dieser Größenordnung kann eine Rente in Höhe von 65.00€ [5] monatlich erwartet werden. Seit Jahren wirbt die Politik darum, dass wir mehr private Vorsorge für unser Alter treffen. Das ist für Frauen noch viel notwendiger als für Männer. Frauen, die nun gezwungen sind, ihre Altersvorsorge aufzubrauchen, empfinden das gelinde gesagt als Zumutung und fühlen sich getäuscht. Eine 58jährige, die nun versucht, sich selbstständig zu machen, drückt es so aus: „Ich habe immer darauf gespart , dass es mir im Alter besser geht, das war nun alles umsonst. Diejenigen, die uns geraten haben, für das Alter vorzusorgen und nun dafür gesorgt haben, dass ich alles verliere, haben wohl keine Probleme damit; deren Pensionsansprüche sind nicht hartzgefährdet.
Gleichzeitig besteht eine große Diskrepanz in der Entlohnung der unterschiedlichen Tätigkeiten. Partnerschaftlichkeit bringt weniger Geld als Durchsetzungskraft und Lautstärke.
Konkret bedeute das: Wer eine gewisse "Habituskultur" an den Tag legt, wer nach Macht strebt, gern viel arbeitet und seine Ellbogen einsetzt, ist im Beruf erfolgreich. "Eigenschaften wie Partnerschaftlichkeit, die mit Frauen in Verbindung gebracht werden, gelten als weniger wert und werden schlechter entlohnt als Durchsetzungskraft und Lautstärke", sagt Julia Nentwich [6], Dozentin am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität St. Gallen. Das Gleiche gelte im Übrigen für Berufe, in denen typisch weibliche Eigenschaften gefragt sind, etwa Krankenschwester oder Erzieherin.
Die Folgen: Selbst im Lehramt an Grundschulen, einem frauendominierten Beruf, findet man überdurchschnittlich viele Männer in den Führungspositionen. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der gläsernen Rolltreppe. Viele Frauen stoßen dagegen irgendwann auf ihrem Karriereweg, meist unterhalb des oberen Managements, an die sogenannte gläserne Decke. Die Zahlen dazu liefert der Gender - Datenreport in der Statistik zu „Durchschnittliche Bruttoverdienste der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin 2008 nach Wirtschaftsbereichen und Geschlecht“
Nun will ich aber nicht ausschließlich auf die Problematik der Besserverdienerinnen eingehen sondern auch über die Frauen sprechen, die bereits von Armut direkt bedroht oder betroffen sind. Gemessen wird dies in Deutschland meist an der relativen Armutsgrenze. Relative Armutsgrenzen sind Ungleichheitsmaße. Bei ihnen wird ein bestimmter Grad an Abweichung vom gesellschaftlichen
Durchschnittseinkommen als Armut definiert. Üblich sind hier 40%, 50% und 60% Grenzen. Wer also zum Beispiel: weniger als 50% des Durchschnittseinkommens erzielt, gilt nach der 50% - Armutsgrenze als arm [7].
Anhand dieser Armutsgrenze wird beispielsweise der Arbeitslosengeld II - Satz berechnet und dies bedeutet ganz konkret, dass Menschen, deren Einkommen unterhalb dieser Grenze angesiedelt sind, als arm gelten.
In Berlin lag die Armutsgefährdungsschwelle im Jahr 2008 bei 731 Euro [8].
Bei meiner Arbeit als Dozentin bei einem Träger für Mehraufwandsentschädigungsmaßnahmen,d.h. „Ein-Euro-Jobs“, habe ich die Gelegenheit mit Frauen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen zu sprechen.
Meine Erfahrungen in diesem Bereich sind, dass die Frauen in den meisten Fällen einer Doppelbelastung ausgesetzt sind. So habe ich mich beispielsweise mit einer Frau unterhalten, die während ihrer 30-stündigen MAE - Tätigkeit ihren krebskranken Mann bis zum Tod gepflegt hat und gleichzeitig noch zwei Kinder zu betreuen hatte.
Die erste Frage, die ihr nach dem Tod ihres Mannes im Jobcenter gestellt wurde, war, was sie denn nun mit den Schulden ihres Mannes vor hätte und ob es ihr klar wäre, dass diese jetzt auf die beiden Töchter umgelegt werden.
Oder eine andere Frau, die neben ihrer 30-stündigen MAE - Tätigkeit ihre demente Mutter zuhause versorgte und sich gleichzeitig um ihren suizidgefährdeten und an Epilepsie erkrankten Sohn kümmerte und die nach dem Auszug des Sohnes um ihre Wohnung kämpfen musste, weil sie 50 Euro über dem Satz lag. Nun könnte man behaupten diese Fälle sind Einzelfälle, jedoch habe ich diese
Erfahrung ganz und gar nicht gemacht.
Klagt Ulrike Herrmann [9] in ihrem Buch „Hurra, wir dürfen zahlen: Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ den Realitätsverlust der Mitte an und schildert darin ein Land, das sich zwar gern als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ sieht, in Wirklichkeit aber extrem ungleich ist, so ist dies in den Jobcentern bereits harte Realität.
Denn diese Frauen haben nicht nur mit ihren persönlichen Einzelschicksalen zu kämpfen, sondern auch mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung, wird doch die soziale Absicherung dieser Frauen heutzutage selbst in hohen politischen Kreisen als „spätrömische Dekadenz“ [10] degradiert.
Die Mühlen der Jobcenter mahlen langsam in Frauen-Fragen. So hatten Ende 2007 fast 40% der Grundsicherungsstellen noch keine Beauftragten für Gleichstellungsfragen benannt.
Ohne Recht bleibt Moral Deklaration - Recht ohne Moral führt in Willkür - und beide Extreme führen in Barbarei.
Werte bewähren sich gerade dann, wenn eben „keine Not“ besteht, wenn Verarmung trotz Massenhaftigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund zu treten scheint, also z.B. Solidarität sich nicht nur an präsentem Leiden (als Mitleid), sondern sich an einer eigenständigen und stabilen Gesellschaftssicht festmacht.
Dazu kommt, dass die Hartz- Gesetze geschlechtsblind sind. Sie behandeln formal die Geschlechter gleich, allerdings ohne dass für diese die realistische Möglichkeit besteht, sich gleich zu verhalten.
Bei einem hilfebedürftigen Paar mit einem Kind heißt das beispielsweise: Der Arbeitsvermittler ist in erster Linie daran interessiert, den Mann in einen Vollzeitjob zu vermitteln. Sofern dies gelingt und die neue Stelle ausreichend bezahlt ist, überspringt die Familie die Bedürftigkeitsschwelle und die Grundsicherungsstelle ist nicht weiter zuständig.
Die Frau in den Arbeitsmarkt zu integrieren, hat für den Arbeitsvermittler dagegen eine geringere Priorität. Denn oft würde sich dies schwieriger gestalten: Zuerst müsste, im Falle der noch immer verbreiteten traditionellen familiären Arbeitsteilung, eine Betreuungsmöglichkeit für das Kind gefunden werden. Häufig wären umfangreiche Weiterbildungsmaßnahmen nötig, um die Frau in die Lage zu versetzen, ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen zu erzielen, denn klassische Frauenberufe sind, wie wir vorhin schon gehört haben, unterdurchschnittlich bezahlt.
Trotz ihres Auftrags „in Bedarfsgemeinschaften alle erwerbsfähigen Mitglieder zu aktivieren“ begnügen sich viele Arbeitsvermittler in der Praxis damit, dass Frauen Kinder betreuen und allenfalls in Mini- oder Teilzeitjobs mit wenigen Stunden arbeiten [11].
Gleichzeitig fand im Allgemeinen eine Verschiebung von der Vollzeit zur Teilzeitbeschäftigung statt. Zwischen den Jahren 2000 und 2008 ist der Anteil von Teilzeitbeschäftigung bei den Männern von 7,5% auf 11,4% gestiegen, bei den Frauen von 25,2% auf 30,1% [12].
Dass die bei der Mittelvergabe gesetzlich vorgesehene Frauenförderquote oft nicht eingehalten wurde, blieb meist folgenlos. Bessere Gleichstellungsangebote bei einigen Grundsicherungsstellen gehen einer Studie der Böckler - Stiftung zufolge meist auf das Engagement einzelner Mitarbeiter oder Anstöße aus der Kommunalpolitik zurück.
Wie groß die Diskrepanz bei der Förderung von Frauen und Männern ist, zeigen auch die Daten des Gender - Index für Deutschland: Im Jahr 2007 bekamen von 1.000 männlichen Langzeitarbeitslosen in vielen Regionen mehr als 40 Eingliederungszuschüsse, um wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Bei Frauen lag der Wert meist unter 20.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Frauen in vielfältiger Weise von Armut bedroht oder betroffen sind. Sei es die Altersarmut von Frauen die ihre Kinder zuhause betreut hatten, evtl. nie einen Beruf erlernt haben und somit im Rentensystem den niedrigsten Rang einnehmen oder die größte von Armut bedroht oder betroffene Gruppe der alleinerziehenden Mütter, die neben der Organisation ihres Alltags auch für die Finanzierung dieses Alltags in die Pflicht genommen werden.
Ursachen für die Armut von Frauen sind:
- Sie arbeiten in schlechter bezahlten Berufen
- Sie stehen oft in ungeschützten oder geringfügigen Arbeitsverhältnissen
- Sie arbeiten in Teilzeit
- Viele Unternehmen bieten weiblichen Mitarbeiterinnen keine Aufstiegschancen
- Sie bekommen durch unterbrochene Erwerbsbiografien weniger Rente
- Steuerfreibeträge, das sogenannte Ehegattensplitting, etc. kommt dem Mann zu gute, der individuell darüber entscheidet, inwieweit er diesen Ausgleich an die Frau/Familie weitergibt
- Sie nach einer Trennung oder Scheidung häufig über kein eigenes Einkommen verfügen.
- Der Ex- Partner keinen Unterhalt zahlen kann, will oder muss.
- Sie Allein erziehend sind, d.h. für sich und ihre Kinder sorgen müssen
In einem Forderungskatalog zur Vermeidung von Frauenarmut in Berlin sollte
deswegen stehen:
- Durchgehende Zahlung staatlicher Vorleistung bei Unterhaltsgeldzahlung bis zur Selbstständigkeit der Kinder
- Gleiche Bezahlung von Frauen für gleiche Leistung
- Verbesserung der Vereinbarkeit von Kind und Beruf
- Quotenregelung für Führungskräfte
- Schaffung von gesellschaftlichen Strukturen die den Bedürfnissen von Frauen besser Rechnung tragen
- Unterstützung frauenfördernder Unternehmenspolitik
Fazit:
Frauenarmut ist ein gesamtgesellschaftliches Problem!
Eine Gesellschaft, die Frauen wertschätzt, verhindert ihre Armut
Für die Zukunft wird das Verteilen der Armensuppe nicht mehr ausreichen. Es wird notwendig, den Mechanismen nachzuspüren, die die zunehemde Armut bewirken und daraus echte Reformsätze zu entwickeln. In diesem reichen Land geht es nicht allen schlechter. Die Reichen können einen weitern Anstieg ihres Vermögens und Einkommens verzeichnen. 5 Billionen Euro Nettovermögen wurden inzwischen angehäuft. Ein Zehntel der Haushalte verfügen über 47% des Reichtums. Reichtum vererbt sich – Armut ebenso. Wenn Armut vor allem durch Erwerblosigkeit verursacht wird, so wird eine Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen (bezahlt und unbezahlt geleisteten Arbeit) ebenso notwendig wie eine Umverteilung des Reichtums. Wenn Armut mit dem Abweichen von der „Normalfamilie“ zu tun hat, wird es dringend notwendig, dass alle Lebensformen gleiche Existensbedingungen genießen [13].
Fussnoten
[1] Gender Datenreport, 1.Einkommen und Verdienste, S.1, Berlin 2009
[2] Gisela Notz: “Warum Armut (oft) weiblich ist, Sozialistische Zeitung
[4] Verbraucher News,“Frauen leben länger, aber wovon?“11/2004
[5] Frauenfinanzdienst,“ Hartz IV und seine Folgen für Frauen“09/2004
[6] brand eins Online:“Die Besserverdienerinnen“-brand eins 04/2009
[7] Carsten G. Ullrich: Soziologie des Wohlfahrtsstaates, S.124, Campus Verlag 2005
[8] Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Tabelle A2 Armutsgefährdungsschwelle nach Haushaltstyp
[9] Tagesspiegel:“ Die teure Angst vor der Unterschicht“-Tagesspiegel, 12.04.2010
[10] Westerwelle, G:“An die deutsche Mittelschicht denkt niemand“-Welt Online, 11.02.2010
[11] Böcklerimpuls,“Jobcenter: Frauen stehen hinten an“-Böcklerimpuls 20/2009
[12] Gender Datenreport, 1 Erwerbsbeteiligung, S.1, Berlin 2009
[13] Gisela Notz,“ Wrum Armut (oft) weiblich ist, Sozialistische Zeitung
Die BAG Wohnungslosenhilfe plant eine Kampagne mit dem Titel Der Sozialstaat gehört allen! vom 21. - 30. September 2010. Die zentrale Veranstaltung findet am 23. September 2010 auf dem Alexanderplatz in Berlin statt. Ich finde diese Kampagne nicht nur gut, denn üblicherweise präsentieren sich hier die bekannten Wohlfahrtskonzerne, die mit Armut und Wohnungslosigkeit ihre Profite erwirtschaften und sich gerne als Wohltäter feiern lassen. Wohnungslose selber werden erwartungsgemäß eher am Rande in Erscheinung treten. Dabei müsste es genau genommen umgekehrt sein. Aber es gibt Beispiele, in denen Wohnungslose und Arme sich erfolgreich selbst organisieren und es ist zu hoffen, dass sich diese Organisationsformen hinreichend Gehör schaffen.
Weil aber der Aufruf an und für sich nicht schlecht ist, veröffentliche ich hier nochmal gerne:
Der Sozialstaat gehört allen!
Menschen in Armut und Wohnungsnot haben ein Recht auf Wohnen, Arbeit, Gesundheit!
Eine Aktion der BAG Wohnungslosenhilfe im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung
Die Europäische Union hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erklärt. Auch die Bundesregierung hat sich damit verpflichtet, „einen entscheidenden Beitrag zur Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ zu leisten und das „Grundrecht der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen auf ein Leben in Würde und auf umfassende Teilhabe an der Gesellschaft“ anzuerkennen. (Beschluss der EU vom 22. 10. 2008)
Die Bundesregierung lässt jedoch extreme Armut, Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot, die immer untragbareren Gesundheitskosten für Arme und die Zunahme der Wohnungslosigkeit unter den jungen Bürgerinnen und Bürgern unbeachtet. Stattdessen wird von Teilen der Bundesregierung in beispielloser Weise gegen Arbeitslosengeld II-Beziehende Stimmung gemacht. Aber nicht nur Politiker, auch Feuilleton und Interessenverbände in Wirtschaft und Wissenschaft polemisieren gegen Arme und Ausgegrenzte: Die SGB II-Regelsätze, die sog. HARTZ IV-Leistungen, seien zu üppig; ALG II-Beziehende sollten Sachleistungen für sich und ihre Kinder erhalten, weil sie das Geld nur für Alkohol, Tabak und Junk Food ausgäben, die Kosten für ihre Wohnungen sollten pauschaliert werden, damit sie lernten sich zu bescheiden.
Wir sind der Überzeugung, dass Wohnungslosigkeit, Wohnungsnot und soziale Ausgrenzung im „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ auf die Tagesordnung in Deutschland gehören.
Wir rufen Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker, gesellschaftliche Verbände und Organisationen auf, sich an der Kampagne „Der Sozialstaat gehört allen!“ zu beteiligen.
. . . und morgen ohne Wohnung?
In Deutschland sind nach Schätzung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. ca. 223.000 Menschen wohnungslos, 20.000 von ihnen leben ganz ohne Unterkunft auf der Straße. Im letzten Winter sind mindestens 18 wohnungslose Männer auf der Straße, in Erdhöhlen, auf Parkbänken, in Hauseingängen erfroren. Bisher hatte keine Bundesregierung ein Interesse daran, eine offizielle Statistik zur Erfassung der Wohnungslosigkeit einzuführen.
Zu viele Menschen sind vom Wohnungsverlust unmittelbar bedroht: Nach Schätzung der BAG W sind dies ca. 103.000 Menschen bzw. ca. 53.000 Haushalte.
Der Bestand an öffentlich gefördertem und damit preiswertem Wohnraum nimmt überall ab, da die Belegungsbindungen sukzessive auslaufen. Diese Tendenz des knapper werdenden gebundenen Mietwohnungsbestandes wird befördert durch den Verkauf kommunaler und landeseigener Wohnungsbaubestände an private Investoren.
In vielen Städten und Gemeinden fehlt somit Wohnraum zu angemessenen Preisen. Die Mietobergrenzen sind zu niedrig angesetzt, insb. mangelt es an preiswerten Klein- und Großwohnungen.
Mietkautionen müssen i. d. Regel sofort in Raten zurückgezahlt werden, die vom Regelsatz abgezogen werden. Diese rechtswidrige Praxis zusammen mit den nicht an den örtlichen Mietspiegeln angepassten Mietobergrenzen und der pauschalen Begrenzungen der Betriebs- und Heizkosten ist für viele arme Haushalte ein weiterer Schritt in die Verschuldungsspirale, die letztlich zu Mietrückständen und damit zu Wohnungsverlusten führen kann.
Sollten die Kündigungsfristen – wie im Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen verankert – generell auf drei Monate gesenkt und die Kosten der Unterkunft sowie der Mietnebenkosten im Rahmen von Hartz IV pauschaliert werden, ist ein Ansteigen der Zahl von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen bzw. wohnungsloser Menschen nicht auszuschließen.
Man müsste noch mal 20 sein . . . .!?
Arbeitslose junge Erwachsene unter 25 Jahren erhalten Leistungen für Unterkunft und Heizung in einer eigenen Wohnung nach dem SGB II nur, wenn der kommunale Träger diese vor Abschluss des Mietvertrages zugesichert hat. Bei vielen dieser jungen Leute ohne Job und ohne Ausbildung sind die Auszüge aber nicht geplant und gut vorbereitet; oft fliehen sie vor unhaltbaren häuslichen Verhältnissen oder werden von den Eltern vor die Tür gesetzt. Viele landen in außerordentlich prekären und nicht selten von Gewalt und Missbrauch geprägten Lebenssituationen. Der Anteil der jungen Frauen und Männer unter den Wohnungslosen ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen.
Darüber hinaus kommt es bei U-25-Jährigen häufig zu Sanktionen, sogar in nicht wenigen Fällen zu 100%-Kürzungen. Die Sanktionsquote bei den U-25-Jährigen liegt bei 10 % und ist damit mehr als dreimal so hoch wie bei den über 25-Jährigen. Hauptursache für Sanktionen sind mit einem Anteil von über 50% Meldeversäumnisse, d.h. Termine bei der Arbeitsvermittlung oder dem Ärztlichen Dienst wurden nicht eingehalten.
„Ohne Arbeit, keine Wohnung - ohne Wohnung, keine Arbeit“
Dauerhaft hohe Arbeitslosenraten, insb. der Langzeitarbeitslosigkeit, die schnelle Abnahme niedrig qualifizierter Arbeitsplätze, ohne dass gleichzeitig die Chance für alle auf einen qualifizierten Arbeitsplatz besteht, die rapide Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse – dieses sind Kennzeichen des Arbeitsmarktes. 90 % der wohnungslosen Männer und Frauen sind arbeitslos, zumeist langzeitarbeitslos. Sie haben oft ein Einkommen, das noch unter den Eckregelsätzen des SGB II / XII liegt, viele verfügen über gar kein Einkommen. Der Teufelskreis „Ohne Arbeit, keine Wohnung - ohne Wohnung, keine Arbeit“ muss durchbrochen werden, denn das Ziel einer sozialen Arbeitsmarktpolitik muss es sein, den Lebensunterhalt über Erwerbsarbeit zu sichern.
. . . es geht doch auch ohne?! Gesundheitsversorgung – ein Luxus?
Trotz eines Einkommens, das oft unter dem Existenzminimum liegt, müssen Wohnungslose Praxisgebühren und Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln leisten. Ihr Gesundheitszustand ist entsprechend besonders schlecht.
Arme PatientInnen sparen an der gesundheitlichen Versorgung und riskieren damit eine Verschleppung und Chronifizierung ihrer Krankheiten, die letztlich zu steigenden Kosten im Gesundheitssystem führen können. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Arztkontakte bei Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand und geringem Einkommen reduziert. Im Jahr 2006 gaben die bundesdeutschen Haushalte im Durchschnitt 83,00 € / Monat für Gesundheitspflege aus; Einpersonenhaushalte 67,00 €, Haushalte in der untersten Einkommensklasse (bis 1.300,- netto) 25,- €. In dem HARTZ IV-Regelsatz für einen Einpersonenhaushalt sind 14,- € monatlich für Gesundheitspflege vorgesehen.
Die in extremer Armut lebenden wohnungslosen Männer und Frauen wären nahezu gänzlich von der gesundheitlichen Versorgung abgekoppelt, wenn es nicht vor Ort medizinische Versorgungsangebote für Wohnungslose gebe oder die Wohnungslosenhilfe nicht für ihre Klientinnen und Klienten Praxisgebühren, die Kosten für Brillen und weitere Zuzahlungen übernehmen. Diese Grundversorgung ist aber in hohem Maße abhängig von Spenden und freiwilligem Engagement.
Wir fordern:
- für alle Bürgerinnen und Bürger eine menschenwürdige, bedarfsgerechte und preiswerte Wohnraumversorgung: Bis 2015 soll niemand mehr auf der Straße schlafen müssen!
- ein Verfassungsrecht auf Wohnen und eine feste Verankerung der Wohnungspolitik auf der Ebene des Bundes
- eine bedarfsgerechte Grundsicherung
- für alle Bürgerinnen und Bürger eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung
- einen Existenz sichernden Mindestlohn
Denn: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“ (Artikel 25 der UN Menschenrechtscharta)
Notwendig sind:
- der konsequente Ausbau der Prävention von Wohnungsverlusten, u. a. durch die Förderung von Zentralen Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungsverlusten und die Übernahme von Schulden für Unterkunft und Heizung auch als Beihilfe
- der Erhalt der gesetzlichen Rahmenbedingungen des Mieterschutzes
- ein SGB II – Regelsatz, der anhand eines aussagefähigen Statistikmodells ermittelt wird und die tatsächlichen Verbrauchskosten berücksichtigt
- verbindliche Kriterien zur Festlegung der Mietobergrenzen - keine Pauschalierung der Kosten der Unterkunft; eine sozialräumliche Differenzierung dieser Mietobergrenzen sowie Einzelfallprüfungen zur Angemessenheit der Miete
- Abschaffung der Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft
- ein Ende des staatlich festgelegten Auszugsverbots für junge Frauen und Männer, die weder über gut situierte Eltern noch über einen Arbeitsplatz verfügen
- ein Rahmen für die soziale Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt; Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen müssen einen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten
- die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlun-gen bei Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln sowie die Abschaffung der Praxisgebühren für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II - und XII – Leistungen
- Härtefallregelungen bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Hilfsmitteln
- eine reguläre Finanzierung der niedrigschwelligen medizinischen Projekte für Wohnungslose durch Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Kommunen
Der Sozialstaat gehört allen!
Menschen in Wohnungsnot haben ein Recht auf Wohnen, Arbeit, Gesundheit!
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Schon seit einigen Jahren haben sich in den Städten neue Straßenszenen gebildet. Zu den bereits bekannten Gruppen der Stadtstreicher, Berber, verarmten ortsansässigen Bürger oder Tagesobdachlosen gesellen sich jetzt Migranten, Aussiedler und vor allem Alkoholkranke, „Tagelöhner“ aus den osteuropäischen Ländern, die sich nach der Öffnung der EU-Grenzen illegal aufhalten und keinerlei soziale Perspektiven haben. Sie stellen ein neues Subproletariat dar.
Matthias Röhrig, Wiesbaden:
Was bei uns den Ausländeranteil ausmacht, so teilt sich das etwa in zwei Bereiche auf: Wir haben viele US-Amerikaner, viele Europäer, etwa aus Holland und Luxemburg, die auf Durchreise sind. Sie sind ein paar Tage hier und verschwinden wieder. Dann tauchen sie nach ein paar Monaten wieder auf und bleiben einige Tage. Diese bekommen dann auch den Sozialhilfetagessatz ausgezahlt. Sie ziehen im Rhein-Main-Gebiet umher und bilden eine wachsende Gruppe. Und dann gibt es noch eine ganz problematische Gruppe, die neuen Europäer. Und besonders die aus Polen, denen auch vom Gesetzgeber unterstellt wird, dass sie hier einreisen, um Arbeit zu suchen. Deswegen bekommen sie auch keine Sozialleistungen und sind nicht krankenversichert. Sie haben einen Lebenswandel, der durch das Draußen-schlafen-müssen hohe gesundheitliche Risiken mit sich bringt. Sie dürfen nicht in der städtischen Obdachlosenunterkunft übernachten, weil das über die Sozialleistungen läuft. Das heißt, sie müssen draußen schlafen. Die meisten sind Alkoholiker. Sie trinken wenig Bier und Wein, hauptsächlich die harten Sachen. Und das greift natürlich die Schleimhäute an so dass wir immer wieder Leute haben mit Rachenkarzinomen, Leberzirrhosen und wirklich schweren Hautkrankheiten. Denen können wir kaum weiterhelfen. Sie können zwar in unsere medizinische Versorgung kommen, aber eine Krankenhausbehandlung ist unmöglich. Was passiert mit diesen Leuten? Da muss man einfach warten, bis sie irgendwo auf der Straße zusammenbrechen, und dann werden sie ins Krankenhaus transportiert. Sie können dann erst entlassen werden, wenn sie einigermaßen wiederhergestellt sind. Aber so etwas passiert wirklich nur in lebensbedrohlichen Notfällen.
Außer den Polen sind das Menschen aus Litauen, Estland, Lettland, Rumänien oder Bulgarien. Und immer wieder Sinti und Roma, die staatenlos sind. Es ist immer wieder eine Herausforderung, wenn sie hier auftauchen und ihre Sprachprobleme haben. Dazu kommt, dass die meisten gar nicht mehr arbeiten können. Da sind viele, die mal als Saisonarbeiter hierher gekommen sind. Es kommen auch Leute, die selbständig waren und hier gearbeitet haben, etwa eine Baufirma hatten oder als Subunternehmer tätig waren, sich aber im Steuerrecht nicht auskannten und ruck-zuck eine Million Steuerschulden angehäuft haben, die sie nicht mehr bezahlen konnten. Seitdem sind sie wohnungslos und haben keine Chance mehr. Wir nennen diese Gruppe Osteuropäer. Damit ist dann weniger über ihren Status gesagt. Im Gegensatz zu den Westeuropäern, die Sozialhilfe beantragen können, gibt es mit den neuen EU-Ländern noch keine zwischenstaatlichen Abkommen. Ich vermute, dass die Politik ganz bewusst noch keine Abkommen geschlossen hat, weil sie sich davor fürchtet, dass vielleicht alle Leute aus Polen, Rumänien und Litauen hierher kommen und Kosten verursachen.
Quelle: Wohnungslose Menschen: Ausgrenzung und Stigmatisierung.
Jürgen Malyssek (Autor), Klaus Störch (Autor)
ISBN-10: 3784118674
ISBN-13: 978-3784118673
Die allermeisten sind unzufrieden. Mit gutem Grund. Zu lächerlich ist auch der Selbstbetrug einer Gesellschaft, die sich als "die beste aller Welten" ausgibt und deren Reisebüros mit dem Slogan "Nix wie weg!" Reklame machen.
Was ist es, das uns stinkt? Daß das Leben so hektisch geworden ist, daß es so kalt ist, daß Aggressivität und Gewalt immer mehr zunehmen, daß der Lärm immer unerträglicher wird, daß wir für "die da oben" nicht zählen, daß wir keinen Einfluß auf lebenswichtige Entscheidungen haben, daß sich die Leute einander nicht mehr zuhären kännen, daß alle immer weniger Zeit haben, daß alles zubetoniert wird, daß nur noch das Geld regiert und der Mensch nicht mehr zählt, daß immer mehr von uns vereinsamen, süchtig werden, daß Krebs und Allergiekrankheiten immer häufiger werden........ man könnte Seiten füllen. Wir haben allen Grund, uns ein besseres Leben zu wünschen.
Aber wie kam es denn zu diesen Zuständen? Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Es wurde hart daran gearbeitet. Generationen und Abermillionen von Menschen haben für die Welt geschuftet, in der wir heute leben müssen. Und wir selbst arbeiten jeden Tag weiter an der Befestigung dieser Zustände. Rücksichtslos und unerbittlich wird unser Planet verschandelt, aufgerissen, zubetoniert, vergiftet - angetrieben allein von den kalten Gesetzen des Marktes, des Geldes, der Warenproduktion. Ausgebrochen ist dieser Wahn in Europa vor ein paar hundert Jahren zusammen mit dem aufkommenden Kapitalismus und "wir" haben uns seitdem redlich darum bemüht, die ganze Welt damit zu beglücken. Jetzt haben wir's: die Existenz von Mensch und Natur steht buchstäblich auf der Kippe. Dieses stolze Ergebnis hat die "Arbeit" vorzuweisen.
Um Mißverständnisse auszuschließen: Natürlich muß der Mensch was tun. Menschliches Leben heißt immer gemeinschaftliches Hervorbringen von Dingen, Verhältnissen und Beziehungen, heißt sich sorgen und genießen, sich anstrengen und lachen, sich streiten und lieben.....und tausend Dinge mehr. Der Stoffwechselprozeß mit der Natur ist Grundlage menschlicher Existenz. Aber die Untergrabung der Grundlagen menschlicher Existenz - das ist das Werk der "Arbeit". Und nicht zuletzt dafür kritisieren wir sie.
Die "Arbeit" hat es beileibe nicht immer gegeben. In alten Sprachen Vergleichbares für unseren heutigen "Arbeits"-Begriff zu finden, ist schwierig bis unmöglich. Erst in dem Maße, wie sich die Warenproduktion entwickelt hat, erblickte auch die "Arbeit" das Licht der Welt. Sie beherrscht die Menschen als etwas Äußerliches, Fremdes, von ihnen Abgespaltenes. "Arbeit" ist nur eine Seite eines gesellschaftlichen Zustands, dessen andere Seiten "Kapital", "Warenproduktion" und "Geld" heißen. Arbeit ist (variables) Kapital.
Das Kapital und die Arbeit sind nur zwei, wenn auch widersprüchliche, Seiten einer Medaille. "Business as usual" und "Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz". Und wenn er die größte Scheiße hervorbringt. Egal, ob wir AKWs, Handies, noch ein paar Millionen mehr Autos, Eurofighter, Laubsauger oder Tamagotchis herstellen, egal, ob uns die Arbeit entfremdet, sinnentleert, krankmacht, verarmt - wir wollen Arbeit! Egal, ob der Regenwald kaputtgeht und das Ozonloch wächst, wir brauchen Wachstum! Sagt das Kapital. Und die Arbeit.
Im Hintergrund regiert der "Wert" - eine völlig abstrakte Größe, die von allen konkreten Eigenschaften der Dinge, Verhältnisse und Menschen absieht und mit unnachgiebiger Härte die nackte, inhaltsleere gegenseitige "In-Wert-Setzung" alles und jedes diktiert. "Wert", "Ware", "Arbeit", "Geld" und "Kapital" - die uns beherrschen - geht es nicht um die eigentliche Bedürfnisbefriedigung, sie betätigen sich als leerer Selbstzweck. Die Ware verlangt nach immer mehr Ware, der Konsum nach immer mehr Konsum, das Geld nach immer mehr Geld, das Kapital nach immer mehr Kapital, die Arbeit nach immer mehr Arbeit. Was konkret gearbeitet, konsumiert, umgesetzt, verzinst wird, ist völlig schnuppe. Ob Hundedreck, Heiratsvermittlung, Kalbshaxe, Kokain oder Atomkraftwerk - Hauptsache, es läßt sich verkaufen, Hauptsache, Geld und Kapital vermehren sich, Hauptsache Arbeitsplatz.
So werden wir von den abstrakten Notwendigkeiten der "Verwertung des Werts" beherrscht, so können wir keine ganzheitlichen, im bewußt gestalteten Zusammenhang miteinander stehenden Menschen sein, sondern vereinzelte und vielfach gespaltene Individuen, die ohne Geld nichts sind. Dieses Verhältnis ist auch der Hintergrund des allgemeinen Wachstumswahns. Hauptsache immer mehr. Was und warum, also die eigentlichen, die inhaltlichen Fragen, werden nicht gestellt. Umweltzerstörung, Genmanipulation, Rüstung ebenso wie Vereinsamung, Brutalität und Sinnentleerung - das sind die zwangsläufigen Folgen des "sich selbst verwertenden Werts". Diese Art zu wirtschaften hat uns an den Rand des kollektiven Selbstmords getrieben. Der Ruf nach Arbeit fügt sich harmonisch in das Katastrophenszenario ein.
Damit wir nicht falsch verstanden werden. Wir, die wir dieses Flugblatt verfaßt haben, verurteilen mitnichten diejenigen, die von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind. Wir gehören ja selber dazu. Und solange sich nichts grundlegend ändert, sind auch wir auf Geldeinkünfte und Arbeit angewiesen. Aber wir suchen nach Auswegen jenseits der "Arbeit". Denn die ganze Perspektivlosigkeit des Arbeitssystems und des "Kampfes um Arbeit" liegt auf der Hand. Was unsere Welt so zugerichtet hat, kann nicht Geburtshelferin einer besseren Welt sein. "Mehr Geld für Arbeit, Bildung, Umwelt, Soziales..." das ist gutgemeint, geht aber völlig am Kern des Problems vorbei. Für die Rettung vor dem kollektiven Selbstmord und erst recht für die Verwirklichung eines besseren Lebens gibt es eine unabdingbare Voraussetzung: "Wert", "Ware", "Geld", "Kapital" und "Arbeit" müssen überwunden werden.
Total verrückt? Alle sprechen die Arbeit heilig. Von ganz rechts bis ganz links. Mit unserer Kritik der Arbeit brechen wir ein Tabu, vielleicht das größte. In einer verrückten Welt können vernünftige Vorschläge nur als verrückt erscheinen.
Wo Arbeit und Geld regieren, bleiben Menschlichkeit und Vernunft auf der Strecke. Es wird Zeit, sich nach Besserem umzusehen
Verrückt ist die Diktatur des Geldes und des Geldverdienenmüssens, unter der wir leben. Alles unterwirft sie sich, alles verhüllt sie, alles schert sie über einen Kamm, alles richtet sie nach ihrer abstrakten Kälte zu. Eigentlich liegt es doch auf der Hand, daß man die Krankenpflege und die Brotherstellung, den Gemüseanbau und das Fußballspielen, die Wasserreinigung und die Schuhreparatur, die Schwangerschaftsgymnastik und die Elektrizitätsgewinnung, die Sexualberatung und die Computerherstellung sinnvollerweise gar nicht einem einzigen Prinzip unterwerfen kann. All das erfordert vielfältige Kommunikation, Sinnlichkeit und Phantasie. Qualität statt Quantität. Das Leben ist nicht ungestraft in das armselige Korsett des Geldes zu zwängen.
Geld macht menschliche und vernünftige Beziehungen unmöglich. Menschlich und vernünftig wäre es, die Energieversorgung dezentral und bedarfsorientiert zu organisieren - unmenschlich und unvernünftig ist es, wenn die Herrschaft des Geldes die Aufrechterhaltung von gigantischen Energieversorgungsmonopolen mit entsprechenden Überkapazitäten diktiert. Menschlich und vernünftig wäre es, die Städte von Kaufhäusern, Banken und Betonrennbahnen zu befreien und an ihrer Stelle Kinderspielplätze, Gärten und Parks zu errichten - unmenschlich und unvernünftig ist es, wenn die Diktatur des Geldes und des Geldverdienenmüssens das verhindert. Menschlich und vernünftig wäre es, Schwache, Kranke und Alte in selbstverständlicher Solidarität als dazugehörig zu empfinden und mitzuversorgen - unmenschlich und unvernünftig ist es, sie über den Mechanismus des Geldes von unserem täglichen Leben abzusondern und als Kostenfaktoren zu behandeln. Die Herrschaft des Geldes hat unsere Beziehungen Schritt für Schritt deformiert - jetzt ist sie dazu übergegangen, uns in die soziale und äkologische Katastrophe zu manövrieren.
Hinzu kommt: Das globale Finanzsystem ist ein gigantisches Kartenhaus geworden. Es hat sich meilenweit von der realen Produktion entfernt. Immer häufiger erleben wir Zusammenbrüche von Firmen, Banken und ganzen nationalen Ökonomien - wie Mexiko, Indonesien und Südkorea. IWF und nationale Zentralbanken können nur noch mühsam und oberflächlich gegensteuern. Regelmäßig brechen Börsen ein. Wie lange braucht es noch bis zum großen Crash auch bei uns? Die totale Geldentwertung, in vielen Teilen der Welt heute schon Wirklichkeit, ist auch in den Zentren des Weltmarkts zur realen Möglichkeit geworden. Statt uns in weltfremder Verrückheit darüber hinwegzuträumen, sollten wir unsere Energien besser darauf verwenden, über ein Leben jenseits des Geldes nachzudenken....
Und: Die "wert-verwertende Arbeitsgesellschaft" gräbt sich selbst das Wasser ab. Massenweise geht das allerheiligste, was sich die "Arbeiterbewegung" vorstellen kann, die Arbeitsplätze, den Bach runter. (Und damit die "Arbeiterbewegung" selbst.) Das Schuhputzer- und McJobs-Wunder beim großen Bruder überm großen Teich überzeugt nichtmal die Doofsten. Wer glaubt denn noch ernsthaft an sowas wie "Vollbeschäftigung"? Die Mikroelektronik ist dafür verantwortlich, daß heute erstmals in der Geschichte dauerhaft mehr Arbeitsplätze vernichtet als neugeschaffen werden. Dieser Prozeß ist unaufhaltsam. Statt weiter vom aussichtslosen Trip zurück in die scheinbar heile 60er-Jahre-Welt zu träumen, sollten wir unsere Energien besser darauf verwenden, über ein Leben jenseits der Arbeit nachzudenken...
Widerstand und Ausstieg für ein Leben jenseits von Arbeit und Kapital, jenseits von Staat und Markt, jenseits von Geld und Ware
Leistet Widerstand. Wehrt Euch gegen jede Zerstörung, Vergiftung und Zubetonierung Eures Lebensraumes. Gegen Rassismus, Sexismus, Ausbeutung und Kriegsvorbereitung, gegen den ganzen herrschenden Wahnsinn. Laßt Euch vom "Argument" der Arbeitsplätze nicht mehr länger davon abhalten. Organisiert und erkämpft Euch Freiräume.
Befreit Euch von der Droge Konsum. Nirgendwo dürfen wir ganzheitliche Menschen sein. Immer sind wir Funktion des sich selbst verwertenden Wertes. Das gilt für die "Arbeitszeit" ebenso wie für die sogenannte "Freizeit". Die Herrschaft der Ware spaltet uns in zwei Hälften. Hie ProduzentIn, da KonsumentIn. Und so bietet uns die armselige "Arbeits"welt eine billige Kompensation: Den Konsum des ganzen Schrotts, den wir oder andere hervorbringen. "Ich leiste mir was, schließlich habe ich was geleistet", sagt sich das Arbeitstier und schüttet sich mit Drogen zu: Blechkarossen, Klamotten und noch 'nen Film, Kenia-Trip, Möbelkatalog und noch 'nen Film..., bloß nicht aufwachen und die ganze Jämmerlichkeit der eigenen Existenz mitkriegen.
Verringert Eure Arbeitszeit soweit als möglich. Wer sich vom Konsumwahn befreit wird merken, wiewenig sie/er wirklich braucht von dem ganzen Schrott, den sie uns hinter den Schaufenstern vor die Nase halten. Und daß sie/er schon heute mit viel weniger Geld, sprich Arbeitszeit auskommt, als bisher so fest geglaubt. Reduziert Eure Arbeitszeit soweit als mäglich. Umso mehr Zeit habt Ihr zum Leben, Lieben, Kämpfen, neue Wege gehen...
Versucht, neue Weg zu gehen. Entwickelt gemeinsam Ideen - egal ob ihr noch Arbeit oder schon keine mehr habt - und erprobt, wie Ihr immer größere Bereiche Eures Lebens jenseits von Ware, Geld und Arbeit organisieren könnt - beim Wohnen und in der Lebensmittelproduktion, in der Kinder- und Altenbetreuung, im Kulturellen und in der Bildung, beim Herstellen von Gebrauchsgütern. Kämpft um Wohnraum, Land und weitere Ressourcen...
Stürzt die heilige Arbeit von ihrem Sockel. Wir teilen uns nicht auf in "Arbeitende" und "derzeit Arbeitslose". Wir sind entweder "schon Arbeitslose" oder "noch nicht Arbeitslose". Die Arbeit loszuwerden hat Zukunft. Und bietet Perspektiven für ein besseres Leben. Die Arbeitslosigkeit verliert ihren Schrecken, wenn wir gemeinsam nach Auswegen jenseits von Geld und Arbeit suchen. Wer die Arbeit los ist, hat Zeit zum Leben, kann zusammen mit anderen Phantasie und Praxis entwickeln. Wir haben nichts zu verlieren als unsere Arbeit. Wir haben eine Welt zu gewinnen.
Aus: trend onlinezeitung für die alltägliche wut Nr. 5/1998
Nachtrag: Dieser Text hat irgendwie den Weg auf meinen Computer gefunden - wahrscheinlich deshalb, weil ich ihn bemerkenswert fand und mich bei Gelegenheit näher damit beschäftigen wollte. Ein guter Ort für diesen Text ist das Internet - deshalb veröffentliche ich den Text hier.
Berlin, 20.08.2014
Stefan Schneider
Unser Haus soll schöner werden !
Liebe Mitbewohnerin, lieber Mitbewohner,
seit einiger Zeit hängt eine Fahne und ein Fell aus dem Fenster von unserem Haus in unserer schönen Straße. Vor allem das Fell ist lustig.
Man kann noch viel mehr aus dem Fenster hängen: Bunte Schals, abgewetzte Bademäntel oder alte Hosen mit Löchern, große Plastiktüten vom letzten Einkauf, Girladen vom Kindergeburtstag und Häkeldecken von Oma.
An den wunderbaren rostfreien Stangen vor unseren Fenstern lassen sich auch nette Sachen anbinden: Luftballons vom letzten Fasching, Fahrradreifen, nicht mehr gebrauchte Rucksäcke, Einkaufstaschen, Rettungsringe, abgebaute Klodeckel, Putzeimer, nicht gebrauchte Bilderrahmen, Fernsehantennen und was ihr sonst noch so habt.
Wenn alle mitmachen und etwas lustiges aus dem Fenster hängen, wird die Hausfassade schön bunt und die Touristen werden viele Fotos machen. Und eines Tages kommen wir bestimmt ins Fernsehen.
Und im nächsten Sommer können wir dann Postkarten verkaufen von unserem Haus, oder kühles Bier, Trödel, Musikkasetten, abgelegte Kleider und Bratwürstchen. Dann werden wir sogar noch reich.
Aber wir müssen die Sachen natürlich gut festbinden, damit sie bei Regen, Sturm oder Schnee nicht abfallen und noch welche auf der Straße verletzten.
Macht alle mit!
Euer Mitbewohner Joseph Beuys
[Abbildung] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Aktienbrauerei_Friedrichshoehe.jpg
Unser Haus soll schöner werden !
Liebe Mitbewohnerin, lieber Mitbewohner,
seit einiger Zeit hängt eine Fahne und ein Fell aus dem Fenster von unserem Haus in unserer schönen Straße. Vor allem das Fell ist lustig.
Man kann noch viel mehr aus dem Fenster hängen: Bunte Schals, abgewetzte Bademäntel oder alte Hosen mit Löchern, große Plastiktüten vom letzten Einkauf, Girladen vom Kindergeburtstag und Häkeldecken von Oma.
An den wunderbaren rostfreien Stangen vor unseren Fenstern lassen sich auch nette Sachen anbinden: Luftballons vom letzten Fasching, Fahrradreifen, nicht mehr gebrauchte Rucksäcke, Einkaufstaschen, Rettungsringe, abgebaute Klodeckel, Putzeimer, nicht gebrauchte Bilderrahmen, Fernsehantennen und was ihr sonst noch so habt.
Wenn alle mitmachen und etwas lustiges aus dem Fenster hängen, wird die Hausfassade schön bunt und die Touristen werden viele Fotos machen. Und eines Tages kommen wir bestimmt ins Fernsehen.
Und im nächsten Sommer können wir dann Postkarten verkaufen von unserem Haus, oder kühles Bier, Trödel, Musikkasetten, abgelegte Kleider und Bratwürstchen. Dann werden wir sogar noch reich.
Aber wir müssen die Sachen natürlich gut festbinden, damit sie bei Regen, Sturm oder Schnee nicht abfallen und noch welche auf der Straße verletzten.
Macht alle mit!
Euer Mitbewohner Joseph Beuys
[Abbildung]
- Tucholsky, Kurt: Asyl für Obdachlose! Berlin 1928
- Cela, Camilo José - Zur Einführung [Methodische Hinweise] - 1990 [aus: Ein Vagabund in Dienste Spaniens]
- Krauskopf, Michael: Krauskopf's Weihnachtsgeschichte. Pullendorf 1995
- Krampitz, Karsten: Anfänge der Rationalisierung des Armenwesens am Beispiel der Nürnberger Bettelordnungen. Berlin 1999