Vilém Flusser
WOHNUNG BEZIEHEN IN DER HEIMATLOSIGKEIT
(Heimat und Geheimnis - Wohnung und Gewohnheit)
Gegen meine Gewohnheit und vom Thema »Heimat und Heimatlosigkeit« gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west- und osteuropäischen, afrikanischen, ostasiatischen und indianischen Kulturemen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern. Das äußert sich täglich in meiner Arbeit. In bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen.
Erschwerend und anfeuernd kommt hinzu, daß ich mich für die Phänomene der zwischenmenschlichen Kommunikation, also für die Lücken zwischen Standorten und für die diese Lücken überspannenden Brücken interessiere. Wahrscheinlich ist dieses Interesse auf mein eigenes Schweben über den Standorten zurückzuführen. Dies zwingt mich und erlaubt mir, das Transzendieren von Heimaten nicht nur konkret zu erleben und zu bearbeiten, sondern auch theoretisch darüber nachzudenken. Der folgende Beitrag soll dieses konkrete Erleben, tägliche Bearbeiten und theoretische Überlegen des Themas »Heimat und Heimatlosigkeit» dokumentieren.
Zuerst will ich, so scharf wie möglich, zwischen »Heimat« und »Wohnung« unterscheiden, wobei ich mir peinlich bewußt bin, mit der deutschen Sprache spielen zu müssen. Das deutsche Wort »Heimat» findet, unter den mir geläufigen Sprachen, nur im tschechischen Wort »domov« ein Äquivalent, und dies wohl dank des Drucks, den das Deutsche auf das Tschechische jahrhundertelang ausgeübt hat. Vielleicht ist der Begriff »Heimat» nur im Deutschen heimisch - der Begriff, nicht aber das Erlebnis? Doch sogar bei dem Erlebnis habe ich meine Bedenken. Erlebt der provenzalische Bauer in Robion seine geschichtliche, weil vielgeschichtete Heimat (an deren Struktur spätpaleolithische, neolithische, ligurische, griechische, römische, visigotische, burgundische, arabische, fränkische, provenzalische, italienische und französische Ahnen mitgebaut haben) im gleichen Sinn, in welchem etwa der brasilianische wandernde Landarbeiter seine »terra» oder der israelische Kibbutznik sein »Eretz Israel« erleben?
Während der weitaus größten Zeitspanne seines Daseins ist der Mensch ein zwar wohnendes, aber nicht ein beheimatetes Wesen gewesen. Jetzt, da sich die Anzeichen häufen, daß wir dabei sind, die zehntausend Jahre des seßhaften Neolithikums hinter uns zu lassen, ist die Überlegung, wie relativ kurz die seßhafte Zeitspanne war, belehrend. Die sogenannten Werte, die wir dabei sind, mit der Seßhaftigkeit aufzugeben, also etwa den Besitz, die Zweitrangigkeit der Frau, die Arbeitsteilung und die Heimat, erweisen sich dann nämlich nicht als ewige Werte, sondern als Funktionen des Ackerbaus und der Viehzucht. Das mühselige Auftauchen aus der Agrikultur und ihren industriellen Atavaren in die noch unkartographierten Gegenden der Nachindustrie und Nachgeschichte (»hinc sunt leones») wird durch derartige Überlegungen leichter. Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder von Kornseminar zu Kornseminar[1] pendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Golfstaaten und die russischen Wissenschaftler in Harvard erscheinen dann nicht als bemitleidenswerte Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen, sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte. Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben. Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekannterweise das Tun aus dem Leiden emportaucht (»Wer nie sein Brot in Tränen aß ...«).
Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert, sondern eine Funktion einer spezifischen Technik, aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim, jenseits seines wachen Bewußtseins. Wenn die Fasern zerreißen oder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut aufbrachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, daß mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen, der angeblich den überall wehenden Geist kennzeichnet. Im London des ersten Kriegsjahres, in diesem für Kontinentale chinesischen England, und unter Vorahnungen des kommenden Entsetzens der Menschlichkeit in den Lagern erlebte ich damals die Freiheit. Das Umschlagen der Frage »frei wovon?« in »frei wozu?«, dieses für die errungene Freiheit charakteristische Umschlagen, hat mich seither in meinen Migrationen wie ein »Basso continuo« begleitet. So sind wir alle, wir aus dem Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchenden Nomaden.
Es sind zumeist geheime Fasern, die den Beheimateten an die Menschen und Dinge der Heimat fesseln. Sie reichen über das Bewußtsein des Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen; ins nicht gut artikulierte, kaum artikulierte und unartikulierte Gedächtnis. Ein prosaisches Beispiel: das tschechische Gericht »svickova« (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort »Heimweh« gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile - jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden.
Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar, zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte. Das deutsche Wort »Heimweh« oder das französische »nostalgie« erfaßt dies weniger gut als das portugiesische »saudade«. Aber, nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage »frei wovon?« in die Frage »frei wozu?«, wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sichselbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, daß jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und daß in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, daß erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden. In meinem Fall: Nach dem Zerhauen eines gordischen Knotens nach dem anderen, des Prager, des Londoner, des Paulistaner, habe ich nicht nur die Gleichwertigkeit (oder auch Gleichunwertigkeit) aller dort angesiedelten Vorurteile erkannt, und vorwegnehmend auch die der in Robion angesiedelten, sondern vor allem auch, daß meine Freiheit zu urteilen, mich zu entscheiden und zu handeln mit jedem Zerhauen zunimmt. Diese Erkenntnis erlaubt, mit sich immer verbessernder Virtuosität die Knoten, einen nach dem anderen, zu zerhauen. Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das ist der Grund, warum mir der Zionismus, trotz aller Sympathie, existentiell nicht zusagt.
Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind sie in dieses Geheimnis gebadet. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, von der Verderblichkeit eines geheimnisvollen Gefesseltseins an Dinge zu sprechen. Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten. Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit.
Ich habe in dieser Hinsicht zwei Erfahrungen, die einander widersprechen. Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug. Alle Menschen, mit denen ich in Sao Paulo geheimnisvoll verbunden war, leben, und ich stehe mit ihnen in Verbindung. Paradoxerweise ist daher das Zerhauen des Prager gordischen Knotens leichter gewesen als das des Paulistaner, wiewohl das Geheimnis, das mich an Prag gebunden hatte, dunkler ist als das im Fall von Sao Paulo. Eine allerdings makabre Erfahrung.
Die geheimnisvollen Fesseln, die mit den Menschen der Heimat verbinden (also etwa Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Feindschaft), zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen. Es sind nämlich die dialogischen Fäden der Verantwortung und des Einstehens für den anderen. Ist etwa die Freiheit des Migranten, dieses über allen Orten schwebenden »Geistes», eine verantwortungslose, solipsistische Freiheit? Hat er etwa seine Freiheit auf Kosten des Mitseins mit anderen errungen? Oder ist verantwortungslose Einsamkeit das Los des Migranten (wie es die romantischen Dichter wahrhaben wollen)? Das oben erwähnte Umschlagen aus der Vertriebenheit in die Freiheit verneint diese Frage. Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich habe sie selbst übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.
Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können.
Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initiationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, häßlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den häßlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog, der entweder in Pogromen oder in Veränderung der Heimat oder in der Befreiung der Beheimateten aus ihren Bindungen mündet. Dafür bietet mein Engagement in Brasilien ein Beispiel.
Ich will zuerst den Begriff »Brasilien« von den ihn verdeckenden eurozentristischen Vorurteilen (etwa »Dritte Welt», »Unterentwicklung« oder »Ausbeutung«) befreien. (Vorurteile, diese vorbewußt gefällten Urteile, sind übrigens in allen Heimaten heimisch.) Die Bevölkerung Brasiliens bestand bis tief ins 19. Jahrhundert aus drei einander überlagernden Schichten. Aus Portugiesen, die zum Teil aus der Heimat geflüchtet waren, zum Teil das Land für Portugal administrierten. Aus Afrikanern, die als Sklaven hingebracht wurden. Und aus Ureinwohnern, die immer weiter ins Hinterland abgeschoben wurden (wobei diese Ureinwohner wieder in eine einst herrschende Oberschicht, die Tupis, und eine beherrschte Unterschicht, die abfällig sogenannten Tupinambas, eingeteilt werden konnten). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft wurde und die Afrikaner begannen, sich arbeitslos in Städten zu häufen, wurden europäische Einwanderer, vor allem zuerst Norditaliener, in die Landwirtschaft (Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr) berufen. Der ersten Einwanderungswelle folgten andere, zum Beispiel die der Polen, der Syrio-Libanesen, der Japaner und immer neuer Portugiesen. Bei meiner Ankunft dort war die letzte dieser Wellen die der Juden, aber inzwischen sind weitere dazugekommen, bis der Einwandererstrom in den sechziger Jahren versiegte. Wichtig ist festzuhalten, daß dieser Strom vor allem den Süden des Landes betraf und den Norden beinahe unberührt ließ, so daß sich das Land in zwei Regionen teilte. Gegenwärtig gibt es eine massenhafte Strömung aus dem Nordosten in den Süden, und die uns aus dem europäischen Fernsehen bekannten Bilder betreffen zum Großteil diese massenhafte Strömung.
Vor der Sklavenbefreiung war zwar ständig von einer brasilianischen Heimat in Poesie und Prosa romantisch die Rede, aber die Wirklichkeit (die berüchtigte »realidade brasileira«) strafte diese Rede Lüge. Es gab die dünne portugiesische Oberschicht, die sich um die Häfen häufte, um die letzten Nachrichten aus den verlorenen Heimaten Lissabon und Paris entgegenzunehmen. Man fühlte sich vertrieben. Die große Masse der Bevölkerung war afrikanisch, hatte aber zu Afrika keine bewußte Beziehung. Die nackt aus den Sklavenschiffen an die brasilianischen Strände geworfenen Menschen trugen nur in ihrer von schwerer Arbeit betäubten Innerlichkeit die verlorenen Kultureme, die dann allerdings in Form von Musik, Tanz und religiösen Riten ausbrachen, um den Boden einer jeden künftigen brasilianischen Heimat zu bilden. Die Ureinwohner, die immer weiter abgeschoben wurden, waren kein echter Teil Brasiliens, sondern nur eine teils mythisch-verherrlichte, teils brutal vergewaltigte Hintergrunderscheinung. Das unterscheidet übrigens Brasilien (und Argentinien und Uruguay) vom übrigen Lateinamerika, daß die Ureinwohner dort nur einen ideologisch verbrämten Hintergrund bilden.
Die europäischen, nah- und fernöstlichen Einwanderer begannen seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Frage nach Brasilien als einer Heimat zu stellen. Ist es möglich, aus derart heterogenen Elementen ein Netz von geheimen Bindungen zu weben, wie wir es aus den alten Heimaten kennen? Es gab einen Ansatz zu diesem Weben: die portugiesische Sprache. Sie war, im Vergleich zu der in Portugal gesprochenen, zwar einerseits archaisch (es haben sich darin Renaissance-Elemente erhalten), zum anderen Teil verwildert (afrikanische Elemente waren eingedrungen). Aber gerade dies erlaubte dem Portugiesischen zu einer lingua franca zum Beispiel zwischen arabischen und japanischen Sprechern zu werden. Ist es möglich, eine brasilianische Sprache herzustellen, die fähig ist, eine brasilianische Kultur zu tragen und zu übertragen und somit aus dem Land Brasilien eine Heimat für eine künftige Gesellschaft zu machen? Diese für alle Beteiligten begeisternde Frage bildet, meiner Meinung nach, den Nährboden für alles, was in diesem Jahrhundert dort hergestellt wurde, angefangen mit Brasilia bis zur Bossa nova.
Als ich in Brasilien ankam, wurde ich, sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien, von diesem Taumel mitgerissen. Ich tauchte in die Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter. Und erst der »golpe«, der Staatsstreich der Armee, hat mich ernüchtert. Und zwar nicht, weil ich, wie die europäischen Beobachter, darin eine reaktionäre Intervention, sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat erkannte. Ich will etwas näher auf diese meine Enttäuschung mit der brasilianischen Heimat (und mit allen Heimaten überhaupt) eingehen:
Brasilien war existentiell ein »no man's land», als die Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert begannen. Es war niemandes Heimat. Daher der Schlachtruf der eine Heimat erzwingen wollenden Patrioten: »Este pais tem dono« (Dieses Land hat einen Besitzer). Nicht eine afrikanische, asiatische oder andinische Kolonie war es, wo Kolonisatoren Einheimische beherrschten, sondern, etwa wie die Staaten, ein leeres Land, aus dem die Einheimischen vertrieben wurden. Daher wurden die Einwandernden nicht als häßliche Fremde, sondern vorurteilslos als heimatlose Schicksalsgenossen empfangen. (Aus Zeitmangel kann ich hier nicht auf den Unterschied zwischen Brasilien und den Staaten eingehen.) Diese vorurteilslose Stimmung unterschied sich so stark von der europäischen Stimmung der Heimaten, aus denen die Einwandernden vertrieben worden waren, daß es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren. Außerdem war man in diesem Niemandsland Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte. In meinem Fall: Eine brasilianische Philosophie war, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen, überhaupt erst zu schaffen. So begann man, dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht, wie in der verlorenen Heimat, durch die Geburt aufgelegt waren, sondern frei hergestellt wurden. Und so erkannte ich, was den Patriotismus (sei er lokal oder national) so verheerend macht: daß er aufgelegte menschliche Bindungen heiligt und daher die frei auf sich genommenen hintanstellt; daß er die Familienverwandtschaft über die Wahlverwandtschaft stellt, die echt oder ideologisch biologische über Freundschaft und Liebe. Ein Freiheitstaumel erfaßte mich: Ich war frei, mir meine Nächsten zu wählen.
Dieses Weben eines künftigen geheimen Codes, einer künftigen brasilianischen Heimat, dieses Verwandeln von Abenteuer in Gewohnheit und dieses Heiligen der Gewohnheit blieben begeisternd, solange immer neue Einwanderer~vellen aufgenommen wurden. Das im Weben begriffene Netz blieb offen. Zum Beispiel: Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren. Trotzdem jedoch begann es sich zu institutionalisieren. Die Aufnahme darin wurde immer schwerer. Es begannen sich Vorurteile zu kristallisieren. Das heißt, man begann, mit dem Errichten einer neuen Heimat Erfolg zu haben.
Hinzu kamen in den fünfziger Jahren zwei Erfahrungen, die es in den Griff zu bekommen galt. Die erste ist unter dem Begriff »defasagem« (etwa »Dephasierung«), die zweite unter dem Begriff »populismo» zu fassen. In dem Maß nämlich, in dem sich ein autonomer brasilianischer Kern herauszubilden begann, ging der lebendige Kontakt mit den großen Zentren (vor allem in Amerika) verloren, und ich erkannte, was ich aufgegeben hatte, als ich mich in Brasilien engagierte - nämlich die Freiheit von geographischer Bindung. Es begannen in mir Zweifel zu entstehen, ob in der gegenwärtigen informatischen Revolution nicht jede geographische Verbundenheit reaktionär ist; ob man den Vorteil, keine Heimat zu haben, aufgeben sollte.
Die zweite Erfahrung, die mit dem »populismo«, ist radikaler. Die wirtschaftlich-soziale Schichtung war in den fünfziger Jahren etwa diese: Die große Masse der Bevölkerung lebte halbnomadisch, folgte den Ernten der Monokulturen in Elend, Hunger und Krankheit, und sie war die Herausforderung, aus dieser kulturlosen Menge eine Heimat zu machen. Darüber saß das größtenteils aus Einwanderern bestehende Proletariat der Städte und darüber das Bürgertum, das teils aus Einwanderern, teils aus den Nachkommen der portugiesischen Eroberer aufgebaut war. Das Weben der Heimat war Sache der Bürger. Und die Frage war: An wen haben wir uns zu wenden? An die Arbeiter der Städte, um sie bewußt zu machen? Oder an die passive Masse, um sie dem Gewebe der Gesellschaft einzuverleiben? Beides zugleich war unmöglich. Denn um die Städter zu mobilisieren, mußte man politisieren, und um die Masse anzugehen, mußte man wirtschaftlich handeln und entpolitisieren. Also entweder sich für die Freiheit oder für das Bekämpfen von Hunger und Krankheit engagieren. Es ist sehr schwierig, sich einer so unmöglichen Wahl klar zu stellen. Ich versuchte es, und ich bin daran gescheitert.
Die »populistische« Tendenz, die mit Vargas zur Herrschaft kam und deren letzter Ausläufer der vor seinem Amtsantritt verstorbene Präsident war, glaubte, der unmöglichen Wahl so zu entgehen: Man mußte zuerst die Arbeiter politisch mobilisieren, um nachher die Masse aufsaugen zu können. Dies führte zu faschistoider Demagogie und zu einer Vulgarisation aller kulturellen Unternehmungen. Die zweite Tendenz, die »technokratische», packte das Dilemma an seinen Hörnern. Es gilt zuerst einmal, die Not zu beheben, und um dieses tun zu können, muß man zentral planen. Eine solche Planung setzt Diktatur voraus und das »provisorische» Unterbinden aller sozialen, politischen und kulturellen Störung der Planung. Diese »technokratische« Tendenz ist in der Armee verkörpert - einer aus Bürgern bestehende Gruppe. Nach 1964 wurde mir klar, daß der Sieg der Technokratie über den »populismo» der einzige Weg ist, um endlich aus Brasilien eine Heimat werden zu lassen. Und es wurde mir auch klar, wie diese Heimat aussehen würde: ein gigantischer, fortgeschrittener Apparat, der in Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen keiner europäischen Heimat nachstehen würde. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1972, bis ich mich unter Schmerzen entschloß, mein Engagement an Brasilien aufzugeben und in der Provence, diesem Antibrasilien, zu wohnen.
Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. In meiner brasilianischen Erfahrung: Die Bindungen, die ich dort eingegangen bin, habe ich aufrechtzuerhalten, denn ich bin verantwortlich für meine brasilianischen Mitmenschen, so wie sie verantwortlich für mich sind. Aber ich habe außerhalb von Brasilien andere Bindungen aufzunehmen und in diese neuen Bindungen meine brasilianische Erfahrung einzubauen. Nicht Brasilien ist meine Heimat, sondern »Heimat» sind für mich die Menschen, für die ich Verantwortung trage.
Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den »Nächsten«. Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen.
Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.
Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohnten Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher: die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum. Aber auch das vergangene Jahr, die verlorenen Heimaten, die abenteuerlichen Abgründe der Geschichte und Vorgeschichte, die heranrückende abenteuerliche Zukunft und die unvoraussehbare weite Zukunft. Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinholen und um Ungewöhnliches machen zu können. Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Informationen empfangen und um Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.
Diese Dialektik zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Redundanz und Geräusch ist, laut der Hegelschen Analyse, die Dynamik des unglücklichen Bewußtseins, welches ja das Bewußtsein schlechthin ist. Bewußtsein ist eben jenes Pendeln zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Privatem und Öffentlichem, von dem Hegel sagt, daß ich mich selbst verliere, wenn ich die Welt finde, und daß ich die Welt verliere, wenn ich mich selbst finde. Ohne Wohnung wäre ich unbewußt, und das heißt, daß ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre. Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde; es ist das Primäre.
Aber es gibt nicht nur eine äußere Dialektik zwischen Wohnung und Welt, zwischen Gewohntem und Ungewohntem. Es gibt auch eine der Wohnung, der Gewohnheit selbst innewohnende Dialektik. Indem die Gewohnheit für das Ungewohnte offen steht, indem sie erlaubt, Ungewohntes als Information wahrzunehmen, wird sie selbst nicht wahrgenommen. Ich nehme, wenn ich mich an meinem Schreibtisch setze, die dort herumliegenden Papiere und Bücher nicht wahr, weil ich an sie gewöhnt bin. Was ich dort wahrnehme, sind nur die neu eingetroffenen Bücher und Papiere. Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene. Es gibt diesbezüglich die bekannte Heideggersche Untersuchung der unter dem Bett liegenden Pantoffel. Ich nehme zwar meine Wohnung nicht wahr, aber ich empfinde sie dumpf, und diese dumpfe Empfindung heißt in der Ästhetik Hübschheit. Jede Wohnung ist für ihren Bewohner hübsch, weil er an sie gewöhnt ist. Das zeigt der bekannte ästhetische Zyklus: »häßlich - schön - hübsch häßlich«. Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.
Dieser Exkurs in die Ästhetik war nötig, um das Phänomen der Heimatliebe (und der Vaterlandsliebe) in den Griff zu bekommen. Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche, das etwa in Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen stehen. Patriotismus ist vor allem ein Symptom einer ästhetischen Krankheit.
Die irrtümlich als Schönheit empfundene Hübschheit einer jeden Heimat, diese Verwechslung zwischen Ungewöhnlichem und Gewohntem, zwischen Außerordentlichem und Ordinärem, ist in manchen Heimaten jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Katastrophe. Wenn ich die Provence oder das Allgäu für schön halte, und dies nicht, weil ich diese Gebiete entdeckt habe, sondern weil ich an sie gewöhnt bin, dann bin ich Opfer eines ästhetischen, nicht aber notwendigerweise eines ethischen Irrtums. Halte ich jedoch Sao Paulo für schön, dann begehe ich eine Sünde. Denn die alle Phänomene verdeckende und abrundende Wattedecke der Gewohnheit läßt mich dann das dort herrschende Elend und Unrecht nicht mehr wahrnehmen, sondern nur noch dumpf empfinden. Es wird dann ein Teil der heimatlichen Hübschheit, die ich als Schönheit empfinde. Das ist das Katastrophale an der Gewohnheit.
Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewußtseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen. Aber sie ist auch eine Betäubung, weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird. Verwechselt man Wohnung mit Heimat, Primäres mit Sekundärem, dann zeigt sich dieser innere Widerspruch noch klarer. Denn da der Beheimatete in seine Heimat verstrickt ist, so kann sie nur unter bewußter Anstrengung das Wahrnehmen der Welt dort draußen erlauben.
Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt zwar Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert. Er ist ein in diesem Sinn geheimnisloses Wesen. Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimnis, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.
Die Evidenz, in welcher der Heimatlose lebt, stellt sich für ihn als Problem, nicht als etwas unheimlich Anmutendes dar. Der Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat hat ihn für ein anders geartetes Geheimnis geöffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen. Sein Problem lautet: Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in den von mir mitgeschleppten Geheimnisbrocken schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner im Geheimnis verankerten Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.
(aus: Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Antobiographie. Mit einem Nachwort von Milton Vargas und editorischen Notizen von Edith Flusser und Stefan Bollmann. Düsseldorf, Bensheim: Bollmann Verlag 1992, S. 247 -264. ISBN 3-927901-19-9.)
"Na, du alter Berber"
Beschreibung der Spurensuche zum Begriff "Berber".
Ein Werkstattbericht von Hannes KIEBEL.
Beim Leben und Überleben auf der Straße ereignet sich der Begriff BERBER wie etwas, das in ihm denkt, ohne daß er davon weiß, als ein Mythos, der vor aller Wahrnehmung und allem Denken Besitz ergriffen hat. Und es geschieht das Erlebnis des Sieges der Phantasiewelt über die Realität; dieses Erlebnis hat mich nie mehr losgelassen.
1. Mein Leitmotiv vor Augen, die jahrelange Spurensuche überblickend: es war wohl im Herbst 1970, als ich zum ersten Mal das Wort BERBER hörte. Für das Kreisjugendamt L. im Spessart hatte ich Klaus Sch., "entmündigt", 29 Jahre alt, mehrfach aus sozialen Einrichtungen "entwichen", zum Zwecke der sozialen Rehabilitation in die Arbeiterkolonie Schernau in der Pfalz "verbracht". Bei der Ankunft auf der Kolonie wurde Klaus Sch. von einigen Männern, die ihn als Landstreicher kannten, freundlich begrüßt mit »Na, du alter Berber«. - Ich nahm wahr, daß Landstreicher, die sich kennen, als BERBER gelten. [Literatur- und Fundstellen]
2. Im Sommer 1980 fragten Stuttgarter Kollegen von der "Berber-Initiative" an, ob ich zu der Herkunft des Begriffes BERBER etwas sagen könne. Ich konnte es nicht. Im September 1980 erschien in Stuttgart das Blatt DER BERBER, zu dem Ernst Klee wertete: "Ungelenk und gespickt mit orthographischen Fehlern berichtet die Stadtstreicher-Streitschrift von jenen, die allnächtlich ihr "Biwak" im Freien suchen müssen. Daß niemand gegen das Absacken in den sozialen Untergrund gefeit ist, zeigt eine Todesanzeige für den einzigen Sohn des damaligen Generalbundesanwalts: »Der 26jährige Hans Peter ... lebte in letzter Zeit ebenso wie ihr auf der Straße.« - Von der Streitschrift DER BERBER gab es bis Mai 1981 vier Ausgaben.
3. Mit Blick auf ein neues Selbstwertgefühl veranstaltete die Berber-Initiative am 12. und 13. September 1981 in Stuttgart einen bundesweiten Berber-Kongreß unter dem Schirmsatz »Allein machen sie dich ein, und gemeinsam sind wir unausstehlich«. Im Vorfeld des Berber-Kongresses schrieb der Journalist "hb" (das ist: Heinz Beekmanns) in der Stuttgarter Zeitung den Artikel "Warum Berber?", aus dem ich zitiere:
»Die Brockhaus-Enzyklopädie sagt unter dem Stichwort "Berber" folgendes: Sammelname für die mit den semitischen Arabern in N-Afrika zusammenwohnenden hamitischen Stämme, etwa 6-7 Millionen; sie sind Reste einer in vorgeschichtlicher Zeit aus dem Ostmittelmeerraum eingewanderten Altschicht vorwiegend europid-mediterraner Rasse. - Weiter ist aus dem Brockhaus zu erfahren, daß die Berber vor allem in Marokko und Algerien in größeren geschlossenen Gebieten ihre Kultur und Sprache bewahrt haben. Unter den Berbern gibt es Nomaden, Halbseßhafte und Ackerbauern. Ein stolzes Volk sind die Berber, ein freiheitsliebendes Volk, nicht zuletzt haben sie das beispielsweise im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft in Algerien bewiesen.
Warum nun nennen sich ausgerechnet jene, die wir gemeinhin am Rande unserer Gesellschaft ansiedeln, ebenfalls "Berber"? Die Adaption des Namens ist keine der jüngsten Vergangenheit, sie liegt Jahrzehnte zurück. Zur Geschichte: in den fünfziger Jahren gab es noch zahlreiche Gelegenheitsarbeiter, weil es noch Gelegenheitsarbeiten gab. Auf dem Bau, in der Land- und Forstwirtschaft - Arbeiten, bei denen nach festem Wohnsitz und Steuerkarte oft nicht gefragt wurde. Nichtseßhafte waren das damals, die solche Arbeiten übernahmen; Nichtseßhafte, die nach Tagen oder Wochen weiterzogen: Leute, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten, nicht dem Sozialamt zur Last fielen,. dies bewußt nicht wollten. Diese Leute nannten sich "Berber".
Ein Sprung in die Mitte der sechziger Jahre: wirtschaftliche Rezession, die Arbeitsplätze werden knapper. Die Gelegenheitsarbeiter aus den fünfziger Jahren werden von der Sozialhilfe "aufgefangen". Aber so mancher will diese Hilfe nicht, schläft auch lieber im Freien, als in staatlichen Notunterkünften "verwaltet" zu werden. Der Gedanke der Selbsthilfe gewinnt vor allem in jüngster Zeit an Bedeutung, findet Anhänger unter den Betroffenen. "Da baut sich ein neues Selbstbewußtsein auf", erklären Kenner der Szene; ein Selbstbewußtsein, das auf staatliche Unterstützung weitgehend verzichten will, das für den Weg zur Selbsthilfe allenfalls Starthilfe will. "Berber" - eine Bewegung innerhalb der Nichtseßhaften-Szene, nicht mehr. Und: Nicht jeder Nichtseßhafte ist ein "Berber".«
Soufflierend konnte ich die Auffassung von Heinz Beekmanns unterstützen: es war eine Kost für alle, für alle verständlich. [Literatur- und Fundstellen]
4. Die Deutsche Presse-Agentur in Hamburg erwähnte 1984 in einem dpa-Hintergrundbericht zu »Die Situation der Nichtseßhaften in der Bundesrepublik« unter anderem "Landstreicher - Penner - Berber": »Medien und Bevölkerung verwenden unterschiedliche Ausdrücke für Nichtseßhafte. Neben dieser offiziellen Bezeichnung taucht häufig der undifferenzierte Ausdruck Obdachlose auf. Gängige Begriffe sind Land-/ Stadtstreicher und Tippelbruder, darüber hinaus Penner, seltener Berber. Letzterer ist ein Begriff, der von Betroffenen selbst mit einem gewissen Stolz gebraucht wird. ... Der Berber, abgeleitet wohl von den nordafrikanischen Nomaden, versteht sich noch am ehesten aus der Tradition der "Monarchen", unabhängige Selbstversorger, die sich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten und auf soziale Hilfestellungen verzichteten.« [Literatur- und Fundstellen]
5. Zur Ausstellung "Wohnsitz: Nirgendwo" war 1982 ein umfangreicher und fachkundiger Katalog erschienen, in dem auch ein Teil des Lebensberichts von Harry Domela abgedruckt ist. - 1985 konnte ich das Buch von Harry Domela "Der falsche Prinz", erschienen 1927 im Berliner Malik-Verlag, in einem Antiquariat erwerben.
Harry Domela schrieb seine Lebensgeschichte 1927 in Köln, in der Untersuchungshaft; einige Monate später veröffentlichte der Berliner Malik-Verlag die spektakulären Abenteuer des baltischen Landstreichers, der für einen der größten Skandale der Weimarer Republik sorgte. - Harry Domela, geboren 1904, Sohn eines Müllers und Landwirts aus Grusche/ Lettland, wird durch den ersten Weltkrieg aus einem deutsch-baltischen Elternhaus herausgerissen und in ein Kinderasyl gesteckt; er kämpft als Vierzehnjähriger 1918 für die baltischen Barone gegen die Letten, wird dafür aus seiner Heimat ausgewiesen und zieht als ungelernter Saisonarbeiter fast zwölf Jahre durch mehrere Städte Deutschlands. Alle Versuche, durch Arbeit zu einem gewissen Wohlleben zu kommen, scheitern, da er staatenlos und ohne Paß ist. So werden die Straße, das Obdachlosenasyl und das Gefängnis sein eigentliches Zuhause, Hunger, Kälte und Einsamkeit seine ständigen Begleiter. In dieser ausweglosen Situation wagt er das ganz große Spiel: er erhebt sich in den Adelsstand. 1926 wird aus dem arbeitslosen Stadtstreicher Harry Domela ein "Prinz von Preußen", Sohn des ehemaligen Kronprinzen. Mit dem Fatalismus des Spielers nimmt Harry Domela die "neue Rolle" an und präsentiert sich an vielen Orten "seinem Volke". Die große Welt fühlt sich geschmeichelt, vor einem Preußenprinzen dienern zu dürfen.
In der Tat, eine spannende, hintersinnige Geschichte, die Harry Domela in der Gefängnishaft wegen Hochstapelei in Köln aufgeschrieben hat. Nach dem Lesen des Buches begann für mich eine Zeit der bewahrenden, nicht besserwisserisch liquidierenden Entmystifizierung des Mythos "BERBER" -, ja, so läßt sich meine weitere Spurensuche umschreiben.
Anfang der 1920er Jahre lief Harry Domela in den Straßen Berlins umher, müde und zerschlagen, ohne Arbeit, ohne Obdach. Er kommt in das Gerichtsgefängnis Charlottenburg, in eine Zelle zu zwei anderen Gefangenen, die ihm erklärten, Kietz sei die Umgebung irgendeines Bahnhofes oder eines bestimmten Lokales. Zoo-Diele sei der Wartesaal vierter Klasse im Bahnhof Zoologischer Garten. - Nach der Entlassung ist seine Situation: »Ein Tag glich dem andern. Betteln, vagabundieren, essen, schlafen unter den primitivsten Verhältnissen, mitten im Trubel der Großstadt. Der Kietz war meine Welt. Ich spürte, wie allmählich diese Umgebung Macht über mich gewann. Ich begann mich treiben zu lassen, versank in die hoffnungslose, ungeistige, formlose Welt des Lumpenproletariats moderner Großstädte.« Und er leidet unsäglich: »Heute plagte mich wiederum maßloser Hunger. Tags zuvor hatte ich in einer Hotelküche zuletzt Essen erhalten; ein anderer "Berber" (Kietzgenossse) hatte mich darauf hingewiesen.«
Harry Domela erwähnt den Begriff BERBER noch an zwei weiteren Stellen. BERBER steht für Genosse in einem Kietz: der Genosse ist ohne Obdach, ohne Arbeit und schlägt sich bettelnd und vagabundierend, oft solidarisch unterstützt von anderen Kietz-Genossen, durch endlose Tage wie Nächte. [Literatur- und Fundstellen]
6. Meine Anfrage bei der Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion in Mannheim führte zum "Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache in 8 Bänden" von Heinz Küpper. Im Band 1 von 1982 steht:
»Berber = m 1. alter Mann. Eigentlich Stammesangehöriger der nichtsemitischen Urbevölkerung West-Nordafrikas; Berber sind vielfach Bartträger, und ihre Gesichter sind von Sonne und Witterung stark zerfurcht. Halbw. 1955ff. - 2. Nichtseßhafter. Hergenommen vom Nomadenleben der Berberstämme. 1976ff. - 3. gewalttätiger Angehöriger der gesellschaftlichen Unterwelt; Schläger, der einen Fußgänger in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt und ihn von Taschendieben ausrauben läßt. siehe berbern, 1960ff. - 4. zeitarmer Berber = Mensch, der eine Verabredung nicht einhält. Jug. 1955ff.
berbern - müßiggehen; Untätigkeit bevorzugen. Beruht wahrscheinlich auf einem doppelten Mißverständnis: Die Berber halten aus klimabedingten Gründen eine lange Mittagsruhe. Nach deutschem Selbstverständnis ist Untätigkeit am hellichten Tag gleichbedeutend mit Arbeitsscheu, und diese wird als "asozial" = kriminell empfunden. (siehe Berber 3.). Das paßt wiederum zum kriegerischen Erscheinungsbild der Berberstämme (erwachsen aus der Selbstbehauptung gegen arabische Vorherrschaft seit dem 7. Jh.). 1960ff.« [Literatur- und Fundstellen]
Bereits 1970 gab es im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Band VI, von Heinz Küpper neben "Berber" auch "berbern" im Sinne müßiggehen, "gammeln" mit Hinweis auf
7. Hubert Fichte: Die Palette. Roman 1968. An zwei Stellen äußert sich Hubert Fichte zu "berbern" im Sinne von "gammeln" und an neun Stellen zu "Berber". Als charakteristische Stelle führe ich an: »Immer mehr kommen und holen sich ihre Armenprelu. Der Blume von Saaron Geld reichte nicht aus, um jedem Rentner mit zwanzig Mark für einen Berber vom Hauptbahnhof auszuhelfen. Zum Schlafen kämen immer mehr.« - Ort der Handlungen ist Hamburg; die Palette ist eine Szenen-Kneipe. [Literatur- und Fundstellen ]
8. Bei einem meiner Antiquariatsbesuche stieß ich 1987 auf die Flugschrift von dem Jesuiten Bernhard Duhr: Großstadt-Elend und Rettung der Elendesten, von 1920. Überwiegend ist in der Schrift die Rede von der Heilsarmee in London; in einem einleitenden Kapitel zu Großstadt-Elend lese ich: »Da sind die vielen Tausende von vagierenden Knaben und Burschen, die Hunger, Not oder Leichtsinn in die Stadt getrieben und die nun wie in Berlin als "Päckeljungen" oder "Berber" die Bahnhöfe unsicher machen. Heimlos irren sie umher, aller Verführung preisgegeben, zu allen Verbrechen angelockt.« In einer Fußnote wies Bernhard Duhr auf Veröffentlichungen des Jesuiten Constantin Noppel hin, den ich von meinem Studium her als einen Mit-Macher bei Grundlagen zum "Reichsjugendwohlfahrtsgesetz" von 1924 erinnerte. [Literatur- und Fundstellen]
9. Constantin Noppel (1883-1945) hatte bereits 1914 die Leitung der katholischen Fürsorgearbeit für gefährdete und straffällige Jugendliche in Berlin übernommen (Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe); er verantwortete ein katholisches Jugendschutzheim für erziehungsschwierige schulentlassene männliche Jugendliche und für "allein-erziehende Mütter". Die Not der Jugend und die Verpflichtung der Caritas, sie zu mindern - das war es, was Constantin Noppel in den Bann zog, wovon er sich persönlich gefordert spürte. - Im September 1919 veröffentlichte Constantin Noppel einen Fachaufsatz mit dem Titel "Berliner Berber", aus dem ich zitiere: »Was sind Berber, Berliner Berber? Bekannt ist das Wort Päckeljungen für die Knaben und Burschen, die sich zumal in der Kriegszeit an den Bahnhöfen unsrer Großstädte herumtrieben. Von den Jungen selbst habe ich aber in Berlin diese Bezeichnung nie gehört. Wenn sie sich nach ihrem Bahnhofhandwerk benennen wollten, dann sprachen sie von "Berbern". Das klingt für einen sechzehn- bis siebzehnjährigen Jungen auch viel besser als Päckeljunge.«
Nach dem Waffenstillstand des ersten Weltkriegs »setzte in Berlin eine ziemlich scharfe Kontrolle der Bahnhöfe, Absteigequartiere, sog. Pennen usw. ein. Namentlich die republikanische Sicherheitswehr auf den Bahnhöfen griff sehr schnell zu. Für die Ortsfremden und Wohnungslosen bedeutete dies gewöhnlich eine längere Schutzhaft, wobei in dem Trubel, der zeitweise auf dem Polizeipräsidium herrschte, wohl auch der und jener mal etliche Zeit vergessen wurde.« Tatkräftige Ideen der Hilfe, Schaffung eines Heims bei freiwilliger Aufnahme, Arbeitsbeschaffung für die "Berber" unter dem Grundsatz "Ein arbeitsfähiger Junge darf kein Almosen empfangen" kennzeichnen die Arbeit von Pater Noppel, der auch fordert »daß wir an unsrer Jugend selbst unter so schwierigen Verhältnissen wie jene unsrer Berber nicht verzweifeln dürfen.«
Mit Hilfe von Hans-Josef Wollasch in Freiburg i. Br., der 1983 zum 100. Geburtstag von P. Constantin Noppel die Schrift "Ein Kaufmannssohn aus Radolfzell als Pionier für Jugendpflege und Seelsorge" vorlegte, konnte ich im Juli 1992 das Archiv der Oberdeutschen Provinz der Jesuiten in München aufsuchen. In den Faszikeln "Ortsfremde Jugend" und "Berlin" konnte ich tiefe Eindrücke über das Wirken von Constantin Noppel in Berlin gewinnen; zum Begriff BERBER gab es keine neuen Erkenntnisse. [Literatur- und Fundstellen ]
10. Bei weiterer Spurensuche in Fachzeitschriften/-büchern las ich eine Fülle zu "Krieg und Jugendverwahrlosung/ Kriminalität". Die BERBER blieben mir verborgen. - Die Spur der Gepäckjungen habe ich gesichert durch den Aufsatz "Aufgaben und Organisation des Straßendienstes" des Arbeiter-Samariter-Bundes aus dem Jahre 1926: »Die geschichtliche Entwicklung des Straßendienstes liegt noch nicht weit zurück. Sein Vorläufer ist die Kinderschutzkommission der SPD gewesen, die versuchte, die Zeitungs- und Milchkinder zu erfassen. Dann begann man vor etwa 8 Jahren damit, die Gepäckjungen auf den Bahnhöfen fürsorgerisch zu bearbeiten und wurde in der Folge sehr bald auf die Bettelkinder aufmerksam.« Der Straßendienst hatte die Aufgabe, «der Gefährdung vorzubeugen, dort den jungen Menschen nachzugehen, wo das Elternhaus versagt, ihn auf seinen unsicheren Wegen zu beobachten und zu gegebener Zeit dazwischen zutreten.« [Literatur- und Fundstellen]
11. Der Geheime Ober-Justizrath W. Starke sprach im November 1880 über "Jugendliche Verbrecher in der Stadt Berlin" und erwähnte auch Londoner Verhältnisse: »Ragged schools - Schulen der Zerlumpten, so hießen Anfangs die Pflegestätten und Schulen für die von der Straße aufgelesenen Kinder der Armuth, denen man im Hinblick auf ihre Heimathlosigkeit im Volksmunde den Namen "Straßenaraber" oder "Straßenbeduinen" gegeben hatte.« - Ja, das war eine Spur in die richtige Richtung, meinte ich und recherchierte zu London. [Literatur- und Fundstellen]
12. Der Waisenhausdirektor Dr. Banardo wirbt in London seit Anfang der 1870er Jahre mit Portraitaufnahmen von seinen Zöglingen um karitative Spenden. »In den Photographien wird der verwahrloste Zustand bei der Neuaufnahme der anschließenden geregelten Lehrlingsausbildung in einer mustergültig ausgestatteten Heimwerkstatt gegenübergestellt.« - Im Stil sind die Bildreklamen für das Waisenhaus von Dr. Banardo den Genrephotographien von Otto Reyländer nachempfunden; besonders die Photographie "A Little Street Arab" überschwemmte den damaligen Zeitungsmarkt. [Literatur- und Fundstellen]
Ein weiteres, ansprechendes Bild fand ich bei Immanuel Friz, der das Leben und Wirken von Dr. Banardo würdigte: "Im ganzen aber läßt sich nachweisen, daß die in der Provinz gescheiterten Existenzen doch mit Sicherheit früher oder später nach London kommen: nach Monaten oder Jahren heimatlosen Wanderns erreichen diese kleinen Nomaden aus der Wüste der Verlassenheit schließlich die Hauptstadt; sie ist der Strudel, der langsam aber sicher die Schiffbrüchigen an sich zieht."
Nachdenklich halte ich inne: Straßenaraber, kleine Beduinen, verelendete Mädchen und Jungen als Nomaden aus der Wüste -, gibt es hier eine Gedanken-Brücke zu den "Berbern" in Berlin, von denen Constantin Noppel und Harry Domela berichten? [Literatur- und Fundstellen]
13. Zeitgleich zu einigen Spuren, die ich bereits schilderte, waren:
Anne Bohnenkamp und Frank Möbus hatten Ende der 1980er Jahre das Buch "Mit Gunst und Verlaub! Wandernde Handwerker: Tradition und Alternative" herausgegeben und in einem Glossar der Walzsprache "Berber: echter Landstreicher, der die Städte meidet" und "Landstreicher: Berber" erwähnt. Frank Möbus teilte mir 1991 mit, daß seine allerdings subjektive Vermutung ist, »daß dieses Wort nicht sehr alt ist. Zumindest denkbar ist aber, daß "Berber" ein Derivat des bei Georg Henisch: teutsche sprach vnd weißheit, thesaurus linguae et sapientiae germanicae, Augsburg 1616, S. 282, nachgewiesenen Verbes "berbelen" für plappern, unverständliche reden ist. Verlockend möglich, aber nicht überzeugend.«
Der frühere Landstreicher, mein lieber Freund Josef Marr aus Wallenhorst, machte mich im April 1992 in Osnabrück mit Dieter Keppel, geboren 1940, bekannt. Die Berberzeit von Dieter Keppel war vom 18. August 1955 bis zum 15. Januar 1985: er erinnere sich, daß er die Begrüßung »Na oder wie du alter Berber« oder »wie du alter Berber, lebst du auch noch« zuerst im Herbst 1969 in Mannheim und dann Heiligabend 1969 in Weilburg/ Lahn hörte. In der Folgezeit sei das Wort BERBER in seinen Sprachgebrauch übergegangen: Berber war der, der sich ein, zwei Tage in einer Stadt aufgehalten hat und dann weitergezogen ist zum nächsten oder anderen Ort. [Literatur- und Fundstellen]
14. Einigen Menschen hatte ich erzählt, daß ich meine Spurensicherung beenden und einen Werkstattbericht schreiben will. Ich überlegte, ob ich bei meinen über Jahre andauernden Erkundungen nicht voreilig bestimmten Perspektiven den Rücken gekehrt habe. Vollzieht man eine Wende, dann hat man das, was gerade noch vor Augen lag, im Rücken und sieht es nicht mehr. Mein einschlägiges Manöver bestand darin, daß ich den Begriff BERBER an den Ort zurückbrachte, wo er für mich passiert war: es war eindeutig Berlin. [Literatur- und Fundstellen]
15. Ich hatte noch eine Hand frei und wandte mich der Universitätsbibliothek Bochum zu. Mit Sinn für die Vielschichtigkeit des Themas schweifte mein Blick nochmals in einschlägige Fachzeitschriften. Nichts. Wie hinaus aus der Bredouille? Da die Geschichte viele Töne bereithält, - nun, ich fand einen Schlüssel zum Verständnis im Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch, I. Band, von 1976: Berber ist die Bezeichnung für ein starkgebautes Arbeitspferd und kommt vor in Gransee (Altglobsow), Eberswalde (Klein Zietken) und Fürstenwalde (Erkner). Im übertragenen Sinne wird Berber gebraucht für "großer, derbgebauter Bursche", vor allem in Templin (Metzelthin). Ein weiterer Hinweis galt "Baks", ein Wort für "großer Bursche"; auch synonym für Lümmel, Backochse, Bambuse und Berber in der Bedeutung "grober, derber Bursche". -
Eine große Zufriedenheit stellte sich bei mir ein: in der Brandenburg-Berlinischen Raumschaft steht BERBER für »großer Bursche, der arbeiten kann wie ein Pferd«. Eine einfache Lösung, da mir andere Texte durchweg ein bißchen problematisch im interpretatorischen Überschuß erschienen waren. [Literatur- und Fundstellen]
16. Aber, da war noch ein Merkzettel zu einer Hörfunksendung des DeutschlandRadios Berlin von März 1994 zu "Schlafsack oder Fürstenbett. Berber und Millionäre in Baden-Baden" von Monika Köhn, in der Norbert feststellte (O-Ton): »Wie nennt man das jetzt - Berber? Oder? Dann bin ich ein Berber! (lacht) Ja, hoffentlich laufen nicht so viele Leute über mich drüber! (lacht)« Mag es so sein, ich beende meine Spurensuche und bilanziere: [Literatur- und Fundstellen]
17. Die BERBER selbst, so vermute ich, mögen das Theoretisieren nicht, das unnötige Erschweren der Sache durch abstrakte Begriffe. Die Wechselfälle der Geschichte, des Lebens haben sie nicht wehleidig, sondern überlebensklug gemacht. So gesehen beinhaltet der Begriff BERBER manche Ansichten, Überzeugungen, Erfahrungen und gilt als Schatz und Stolz, die wohlerworben sind, durch traurige und fröhliche Erlebnisse wieder und wieder bestätigt: Bastion in wilden Zeiten, innere Heimat. Er bietet alles, auch das Unvereinbare: grenzenlose Freiheit und engmaschige Sicherheit in einem: unter Umständen sogar den Anschub zu einer kommunikativen Installation.
18. Der geneigten Leserin/ dem geneigten Leser wollte ich mit diesem Werkstattbericht eine Art Wegweiser und Schaufenster für den Begriff BERBER geben. - Heute finden wir diesen Begriff in vielen Zusammenhängen, wie BERBER-Brief, BERBER-Sommer, BERBER-Kongreß, BERBER-Dorf, Berbersee, "Berber willkommen" und Berbertracht. Die Eigenbezeichnung BERBER half kräftig mit, vor allem im Alltagsgebrauch, das verleumderische Wort "nichtseßhaft" wegzutun. [Literatur- und Fundstellen ]
Hannes KIEBEL
Bochum
Literatur- und Fundstellen-Verzeichnis, Anmerkungen
zu 1.
SCHERNAU: vormals Arbeiterkolonie, heute: Alten-, Pflege- und Übergangsheim in Martinshöhe/Pfalz, Bamsterhof. Träger: Pfälzer Arbeiterkolonie-Verein e.V.
DER BERBER (Stuttgart), Nr. 1 - September 1980, Nr. 2 - Dezember 1980, Nr. 3 - Februar 1981, Nr. 4 - Mai 1981.
KLEE, Ernst: Nichtseßhafte. Berber rebellieren. "Gemeinsam sind wir unausstehlich". In: Die Zeit (Hamburg), 26. Juni 1981.
zu 3.
KIEBEL, Hannes: "Allein machen sie dich ein und gemeinsam sind wir unausstehlich...!" Anmerkungen zum Ersten Stuttgarter Berberkongress am 12. und 13. September 1981. In: KüNSTLERHAUS BETHANIEN (Hrsg.): Wohnsitz: Nirgendwo. Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, 427-438.
"hb" (Heinz BEEKMANNS): Warum Berber. In: Stuttgarter Zeitung (Stuttgart) Nr. 110, 14. Mai 1981. (Aus Stuttgart).
Siehe auch: MEHLIS, C.: Die Berberfrage. Mit drei in den Text gedruckten Abbildungen. Sonder-Abdruck aus dem "Archiv für Anthropologie". Braunschweig 1909, Neue Folge, Band VIII, Heft 4 .
zu 4.
DPA-Deutsche Presse-Agentur GmbH (Ha): Die Situation der Nichtseßhaften in der Republik. dpa-Hintergrund. Verantwortlich: Albrecht Nürnberger. Nr. 3109/3.5.1984. Hier: 5 und 6.
zu 5.
DOMELA, Harry: Heute sind wir zu zweit, da wird es nicht so schlimm. Aus: DOMELA: Harry: Der falsche Prinz. Berlin: Malik-Verlag 1927. In: KüNSTLERHAUS BETHANIEN (Hrsg.): Wohnsitz: Nirgendwo. Berlin: Frölich & Kaufmann 1982, 131-136.
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela. Im Gefängnis zu Köln von ihm selbst aufgeschrieben, Januar bis Juni 1927. Berlin: Malik-Verlag 1927. (Fundstellen: 50, 54, 55, 56, 57, 75, 79). Insgesamt: 6 Auflagen mit 121 Tausend Exemplaren.
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Mit einem Nachwort von Wieland Herzfelde. Königstein/Taunus: Verlag AutorenEdition im Athenäum Verlag 1979. (Fundstellen: wie in der Ausgabe von 1927).
DOMELA, Harry: Der falsche Prinz. Berlin/ Weimar: Aufbau Verlag 1983. (Fundstellen: 42, 46, 47, 48, 63, 66).
zu 6.
KüPPER, Heinz: Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache in 8 Bänden. Stuttgart: Ernst Klett 1982. Hier: Band 1, 346.
KüPPER, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Band VI, Jugenddeutsch von A - Z. Hamburg/ Düsseldorf: Claassen Verlag 1970, 72. Literatur-Hinweis zu Berber: alter Mann, Nacht Depesche (Berlin), vom 10. August 1967, und zu berbern: FICHTE, Hubert: Die Palette. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, 48.
zu 7.
FICHTE. Hubert: Die Palette. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1968. (Fundstelle: berbern - 48, 220; Berber - 66, 115/116, 168, 195, 240, 286, 360).
FICHTE, Hubert: Die Palette. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981 (1989). (Fundstellen: berbern - 48, 210; Berber - 64, 111, 161, 161/162, 187, 230, 273, 343).
zu 8.
DUHR, Bernhard S.J.: Großstadt-Elend und Rettung der Elendesten. Freiburg i. Br.: Herder 1920. (Flugschriften der "Stimmen der Zeit", 19. Heft), 4-5.
zu 9.
WOLLASCH, Hans-Josef: Ein Kaufmannssohn aus Radolfzell als Pionier für Jugendpflege und Seelsorge. Zum 100. Geburtstag von P. Constantin Nopppel SJ (1883-1945). In: HEGAU. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee, 28/1983/Heft 40, 7-58.
NOPPEL, Constantin: Berliner Berber. In: JUGENDFüRSORGE. Mitteilungen der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge (Berlin) 14/1919, 51 - 54.
NOPPEL, Constantin: Die Tätigkeit des Jugendhelfers in der Hauptverhandlung. In: ZENTRALBLATT für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung (Berlin) 7/1915, 160-163.
NOPPEL, Constantin: Das caritative Jugendheim. In: ZEITSCHRIFT für kath. caritative Erziehungstätigkeit (Freiburg i.Br.) 7/1918/3-4, 17-28.
NOPPEL, Constantin: Die Not unserer kath. männlichen Jugend, insbesondere der ortsfremden, und die Aufgaben der Caritas. Das caritative Jugendheim. Freiburg i. Br.: Caritasverband für das katholische Deutschland 1918.
NOPPEL, Constantin: Neue Aufgaben der caritativen Erziehung. In: ZEITSCHRIFT für katholische caritative Erziehungstätigkeit (Freiburg i. Br.) 8/1919/Juni, 19-25.
NOPPEL, Constantin: Jugendzeit. Ein Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands. Freiburg i. Br.: Herder 1921 (Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit. Erste Reihe: Kulturfragen, Heft 8).
DITTMER, Margarete: Wandernde Jugendliche. In: BERICHT über die zweite Tagung über Psychopathenfürsorge. Berlin 1921, 39-46.
JORNS, Auguste: Jugendliche Wanderer. In: RATGEBER für Jugendvereinigungen (Berlin) 11/1917, Heft 2/3.
DEHN, Günther: Berliner Jungen. In: Die INNERE MISSION im Evangelischen Deutschland (Berlin-Spandau) 7/1912, 97-104 .
SCHRöDER, Hugo: Wilde jugendliche Wanderer. In: SOZIALE PRAXIS und Archiv für Jugendwohlfahrt (Berlin, Leipzig) 33/1924, Nr. 44, Sp. 934-937; Fortsetzung in Nr. 45, Sp. 957-959; Schluß in Nr. 46, Sp. 979-981.
zu 10.
AUFGABEN UND ORGANISATION DES STRASSENDIENSTES. Nach einem Vortrag des Fürsorgers Thee, Berlin-Friedrichshain. In: Der ARBEITER-SAMARITER (Chemnitz) 17/1926, Heft 3, 42-43.
Über die ungünstige Einwirkung des Krieges und seiner Folgeerscheinungen vgl.:
HELLWIG: Krieg und Kriminalität der Jugendlichen. Halle 1916.
WITTIG: Die ethisch minderwertigen Jugendlichen und der Krieg. Langensalza 1918.
GOLIAS: Krieg und Jugendverwahrlosung. Leipzig 1919.
MOSES: Zum Problem der sozialen Familienverwahrlosung unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Kriege. Langensalza 1920.
WITTIA: Der Einfluß des Krieges und die Kriminalität der Jugend lichen. Langensalza 1920.
HELLWIG: Die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung in Preußen und im Reich nach den am 1. Juni 1922 geltenden Bestimmungen. Berlin 1922.
zu 11.
STARKE, W.: Jugendliche Verbrecher in der Stadt Berlin. Vortrag. Berlin: Julius Sittenfeld 1880, 17.
zu 12.
SCHMANDT, Peter: Armenhaus und Obdachlosenasyl in der englischen Graphik und Malerei (1830-1880). Marburg: Jonas Verlag 1991, 113-115.
FRIZ, Immanuel: Dr. Barnardo der Vater der "Niemandskinder". Ein Bild seines Lebens und Wirkens. Überarbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ida Frohnmeyer. Basel: Verlag Friedrich Reinhardt 1949, 63.
zu 13.
BOHNENKAMP, Anne/ MöBUS, Frank (Hrsg.): Mit Gunst und Verlaub! Wandernde Handwerker: Tradition und Alternative. Göttingen: Wallstein Verlag 1989, 192, 201.
Schreiben Frank MöBUS, Göttingen, an Hannes Kiebel am 11. Februar 1991.
Notizen zum Gespräch Dieter Paul KEPPEL mit Hannes Kiebel am 20. April 1992 in Osnabrück.
zu 15.
BRANDENBURG-BERLINISCHES WöRTERBUCH. Hg. von Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Sprachwissenschaftliche Kommission. I. Band A - E, bearbeitet von Joachim Donath, Heinz Gebhardt, Gerhard Ising, Annemarie Wiese, Joachim Wiese. Berlin: Akademie-Verlag in Arbeitsgemeinschaft mit Karl-Wachholtz-Verlag, Neumünster 1976, 444 (Baks), 543 (Berber).
zu 16.
KöHN, Monika: Schlafsack oder Fürstenbett. Berber und Millionäre in Baden-Baden. Manuskript. DeutschlandRadio, Künstlerisches Wort, Feature, März 1994, 2.
zu 18.
BERBER-BRIEF: BB-Berber Brief, Redaktion: Hans Klunkelfuß, Mühldorf am Inn. Mehrere Ausgaben ab 1987.
BERBER-SOMMER: KARR, K.P./ WEHNER, Walter: Berbersommer. Kriminalgeschichten aus der Großstadt. Essen: A 4 Verlag 1992.
BERBER-KONGRESS: vgl. zu 2. und 3.; dann: Kongreß der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen vom 19. bis 22. Juni 1991 in Uelzen. - "Die Ossis halten doch nur die Hand auf". 200 Obdach- und Besitzlose trafen sich zum "Berberkongreß" in Uelzen. In: die tageszeitung, 25. Juni 1991. - TRAPPMANN, Klaus: Generalstreik ein Leben lang. Vagabunden, Berber, Obdachlose. Hörfunksendung des Westdeutschen Rundfunks am 13. Oktober 1991 (WDR 3).
BERBER-DORF: Dieses "Dorf" ist eine diakonische Einrichtung mit starken Selbsthilfe/-verwaltungselementen in Esslingen. Eine Information gab der Fernsehfilm von Juliane ENDRES "Ein Dach über dem Leben. Von Bürgern, Berbern und Pastoren" am 6. August 1994 in Südwest 3.
BERBERSEE. "Catwiesel der Landstreicher" (das ist: Hans-Joachim Roßmann) erwähnte am 15. Juli 1994 anläßlich einer Lesung in Berlin den Sander See, wo sich gelegentlich die Berber treffen, "die echten, die alten Füchse der Landstraße". - Vgl. CATWIESEL: Da, wo Träume ihre Freiheit haben!, in: CATWIESEL'S ERZäHLUNGEN. Die Freiheit der Steine. Ahlhorn: Rüdiger Gehrmann, 2. Auflage 1994, 34-35
BERBER WILLKOMMEN. Diese Einladungsworte sind die Überschrift zu einem Beitrag von Amely WEITNAUER in caritas aktuell, Nr. 3/ August 1994, 6-7. Im Beitrage selbst kommt BERBER nicht vor, sondern die Begriffe "Nichtseßhafte" und "Penner".
BERBERTRACHT. Der Bötzinger Abgeordnete Ulrich Brinkmann zog als Berber durchs Land, in Berbertracht und mit Tarnungsbart. "Wenn ein Sozialdemokrat zu Testzwecken Platte macht". In: Badische Zeitung (Freiburg i. Br.) Nr. 191, 19. August 1994, 6; "So schlimm habe ich mir das nicht vorgestellt". SPD-Abgeordneter war zwei Wochen als "Berber" unterwegs. In: Südkurier (Konstanz) Nr. 191, 19. August 1994, 5.
KIEBEL, Hannes: "nichtseßhaft" - ein Begriff wird in Kürze 100 Jahre alt. In: Gefährdetenhilfe (Bielefeld) 35/1993/1, 24-26.
Jennifer Toth
Der Untergrund in Geschichte, Literatur und Kultur
"Doch verkennt mich, wer glaubt, daß ich feige bin und etwa nur aus Feigheit meinen Bau anlege."
Franz KAFKA, Der Bau.
Der selbsternannte Engel des Bösen personifiziert die instinktive Furcht, die viele gegenüber dem Untergrund und den Lebewesen, die dort existieren, hegen. Unsere Wahrnehmung dieser Region und der Leute, die dort leben, ist durch Schrecken erzeugende Vorstellungen geprägt, die in unserer Kultur von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. In der Literatur und in der Geschichte wurden die Tiefen der Erde über Jahrhunderte hindurch als ein Gebiet dargestellt, in dem das Böse und Irrationale gedeihen. Sie sind der ideale Projektionsraum für das Dunkle, Unbekannte und Unheilverkündende und eine Quelle, aus der sich begierig Phantasien speisen.
Aus diesen Vorstellungen heraus ist in der Kultur des Westens der Untergrund zur Metapher für eine bestimmte Gedankenwelt, ein bestimmtes soziales Umfeld sowie ein bestimmtes ideologisches Konzept geworden. Er wird als bedrohliche Kehrseite der überirdischen Gesellschaft dargestellt. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die symbolische Bedeutung der Metaphern, die sowohl in der Geschichte als auch der Literaturgeschichte immer wieder auftauchen, stark verändert. Dennoch haben diese Metaphern weitverbreitete und zählebige Begriffsinhalte, zerstörerische Vorurteile und eine naive, aber tief verwurzelte Furcht vor der Dunkelheit hervorgebracht, woraus sich die ernsthaften Hindernisse erklären, die einer Hilfe für die Obdachlosen im Untergrund entgegenstehen. Glücklicherweise interessiert sich die Forschung für dieses kulturelle Erbe, untersucht es und stellt es dar - ein erster Schritt auf dem Weg, uns selbst von diesem Erbe und seinen schädlichen Einflüssen lösen zu können.
In der Literatur wird der Untergrund in den seltensten Fällen als ein Garten Eden entworfen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört eine antike Legende, in der es die Verheißung eines 1500 Kilometer langen Tunnels gibt, der zu einer phantastisch wohlhabenden und hochentwickelten Zivilisation führen soll. Mehrere moderne Autoren haben versucht, den Ort aus dem dunklen Untergrund in die erhabenen Berge Tibets zu verlegen - ein Beispiel dafür ist die Hollywood-Verfilmung von Shangri-la - oder aber in die unendlichen Meere von Atlantis. Für die Anhänger der antiken Legende bleibt der Ort jedoch noch immer der Untergrund, und manche behaupten sogar, daß das Tunnelsystem unter dem New-Yorker Central Park Teil des legendären Netzwerkes sei.
Statt eines Garten Eden ist der Untergrund jedoch vor allem lange Zeit gleichbedeutend mit der Hölle gewesen, und zwar in der Bibel und ihren Auslegungen. So fuhren beispielsweise die Höllenkreise DANTES nach unten. Autoren des 19. Jahrhunderts benutzten den Untergrund als Metapher für ein Volk, das an der Oberfläche lebte, aber durch Verbrechen und drückende Armut dem Untergang geweiht war. Die heutige Welt des Verbrechens heißt in der Umgangssprache die "Unterwelt".
In ihrem Buch "Notes on the Underground" zeigt die Historikerin Rosalind WILLIAMS, daß man den Untergrund nicht immer gefürchtet hat. Sie argumentiert, daß die Untergrund-lkonographie den Interpretationen in Literatur und Geschichte folgt, wo die Unterwelten als technisches Milieu interpretiert werden. Die Furcht vor dem Untergrund tauchte historisch zeitgleich mit der Furcht vor dem technischen Fortschritt auf.
In der Urgeschichte war der Untergrund ein beruhigender Zufluchtsort vor den natürlichen Gefahren an der Erdoberfläche. Die ersten Bauten der Menschheit waren eher Höhlen als Gebäude, die "den Wunsch verkörperten, in die dunkle Sicherheit der Gebärmutter zurückzukehren, was ebenso ursprünglich ist wie vormythisch", schreibt WILLIAMS. Bis zum Anbruch des wissenschaftlichen Zeitalters hatte die Erde das Image einer Nährmutter. Laut Williams war sie "eine geheiligte Größe". "In die Erde zu graben, kam einer Vergewaltigung nahe. Aus diesem Grunde war Bergbau ein Unternehmen von zweifelhafter Moral, einer Verstümmelung und Schändung vergleichbar." Bis zum Ausgang des Mittelalters war es eine rituelle Handlung, eine Mine anzulegen, und bevor man in den geheiligten Untergrund eindrang, wurden religiöse Zeremonien abgehalten.
Aber in der Renaissance veränderten sich die Erzählungen über Reisen in die Unterwelt. Aus den geistlichen Erzählungen, die man mündlich übermittelte, wurden weltliche Erzählungen, die man nun aufschrieb. In diesen Erzählungen entdecken abenteuerlustige, verrückte oder unglückliche Reisende eine Unterwelt, die sie betreten, aus der sie manchmal jedoch nicht wieder auftauchen.
In einigen dieser Erzählungen finden sich immer noch die Spuren der früheren geistlichen Erzähltradition. William BECKFORD er zählt in "Vathek" (1787), wie der Kalif Vathek, ein hochmütiger Monarch voller Machtgier und Sinneslust, einen Pakt mit Eblis, dem orientalischen Satan, eingeht. Nachdem der Kalif seiner Religion und Gott abschwört, darf er Eblis' "Palast des unterirdischen Feuers" betreten, der unter den Ruinen einer alten Stadt liegt und in dem sich Schätze und Talismane befinden. Als sich Vathek und seine Geliebte der Ruinenstadt nähern, öffnet sich vor ihnen eine steinerne Plattform. Eine Treppe aus poliertem Marmor geleitet sie hinunter in das Reich des Eblis: "(...) sie fanden sich an einem Ort wieder, der, obgleich es sich um ein Gewölbe handelte, so weit und hoch war, daß sie ihn zunächst für eine große Ebene hielten. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Größe der sie umgebenden Gegenstände, sie entdeckten Säulenreihen und Arkaden, die so weit in die Ferne reichten, bis sie sich am Horizont in einem leuchtenden Punkt trafen, so wie die untergehende Sonne das Meer mit ihren letzten Strahlen färbt." Sie sehen eine riesige Halle, die von bleichen Geistern umgeben ist, einige davon kreischen, andere sind still, alle haben glimmende Augen und bedecken mit der rechten Hand ihr Herz, das vom Feuer verspeist wird. Vathek und seine Geliebte fangen vor Haß an zu brennen und werden zu ewiger Hoffnungslosigkeit verdammt.
Jorge Luis BORGES pries in seiner Einleitung zu "Vathek" das Buch als "die erste richtig grausame Hölle in der Literatur". BECKFORD schuf den Präzedenzfall für einen dämonischen Untergrund, der sich in zeitgenössischen Arbeiten, wie Jean-Paul SARTRES "Bei geschlossenen Türen", fortsetzt.
Die Technik ermöglichte neue Vorstellungen vom Untergrund, und in einigen Büchern wurden die Tiefen als Quelle des Wissens und der philosophischen Wahrheit dargestellt. In der Spätrenaissance entstand eine neue Art intellektueller Forschung, Naturwissenschaften genannt - und heute Wissenschaft -, die die Bilder vom Bergbau dazu benutzte, um ihre Grundsätze und Methoden zu erklären. Francis BACON verwendete das Ausschachten von Erde als Metapher, wenn er Forschern nahelegte, "tiefer und tiefer in der Mine natürlichen Wissens" zu graben. Weil tief in der Erde, "in gewissen tiefen Minen und Höhlen, die Wahrheit der Natur versteckt läge" (vgl. WILLIAMS, "Notes on the Underground").
Im gesamten 18. Jahrhundert und noch Anfang des folgenden bedienten sich die Philosophen und Gesellschaftstheoretiker des Untergrundes als Metapher dafür, zur Wahrheit vorzudringen. "Die Elenden", Victor HUGOS Roman von 1862 über einen Aufstand der Unterschicht in Frankreich, ist eines der besten Beispiele für die erzählerische Erkundung des Untergrundes, sowohl in metaphorischer wie literarischer Hinsicht. Entscheidende Ereignisse läßt HUGO in den Abwasserkanälen unter der Stadt Paris stattfinden.
Der Autor erklärte, warum er metaphorisch in die Tiefen gereist ist:
"Die Mission des Moral- und Begriffshistorikers ist ebenso ernsthaft wie die des Historikers, der Ereignisse aufzeichnet. Der letztere betrachtet die Oberfläche der Zivilisation bei Tageslicht, betrachtet das äußere Geschehen: die Auseinandersetzungen der Königshäuser, die Geburten von Prinzen, die Ehen der Könige, die Schlachten, die Treffen, die großen Persönlichkeiten, die Revolutionen. Der Moral- und Begriffshistoriker beschäftigt sich mit dem Innenliegenden, mit den Grundlagen, mit den Leuten, die arbeiten, die leiden und die warten, mit überlasteten Frauen, mit schrecklicher Kindheit, mit den geheimen Kriegen, die die Männer gegeneinander führen, den verborgenen Grausamkeiten, den Vorurteilen, den bestehenden Ungerechtigkeiten, den verborgenen Auswirkungen des Gesetzes, den geheimen Entwicklungen, die die Seele nimmt, dem dunklen Erschaudern der Menschenmenge, dem Hunger, den Barfüßigen, den Unbewaffneten, den Enterbten, den Waisen, den Unglücklichen und den Ehrlosen und all den Geistererscheinungen, die in der Dunkelheit umherwandern. (...) Ist die Unterwelt der Zivilisation, weil sie tiefer und trüber ist, weniger wichtig, als der obere Teil? Kennen wir den Berg wirklich, ohne die Höhle zu kennen?"
WILLIAMS meint, daß die Historiker auf HUGOS Herausforderung eineinhalb Jahrhunderte lang eingegangen sind und unter der Oberfläche und dem, was diese zeigt, gegraben haben und unter getauchte und unterdrückte Gruppen zutage gebracht haben (Homosexuelle, Kriminelle, Frauen), unterdrückte Beweise (Träume, sexuelle Gebräuche, gedankliche Konstrukte) und unterdrückte Kräfte (ökonomische, technologische und ökologische).
Die Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert benutzt das Thema der Reise in den Untergrund häufig als Suche. Auf der Suche nach gesellschaftlicher Wahrheit steigt der Pilger in die Niederungen der Gesellschaft hinab", heißt es bei WILLIAMS. "Der Abstieg hat stets metaphorische Bedeutung, dürfte aber angesichts der Lebensbedingungen der Armen zugleich auch wörtlich zu nehmen sein."
Insbesondere Englands viktorianische Realisten, wie Charles DICKENS, William THACKERAY und George ELIOT, wurden für ihre realistischen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens im "Untergrund" gelobt. George GISSINGS Roman von 1889, "Die Welt dort unten", ist von unheimlicher Voraussicht, indem seine Beschreibungen von Menschen in einer Notlage auf die Obdachlosen im Untergrund von heute Verweisen. In seinem Buch sind jedoch die Menschen, die ums Überleben kämpfen und darum, sich ein Minimum an Würde zu erhalten, unter der Oberfläche tatsächlich gefangen - und zwar nicht, wie die Obdachlosen, durch soziale Umstände.
Es war HUGO, der das Bild einer dunklen Unterwelt am wirkungsvollsten benutzte, um den Reichen und Mächtigen zu drohen. Seine unterirdische Welt ist nicht nur arm, sondern zugleich verhängnisvoll für die französische Gesellschaft. "Die Männer hörten unter ihren Füßen ein gedämpftes Geräusch, als einige geheimnisvolle Maulwurfshügel an der Oberfläche der Zivilisation auftauchten, als die Erde rissig wurde, sich die Höhlenmündungen öffneten und die Männer plötzlich monströse Köpfe aus der Erde emporschnellen sahen."
Aus einem "riesigen schwarzen Loch ... hörte man das schwache Grollen der düsteren Stimmen des Volkes. Eine furchtsame und heilige Stimme, bestehend aus dem Röhren eines Scheusals und der Stimme Gottes..., die zur gleichen Zeit von unten, wie Löwengebrüll, und von oben, wie Gewitterdonner, kommt."
Obwohl HUGO den Leser der Brutalität des unterirdischen Lebens aussetzt, setzt er ebenso die unlösbaren Verbindungen zwischen der überirdischen und unterirdischen Gesellschaft in Szene, wie zum Beispiel in der Verfolgungsszene, in der Marius von Jean Valjean durch den Abwasserkanal getragen wird. HUGOS Botschaft besteht darin, daß die Gesellschaft im Untergrund zur Gesamtgesellschaft gehört und sie deshalb auch von ihrem Elend befreit werden kann.
MARX und FREUD, behauptet WILLIAMS, benutzten so häufig Untergrundmetaphorik, daß es heute nahezu unmöglich sei, einen Text über die Unterwelt zu lesen, ohne ihn im Sinne von MARX oder FREUD zu interpretieren.
Was den realen Untergrund betrifft, so wurde die unterirdische Grundlage der modernen Industrie zwischen dem späten 18. und späten 19. Jahrhundert mit dem Bau eines Verkehrsnetzes aus Kanälen und Eisenbahnlinien entwickelt. Darauf folgte die Konstruktion von Abwasserkanälen, Hauptwasserleitungen, Dampfröhren, U-Bahnen, Telefon- und Elektroleitungen und machte die Wechselwirkung und Koordination der Stadt oben mit ihrem lebenserhaltenden Inneren erforderlich.
Mit der Schaffung neuer materieller Grundlagen des industriellen und städtischen Leben bildeten sich zugleich neue gesellschaftliche Grundlagen heraus. Die Ausschachtungsarbeiten wurden zur Metapher für die grundlegenden Veränderungen, der die Gesellschaft unterworfen wurde, und sogar für den abstrakten Fortschritt der Zivilisation. Um U-Bahnlinien zu bauen, wurden lange bestehende Wohngebiete und Gemeinschaften aus den Angeln gehoben. Wegen der erhöhten Verkehrsgeschwindigkeit, die die U-Bahn zu bieten hatte, änderten sich die täglichen Verkehrsströme und die Arbeitsplätze. Diese Veränderungen brachten Besorgnisse über die neue Ordnung hervor. Und so tauchte im 19. Jahrhundert ein neuer Typus von Untergrundgeschichten auf: Die Unterwelt wurde zu einem Ort, den die Leute nicht nur besuchten, sondern an dem sie tatsächlich lebten.
In Jules VERNES Roman von 1864, "Reise zum Mittelpunkt der Erde", leben die Menschen im Untergrund völlig losgelöst von der überirdischen Welt. Dieser Gedanke eines permanenten unterirdischen Lebens entstand zeitgleich mit den Entwicklungen der modernen Wissenschaft und Technik. Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der Gedanke, daß die Erde hohl und bewohnbar sei, noch eine Reihe ernsthafter Befürworter. Mit fortschreitendem Wissen wurde die Möglichkeit, eine verborgene innere Welt zu entdecken, immer weniger glaubhaft. Im Zuge der technischen Entwicklung wurde jedoch zugleich die Vorstellung vom Bau einer Welt im Erdinneren immer folgerichtiger.
Die technische Möglichkeit, eine unterirdische Gesellschaft zu errichten, evozierte Befürchtungen, daß die Gesellschaft manipulierbar sei, und verbunden damit die tiefe Angst, die Gesellschaft könne die Technik eines Tages nicht mehr beherrschen. Die Entwicklung der Technik ging weiter, und H. G. WELLS kritisierte, daß unkontrolliertes technisches Wachstum sowie der naive Glaube der Gesellschaft an ein Wachstum um ihrer selbst willen zu einer degenerierten Gesellschaft führen könne, in der man die Arbeiterklasse mißbrauche. WELLS Erzähler in "Die Zeitmaschine" erklärt seinen Lesern aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, daß die Entwicklung einer Untergrund-Menschheit zwar eine groteske Vorstellung sein möge, aber "bereits Umstände existieren, die in diese Richtung deuten."
"Es herrscht eine Tendenz, die weniger ansehnlichen Einrichtungen unserer Zivilisation unter die Erde zu verlegen - wie zum Beispiel die Untergrundbahn in London, neue elektrische Bahnlinien oder unterirdische Werkstätten und Restaurants -, und sie vermehren sich und breiten sich aus", schrieb WELLS. "Offenbar, so dachte ich, hatte sich diese Tendenz so weit verstärkt, bis die gesamte Industrie allmählich ihr Recht auf Tageslicht verloren hatte. Ich meine damit, daß sie sich mehr und mehr in Richtung größerer unterirdischer Fabrikanlagen entwickelt hatte, in denen man immer mehr Zeit verbringen mußte, bis endlich zum Schluß...! Lebt denn nicht auch heutzutage ein Arbeiter im Londoner East End unter so unnatürlichen Bedingungen, daß er nahezu vom Leben an der freien Erdoberfläche ausgeschlossen ist?"
WELLS, der die Auswirkungen einer wachsenden Untergrundtechnik auf die Zukunft untersuchte, berührte dabei etwas, was für die Vergangenheit gegolten hatte: Die Arbeiter unter Tage galten im Laufe der Geschichte als minderwertig. Die Sklaven Ägyptens und Roms wurden gezwungen, in den Minen zu arbeiten und zu leben. Im Anschluß an das Mittelalter wurde unterirdisches Leben nur von jenen erfahren, die auf der sozialen Leiter ganz unten standen. Der Untergrund verlor seine "Nährmutter"-Mystik.
Die meisten Untergrundarbeiter waren Leibeigene, Sklaven, Kriminelle oder Kriegsgefangene. Die Arbeit im Bergbau war häufig eine Form der Bestrafung. In fast allen Fällen waren die Arbeitsbedingungen auf krankhafte Weise unmenschlich. In den Vereinigten Staaten arbeiteten Zuchthäusler, Kriegsgefangene und Sklaven bis zur industriellen Revolution im Untergrund, als dererlei Arbeiten, insbesondere im Bergbau, den Einwanderern vorbehalten blieben - den jüngsten und sich zugleich in größter Geldnot befindenden Mitgliedern der Gesellschaft. Die soziale Degradierung der Untergrundarbeiter trägt zur Erklärung bei, warum die Unterwelt schließlich als Gebiet des Leidens und des Todes gefürchtet wurde.
Im 19. Jahrhundert konnten dank der Eisenbahn- und U-Bahntunnel zum ersten Mal die Mittelklasse und sogar die Oberklasse einen Geschmack vom Untergrund gewinnen. Die Erfahrung, von der Natur abgeschnitten zu sein und in eine künstliche Welt einzutauchen, machten damit nicht länger nur die Unterschichten und Außenseiter der Gesellschaft. Je stärker der Untergrund bekannt wurde und zum Wohle der Gesellschaft nutzbar gemacht wurde, um so weniger erschreckend und häßlich war er. Ganz allmählich, als man die Technik zu idealisieren begann - insbesondere mit der Einführung der Elektrizität, durch die die unteren Regionen beleuchtet werden konnten -, betrachtete man die Unterwelt als etwas Abgeschiedenes, aber auch Magisches und Erhabenes.
Einige Autoren rebellierten gegen den Untergrund und die Technik und sahen darin eine Gefahr für die Zukunft der Menschheit. H. G. WELLS setzte seine Geschichten bewußt dazu ein, die Wechselwirkungen zwischen technischem Fortschritt und menschlicher Degenerierung zu thematisieren. In "Die Zeitmaschine" äußert er die Befürchtung, daß Arbeiter zunehmend brutaler werden konnten, wenn ihre Arbeit immer stärker mechanisiert und monotoner wird und dabei das Individuum in einer feindlichen kollektiven Gewalt im Untergrund verschwindet. Er warnt "vor Leuten, die sich in aller Stille entwickeln, in Regionen, die unserer Sicht entzogen sind und in unseren Legenden als unbewohnbar angesehen werden, einer Kraft, die unsere diszipliniertesten Möglichkeiten, Gewalt auszuüben, übertrifft.
Zeitalter mögen noch verstreichen", schrieb WELLS, "bevor unsere unvermeidlichen Zerstörer an das Sonnenlicht gelangen."
In unserer heutigen Welt ist das Wort "Untergrund" mit einem Mosaik zeitgenössischer gesellschaftlicher und politischer Vorstellungen behaftet, wie Revolution, avantgardistische Zeitungen, organisiertes Verbrechen, Linksterrorismus und Drogenhandel. Außerdem gibt es in der Literatur den Begriff vom "Untergrundmenschen", dem ultimativen Abtrünnigen aus der modernen Welt. Der Literaturkritiker Edward F. ABOOD kennzeichnet seinen "Untergrundmenschen" einerseits als Schöpfung des 20. Jahrhunderts, führt uns jedoch andererseits zurück zu Fjodor DOSTOJEWSKIS "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus".
"DOSTOJEWSKIS klassische literarische Figur, ein unsterblicher Neurotiker, findet heute mehr Seelenverwandte, als er 1864 gefunden hat", schreibt ABOOD.[1]
Laut ABOOD ist der Untergrundmensch ein Rebell gegen die dominierenden Normen der Gesellschaft, in der er lebt, und gegen die Kräfte, die ihr Fortbestehen sichern. Seine Handlungen, falls er dazu fähig ist, sind im wesentlichen eigenständige. Und wenn er sich einer Gruppe anschließt, engagiert er sich auf subjektive Art und isoliert sich damit. Er weist andere Verhaltensmuster zurück, insbesondere die Wertvorstellungen, nach denen die Mehrheit seiner Mitmenschen lebt. Aus diesem Grund lebt er im Zustand ständiger Anspannung und Angst, die durch sein wahrscheinlich hervorstechendstes Merkmal verschlimmert wird, eine wachsame, und häufig krankhafte Sensibilitat.
Dieser Untergrundmensch ist weit davon entfernt, ein romantischer Held zu sein, insbesondere deshalb, weil sein Ich die Hauptursache seiner Qualen ist. Er ist nicht deshalb isoliert, weil er die Isolation gewählt hat, sondern weil darin seine Bürde und sein Schicksal liegen.
Am charakteristischsten für den Untergrundmenschen erscheint dessen extreme Zurückgezogenheit und Isolation. Er ist ein selbsternannter Exilant aus der menschlichen Gesellschaft, mit der er nur soviel Kontakt aufrechterhält, wie zum Überleben notwendig ist. Die Welt draußen lehnt er ab, aber zugleich hegt er die grundlegende Furcht, daß man ihn in seinem "Mauseloch", wie DOSTOJEWSKI sein Zuhause nannte, vergessen konnte. Obwohl er das Exil für sich gewählt hat, findet er die Gleichgültigkeit, die die Gesellschaft ihm gegenüber zeigt, unerträglich. Seine Wohnung ist kein Zufluchtsort, sie ist eher ein Gefängnis. Er besitzt letzten Endes nichts, an das er glauben könnte. Er leidet unter Qualen, Entfremdung, einem gesteigerten Bewußtsein, das sich auf sich selbst richtet, und der wirkungslosen Wut, unterworfen, mißverstanden und schließlich vergessen zu werden.
Die beste Verschmelzung des metaphorischen und des wahren Untergrundmenschen gelingt Ralph ELLISON mit "Unsichtbar". Er kommt dem am nächsten, wie viele Tunnelbewohner ihre eigene Situation sehen - daß sie von einer Gesellschaft in den Untergrund gedrängt wurden, die sie als verloren, identitätslos ansieht. In ELLISONS Terminologie sind sie "unsichtbar".
ELLISONS Hauptfigur ist ein afroamerikanischer Mann, der erklärt, daß er in der rassistischen New-Yorker Gesellschaft der fünfziger Jahre unsichtbar ist, "weil man mich nicht sehen will". Er kämpft ums Überleben, wird jedoch am Ende von einer Bande in eine stillgelegte Kohlengrube unter den Straßen von Harlem getrieben. Weiße Männer decken den oberen Teil mit einem schweren Eisendeckel ab und setzen ihn so gefangen.
"Man hat das quälende Bedürfnis, sich von seiner Existenz in der wirklichen Welt zu überzeugen, sich zu vergewissern, daß man ein Teil allen Lärms und aller Qual ist, und dann schlägt man mit den Fäusten um sich, flucht und schwört sich, dafür zu sorgen, daß die andern einen erkennen. Aber leider hat das meist keinen Erfolg."
Er kehrt nach oben zurück, beschließt jedoch, daß er tatsächlich in ein "Loch" gehört, weil dies auf ehrlichere und korrektere Weise seine Unsichtbarkeit belegt. "Nachdem ich etwa zwanzig Jahre existiert hatte, wurde ich erst lebendig, als ich meine Unsichtbarkeit entdeckte", erklärt er. Unsichtbar und im Untergrund richtet er sich ein Zuhause ein, zapft Elektrizität ab und lebt. Von dort aus sucht er Vergeltung für die Kurzsichtigkeit der Gesellschaft. Er führt seinen eigenen, unabhängigen Kampf gegen die Gesellschaft und ihre Institutionen, nach seinen eigenen Bedingungen, wie zum Beispiel seinen Stromdiebstahl vom "Light & Power" -Konzern.
"Sie haben den Verdacht, daß Strom abgezogen wird, aber sie wissen nicht, wo. (...) Vor vielen Jahren kaufte ich wie jeder andere ihren Strom und zahlte ihre unverschämten Preise. Aber das tue ich heute nicht mehr. Das habe ich längst aufgegeben, wie ich auch meine Wohnung und meine alte Lebensweise aufgegeben habe, die auf der trügerischen Annahme beruhte, ich wäre, wie alle anderen Menschen, sichtbar. Nachdem ich jetzt weiß, daß ich unsichtbar bin, wohne ich umsonst in einem Haus, das aus schließlich an Weiße vermietet ist, in einem Teil des Kellergeschosses, das während des 19. Jahrhunderts zugebaut und vergessen wurde..."
Gibt er seine Verantwortung für die Menschheit auf?
"Verantwortungslosigkeit gehört zu meiner Unsichtbarkeit. Wie man sie auch betrachtet, sie ist Verneinung. Aber wem gegenüber sollte ich verantwortungsvoll sein, und weshalb sollte ich es sein, wenn kein Mensch mich sehen will? Man wird schon noch erfahren, wie sehr ich ohne Verantwortung bin. Verantwortung beruht auf Erkennen, und Erkennen ist eine Form der Zustimmung."
In einem Textabschnitt, in dem die Tunnel der heutigen Obdachlosen Widerhall finden, weil hier die Gründe dafür artikuliert werden, warum sie ihren Frieden im Untergrund suchen, besteht ELLISONS unsichtbarer Mann darauf, daß er weder aus Furcht noch aus Selbstmitleid unter die Erde gegangen sei.
"Ich habe ein Zuhause gefunden - oder eine Höhle in der Erde, wenn man wo will. Aber man hüte sich vor dem Schluß, mein Heim sei feucht und kalt wie ein Grab, weil ich es Höhle nenne. Meine Höhle ist warm. (...) Meine Höhle ist warm und voller Licht. Ja, voller Licht. Ich glaube nicht, daß es in ganz New York, den Broadway eingeschlossen, einen helleren Ort gibt. Das gilt auch für das Empire State Building in der Traum-Nacht eines Fotografen. Das ist bewußte Täuschung. Die zwei genannten Orte gehören zu den dunkelsten unserer gesamten Zivilisation."
ELLISON beendet sein Buch damit, daß sich der unsichtbare Mann entschließt, so lange im Untergrund zu bleiben, bis man ihn dort herausjagt. "Hier konnte ich wenigstens versuchen, die Dinge in allem Frieden, und wenn nicht in Frieden, so doch in Ruhe zu überdenken. Hier, unter der Erde, würde ich meinen Wohnsitz aufschlagen. Das Ende lag im Anfang."
Anmerkung
[1] Obwohl viele seiner Merkmale und Eigenschaften jahrhundertealt sind, ist ihre Synthese zu einem Untergrundmenschen eine moderne Entwicklung. Er ist im wesentlichen die Reaktion auf Kräfte des vergangenen Jahrhunderts. HEMINGWAYS Jake Barnes, KAFKAS Angestellte, HESSES Steppenwolf waren alle Untergrundmenschen ebenso wie SARTRES einsame Existentialisten, CAMUS' absurde Figuren, ELLISONS unsichtbarer Mann und KOESTLERS Rubaschow, betrogen vom kommunistischen Gott, den er sich selbst geschaffen hatte. Trotz der enormen Unterschiede zwischen den einzelnen Figuren sind ihnen allen deutlich Merkmale des Untergrundmenschen eigen.
aus: Toth, Jennifer: Tunnelmenschen. Das Leben unter New York City. Aus dem Amerikanischen von Sylvia Klötzer. Mit Fotos von Margaret Morton. Berlin: Chr. Links Verlag 1994, S. 180 - 190. (264 S., 8 Fotos, DM 48,--. ISBN 3-86153-079-1.)
H.P. Karr & Walter Wehner
Berbersommer
Zehn
nach zehn. Der Zeiger der Normaluhr springt einen Strich weiter. Zeit, sich im Kaufhaus zu waschen und zu kämmen. Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle fischt Kurt eine WAZ aus dem Papierkorb. Der Schwarze aus Ghana nickt ihm kurz zu und packt seine Gürtel und Ketten auf den Tapeziertisch. Hinten bei den Schließfächern sieht er Max unter seinen Zeitungen liegen. Er läßt ihn pennen, fährt die Rolltreppe runter, schlängelt sich zwischen den Frauen und Schulkindern zum Fahrstuhl neben dem Supermarkt durch. Bei Horten auf der Restauranttoilette gibt es warmes Wasser, Seife und Stoffhandtücher. "Guter Service." Kurt grinst und stellt seine Untertasse auf die Ablage am Waschbecken und das Schild mit der Aufschrift "Danke - die Klofrau".
Max liebt Männer mit Hut. "Ej, hasse mal ne Zichte für mich?"
"Wie bitte?"
"Ej, ne Zigarette, Mann. Ich hab seit zwei Tagen nix mehr zu rauchen gehabt."
"Ich weiß nicht..."
"Mann, du wirst doch wohl mal ne Zichte abgeben könn, oder watt?"
"Ja ... Natürlich ... hier."
"Ich nehm mal gleich noch eine, für nachher, okay?"
"Ich ... "
"Bisten tofften Kumpel, Mann. Haste Feuer?"
"Was?"
"Streichhölzer, Mann!"
"Ja ... hier ... nehmen Sie ... tut mir leid ... ich muß weiter ..."
Max steckt sich eine Zigarette an und verstaut die andere mit dem Streichholzbriefchen im Unterfutter der Jacke. Hinten an den Schließfächern kontrollieren die Bahnbullen seinen Schlafplatz. Max macht sich dünne. Ab durch die Bahnhofshalle, die Rolltreppe rauf zur Galerie. Er filzt die Papierkörbe und findet ein wunderschönes Ticket Köln-Essen, gerade erst abgefahren.
"Na, wer sagt's denn!"
Neun
Telefonzellen hat Kurt schon abkassiert auf seiner Runde. Er schiebt sich in den gelben Glaskasten hinterm Saalbau. Ein Drahthaken, ein paar Handgriffe, und die von ihm eingebaute Sperre in der Geldrückgabe läßt sich mühelos herausziehen. Markstücke und Groschen klingeln in die Schale. Kurt zählt glatte neun Mäuse; nicht schlecht für die Gegend. Er bringt die Klemmvorrichtung wieder am Apparat an, durchquert den Stadtgarten. Weiter unten an der Huyssenallee hat jemand seinen Trick durchschaut. "Nicht mal ein falscher Fuffziger, so ein Mist!" Kurt flucht, stemmt sich gegen den kalten Wind und hofft, daß sich keine Konkurrenz breitmacht: das hier ist sein Revier.
Auf dem Bahnsteig ist Großreinemachen. Doppelstreife. Max hockt in der Telefonzelle, seit einer halben Stunde schon. Fur die Jahreszeit ist es schon verdammt frisch.
"He, das ist kein Hotel hier!"
"Ich wart auf meinen Zuch! Wird man ja wohl noch dürfen."
Der Bahnbulle grinst. "Quatsch nich rum. Runter vom Bahnsteig."
"Ich hab ein Recht ..."
"Einen Scheiß haste. Ohne Fahrkarte."
"Klar hab ich ne Fahrkarte." Max wedelt mit dem Ticket.
"Erste Klasse? Für wie doof hältste uns eigentlich?" Der Bulle zerfetzt das Ticket. "So, und jetzt Abmarsch. Aufwärmen kannste dich unten im Tunnel bei der EVAG."
"Ich wollt mich ehrlich nur'n Moment ausruhen ..."
"Klar ... Raus da ..."
"Die Beine ... ich habet doch anne Beine. Alles offen von dem Ekzem ..."
"Los jetzt, dein Zug ist abgefahren."
Der Bulle paßt auf, bis Max vom Bahnsteig ist.
Acht
Straßenzüge weiter hat sich seine Laune wieder gehoben und die Manteltaschen sinken unter dem Gewicht der vielen Münzen bis fast an die Kniekehlen. Unter der Grugabrücke hat er zwei Heiermanner aus dem Schacht geprockelt und fast eine Handvoll Groschen. Die Schickimickis hier im Südviertel schwimmen eben nur so im Geld. Kurt sortiert seine Einnahmen; die Pennystucke und Peseten, mit denen manche die Post bescheißen, wandern in ein extra Portemonnaie. Er muß sie vorsichtig verteilen - an den alten Zigarettenautomaten aufder Rüttenscheider und den halbblinden Rentner in seiner Trinkhalle in Frohnhausen. An der Frittenbude genehmigt sich Kurt eine Frikadelle und eine Flasche Pils Dann verzieht er sich in die Tiefgarage vom Landgericht und hält auf dem Lüftungsgitter ein Nickerchen. Wenn einem das Gebläse so die warme Luft um die Nase fächelt und man die Augen schließt, kann man fast denken, daß man in der Toskana sei.
Unten im Tunnel ist alles voller Straßenbahner.
"He, du gehn weg!" Der Braunhäutige auf dem Bock der Reinigungsmaschine wedelt mit der Hand.
"Was willst du, du Kanacker?"
"Muß putzen. Du muß weg!"
"Ich hau dir gleich was vor die Mappe!"
Der Motor der Reinigungsmaschine heult auf und Max sieht zu, daß er Land gewinnt.
Sieben,
hat der Bulle gesagt, Sie müssen die Straßenbahn Nummer Hundertundsieben vom Rüttenscheider Stern nehmen, die geht bis Katernberg. Kein Freund und Helfer, denkt Kurt, aber auf eure Ortskenntnisse ist immer Verlaß. Was soll ich mir bei dem Umsatz die Füße breitlatschen? Die Elektrische schaukelt ihn zurück in die Innenstadt. Vor ihm hockt ein Negerpärchen. Wenn das nicht doppelt Glück bringt. Er wird das Ding also heute starten: das ist sein Tag.
"Ej, Junge, hasse mal Feuer?"
"Klaro, Mann!" Aus dem Zippo zuckt ein Ding wie beim Flammenwerfer und der lange Lederjackentyp wiehert los. Sein kleiner Kumpel kriegt ein böses Grinsen.
"Wohl wahnsinnig, watt?"
"Aber immer!" Der Lange pflückt Max den Stummel von den Lippen und zermatscht ihn unterm Stiefelabsatz. "Jetzt kannste ihn kauen."
"Meinen auch!" Der Kleine rülpst und Max kriegt die Spucke ins Gesicht.
Der Lange zippt das Zippo unter Max Kinn an. "Was meinste, wie lange der brennt?"
Er drängt Max bis ans Schaufenster vom Kaufhaus. Max rutscht mit dem Rücken an der Scheibe runter und spielt toter Mann.
Sechs
Richtige oder einmal den Jackpot knacken; Kurt glotzt auf die Schokoladenauslage vom Café Overbeck. Der Sarottimohr aus dem Schaufenster starrt zurück. Nur ein einziges Mal richtig absahnen und dann ab in die Toskana. Er rülpst dem Otto vom Lotto auf dem Plakat seine Meinung rüber und bezieht Posten vor dem Pornokino. Die reinste Goldader; fast jeder Typ, den er anschnorrt, rückt was raus. Sie drücken ihm die Silberlinge nur so in die Pfote, wenn er sie beim Rauskommen anquatscht und ziehen möglichst rasch Leine.
Penta
gramm der Triebe heißt der Streifen, den sich die Kerle rein ziehen. "He, du da!" - der Kartenverkäufer zwängt sich aus seinem Kabuff und kommt drohend auf ihn zu. Kurt verduftet um die Ecke, nur jetzt keine Scherereien mehr. Heute Abend, wenn sein Ding steigt, muß er topfit sein. Sein Magengeschwür meldet sich schmerzhaft und er nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann.
"Gib mal die Bombe ruber!"
Kurt gönnt sich einen langen Schluck aus der Zweiliterflasche. "Scheiß Kälte! Hier kannste nicht bleiben."
Sie sitzen unterm Denkmal am Burgplatz. Max behält den Eingang vom Münster im Auge.
"Haste was zum Pennen?"
"Weiß noch nicht. Hab noch was vor."
"Scheiße auch. Gib mal die Bombe."
Max setzt die Flasche an.
"He, datt is mein Stoff. Wohl verrückt geworden oder watt?"
"Das wird kalt heut nacht. Da braucht der Mensch was Warmes."
"Aber nicht auf meine Kosten."
Max schielt rüber zum Eingang vom Münster. Der Rotwein brennt ihm im Magen und macht ihn schwindelig.
"Italien", murmelt er. "Toscana! Da müßte man jetzt sein. Ganzen Tach in der Sonne liegen!"
"Da sachste watt!" Kurt macht die Augen zu. "Oben anner Volkshochschule gibt's ne Tiefgarage!" murmelt er. "Mußte halt mal sehen, wie du mit dem Hausmeister und seinem Köter zurechtkommst."
Max sagt nichts. Untem am Münster schließt ein Kaplan die Kapelle ab.
Kurt rappelt sich auf. "Also dann. Man sieht sich!"
Max krallt sich die Bombe und zieht sich den letzten halben Liter rein.
Wenn schon, denn schon!
Vier
Minuten: Kurt schafft die Strecke von der Spielhalle im Basement des Bahnhofs bis rauf auf den Bahnsteig im Spurt in genau vier Minuten. Er hat das x-mal geprobt. Die Rolltreppe ist nachts meist leer, und auf dem Bahnsteig ist dann auch niemand mehr. Der D-Zug auf Gleis vier geht um 22.34 Uhr ab: über Köln, Frankfurt, München, bis nach Rom.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Max riecht was Süßes. Wie Blumen.
"Geht es Ihnen nicht gut?"
Max fühlt eine Hand.
"Was ist denn mit Ihnen?"
Die Frau stippst ihn mit den Fingerspitzen an die Schulter, als hätte er etwas Ansteckendes. Max hängt in einem von den tiefen Ledersesseln im Foyer der Volkshochschule. Durch die deckenhohe Glasfassade gegenüber sieht er Schneeregen durch die Nacht treiben. So eine Scheiße aber auch.
"Ich hab Sie schon vor drei Stunden hier gesehn!" Das ist wieder die Frau. "Kann ich..."
Max rülpst.
"Hören Sie, wir schließen gleich. Sie können hier nicht..."
"Aber wo soll ich denn hin?" Max glotzt ins Neonlicht, bis ihm die Tränen kommen. Dann rappelt er sich hoch. "Nichts für ungut..." Seine Beine knicken weg.
Die Frau hat die Hände vor die Brust gepreßt. "Was haben Sie denn? Sind Sie krank?!"
"Krank? Ich bin kaputt, Frau ... Das ganze Bein ... war nur noch Matsche ... Betonplatte draufgefallen, auffem Bau ..."
"Mein Gott, wie schrecklich."
"Ich warn guter Maurer. Das müssen Sie mir glauben! Bloß mit dem Bein ... halbes Jahr Krankenhaus ... Job weg ... Wohnung gekündigt. Ich weiß nich wohin, Frau ..."
Aber..."
"Ich bin fertig. Fix und alle. Ich lieg auf der Straße. ..." Er will sich wieder hochrappeln. "Nichts für ungut, Frau ..."
Ehe er wieder zusammenklappt, hat die Frau ihn in den Stuhl zurückgedrückt. "Bleiben Sie mal sitzen. Ich telefonier mal eben. Sie wollen doch Hilfe, oder?"
"Mir hilft doch sowieso keiner ... Die wollen mich anstecken."
"Anstecken? "
"Die Glatzköppe im Bahnhof. Die wolln mich verbrennen..."
Drei
Groschen kann er noch riskieren. Kurt steckt sie in den Schlitz des Rotamint, hält beide Fäuste vor das Sichtfenster und wartet gespannt auf das elektronische Gedudel. Gewonnen: dreimal die Krone - es rattert, es klackert, es klappt wie am Schnürchen.
"Aber...", sagte die Frau ins Telefon und spielt nervös mit ihrem Kugelschreiber. Aus dem Hörer quakt eine Männerstimme. Die Frau sieht zu Max heruber. Der hockt zusammengesunken auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
"Aber", sagt die Frau wieder. "Der Mann ist..."
Max langt nach dem Kaffee, den sie ihm eingegossen hat und verschüttet die Hälfte, als er trinken will.
Die Frau legt den Hörer auf. "Das war die Krisenhilfe. Kein Bett frei."
Max sieht sie an.
"Die Notaufnahme im Klinikum ist nicht zuständig, die Caritas hat zu..."
"Ich kann nich mehr", jammert Max. "Ich geh zurück zum Bahnhof!"
Er rappelt sich hoch. "Ich schmeiß mich vorn Zuch. Ich mach Schluß."
Die Frau wird ganz blaß. "Das konnen Sie doch nicht machen..."
"Ist doch egal, oder?"
"Aber ..."
"Was hab ich denn noch? Ich bin total kaputt. Ich hab'n kaputtes Bein, meine Leber is fertig von der Sauferei, ich hab keine Wohnung, ich hab doch gar nichts mehr."
"Ich könnte es ja mal bei der Polizei probieren. Oder werden Sie ..."
"Ich bin'n ehrlicher Mensch."
"Schon gut, ich glaub ihnen ja!"
Zwei
Gäste noch in der Spielhalle; Kurt schielt nervös auf die Uhr: na endlich - jetzt nur die Ruhe behalten. Der Opa hinter der Kasse blickt in den Lauf von Kurts King-Kobra-Spielzeug-Colt und kann gar nicht schnell genug die Taler ruberschieben.
"Na, wo ist denn der Kandidat?"
Max hat schon seinen zerfledderten Personalausweis rausgezogen. Der große Bulle blättert ihn kurz durch. Sein Kollege drückt sich am Fenster rum. Draußen schneit es jetzt. Die Frau steht am Schreibtisch.
"Und du willst also die große Biege machen, eh?"
Max zieht die Nase hoch. "Ach Scheiße", sagt er.
Der Kleine beugt sich zu ihm runter. "Wieviel hast du denn drin?"
"Eine Flasche, zwei Flaschen ... weiß nich ... Ich schmeiß mich vorn Zuch. Auffem Bahnhof. Gleis zwei."
"Wohnung haste auch nicht, was?"
"Ich hab gar nix mehr."
Der Kleine guckt den Großen an. Der zuckt mit den Schultern.
"Okay", meint er dann. "Notaufnahme Klinikum, ja?"
"Die stecken ihn erstmal in die Geschlossene." Der Große grinst die Frau an. "Damit er sich nichts antun kann." Er schaut runter zu Max. "Und dann kommst du auf Entzug, mein Freund. Willst du das wirklich?"
Max nickt stumpfsinnig. "Ich geh freiwillig innen Entzuch. Ich will nix mehr mit den Sachen zu tun haben."
"Na dann. Abmarsch!"
Im Fahrstuhl nehmen sie ihn in die Mitte.
"Und nicht, daß du im Klinikum Blödsinn machst, klar?"
Max schüttelt den Kopf. "Ich sach doch, ich brauch'n Arzt. Ehrlich."
"Hast Glück, daß der Ewald heut seinen Moralischen hat!"
"Sonst war das höchste der Gefühle fur dich ne S-Bahn-Karte nach Mülheim gewesen."
"Oder ne kleine Spazierfahrt im Streifenwagen!"
Eins
weiß Kurt genau, als er durchs Basement zur Rolltreppe rast: Er hat die Kohlen in der Tasche und das ist die Chance seines Lebens, das ist die Freifahrt nach oben.
Der Arzt guckt Max an, als würde er ihn am liebsten erst desinfizieren, bevor er ihn anfaßt. Max hockt auf einem Stuhl vorm Schreibtisch und muß sagen, wer er ist und warum er sich umbringen will. Dann liegt er auf der Liege und der Arzt fingert an ihm rum. "Unter drei Monaten läuft hier nichts, das sag ich Ihnen am besten gleich."
"Mir is alles egal."
"Na, dann kommen Sie mal."
Max schnappt seine Klamotten und trottet hinter dem Arzt her.
"Erst Entgiftung, dann Therapie und dann sehn wir weiter!" Der Arzt macht eine Tür auf. "Ihr Zimmer!"
Max geht rein. Leer. Nur eine Matratze lehnt an der Wand. "Morgen früh um sieben ist Untersuchung!" sagt der Arzt.
Max sagt nichts.
"Um sieben hab ich gesagt!"
"Jawoll!"
Der Arzt macht die Tür hinter sich zu. Innen ist keine Klinke.
Max haut sich aufs Bett und starrt auf das kleine Fenster unter der Decke. Die Schneeflocken tanzen vor dem Nachthimmel. Das wird schweinekalt heute Nacht.
Max fischt die Zigarette und das Streichholzbriefchen mit der Reisebüroreklame aus dem Jackenfutter. Max raucht und denkt an den Kurt.
Er jedenfalls hat's erstmal geschafft. Drei Monate, hat der Arzt gesagt. Im Frühjahr, wenn er hier wieder rauskommt, geht's ab in die Toskana.
Kalter Wind weht über den Bahnsteig. Der Expreßgutfahrer ist blaß, als er auf Kurts verdrehten Körper starrt, dann fummelt er an seinem Sprechfunkgerät.
"Ja, genau in die Karre gelaufen...", stammelt der Fahrer. "Gleis vier... nein, ich hab ihn voll erwischt. Der ist platt, total auf
Null."
aus: H.P. Karr & Walter Wehner: Berbersommer. Kriminalgeschichten aus der Großstadt. Essen: A4 Verlag GmbH 1992, S. 27 - 37.
A4 Verlag GmbH, Rüttenscheider Str. 137, 45130 Essen
Michael Holzach
"Betteln ist schwerer als arbeiten"
Er nennt sich Gustav, ist "um die 45 rum" und "seit Dien Bien Phu auf der Rolle". In einem grau-schwarzen Mantel hockt er in brütender Hitze vor dem Franziskaner-Kloster in Paderborn, den linken Unterschenkel in einem Luftschacht versteckt, eine Zigarrenkiste mit ein paar Groschen vor sich. Er macht "Stichmaloche", er bettelt. Ab und zu wirft jemand Kleingeld in den Kasten. Meist sind es Gastarbeiter, denn "Deutsche geben nur zur Weihnachtszeit", sagt Gustav, der Penner.
Nach knapp drei Stunden hat er drei Mark achtzig für eine "Bombe" Rotwein zusammen. "Ich brauch das Zeug, damit ich schlafen kann ohne zu träumen", sagt er, "denn Träume sind furchtbar."
Der gebürtige Erzgebirgler ist in einem Waisenhaus in Zwickau groß geworden, nach dem Krieg wurde er "vom Russen ins Zinnbergwerk gesteckt". 1948 packte ihn die Abenteuerlust. Er ging in den Westen und meldete sich bei der Fremdenlegion. Die Stationen der folgenden Jahre lassen sich eintätowiert auf seinen Unterarmen nachlesen: "Algier, Saigon, Battambang, Hanoi, Dien Bien Phu." Mit einem Steckschuß im Oberschenkel kam Gustav 1955 "heim ins Reich" und "seitdem nicht mehr zur Ruhe".
Jedes Jahr zieht der kleine drahtige Mann sechs- bis achtmal kreuz und quer durch die Republik, zu Fuß, per Anhalter und gelegentlich mit dem Zug und einer "Bahnbenutzungsgenehmigung" des Sozialamtes, immer unterwegs von einem der 700 Übernachtungsheime und Herbergen ("Pennen") zur nächsten, immer auf der Suche "nach was Weichem unterm Arsch und was Warmem im Bauch".
Vierzehn Tage waren wir mit Männern wie Gustav "auf der Walze": Als Penner verkleidet, das Nötigste in ein paar Plastiktüten verstaut, zogen wir mit den Tippel- und Wermutbrüdern, den "Berbern", wie sie sich selber nennen, "Nichtseßhaften" also, über die Straßen.
Victor, die "Ratte", aus Köln treffen wir, als er mit einer alten Einkaufstasche um ein Uhr morgens Papierkörbe nach Lebensmitteln und Zigarettenkippen durchwühlt. Von den Abfällen der Kölner lebt Victor "seit ich das letzte Mal aus dem Knast bin", das ist, sagt er, nun schon vier Jahre lang. Damals mußte er wegen wiederholten Kaufhausdiebstahls und Körperverletzung ins Gefängnis.
Auf der Mülldeponie des Kaufhofs findet er eine Kiste angegorener Sahnejoghurts, und aus den Abfalleimern italienischer Restaurants klaubt er trockene Pizzaränder, die mit Wasser eingeweicht jenen Brei ergeben, der Victor bei Kräften hält.
Victor haust mit drei anderen Berbern in einer abbruchreifen Fabrik in der Nähe des Rheins. Wenn die Polizei von der "Platte", seinem Nachtquartier, Wind bekommt, zieht er um: in die nächste Ruine, in den nächsten Rohbau. Im Gegensatz zum Landstreicher Gustav, der ohne die Almosen der Nichtseßhaftenhilfe - in den Sozialämtern, Herbergen und Bahnhofsmissionen - nicht leben könnte, betont Victor seine scheinbare Unabhängigkeit: "Mir wird nix geschenkt. Betteln hab ich bis oben. Das hab ich mit meinen zwölf Geschwistern getan, um von der Mutter mehr Speck und vom Vater weniger Prügel zu kriegen. Gebettelt hab ich beim Chef, auf'm Bau, um nicht rauszufliegen, dann im Sozi (Sozialamt) wegen der paar Mark Unterstützung und schließlich beim Pfaffen um einen Teller Suppe. Es hat bei mir eine Weile gedauert, bis ich kapiert hab, daß wer unten ist, im Keller bleibt. Jetzt hab ich zwar nix Bares in der Kralle, aber ich bin selbständig. Und wer mir krumm kommt, der kriegt einen drauf!"
Nach vierzehn Tagen Walze verstehen wir Victor. In unseren schäbigen Klamotten werden wir auf der Straße mißtrauisch betrachtet. Als wir, unrasiert und demütig, nach dem Übernachtungsheim fragen, wettert ein älterer Mann in Celle mit erhobenem Regenschirm: "Euch sollte man in die Gaskammer stecken, statt auf Staatskosten zu verpflegen."
Von freier Kost und Logis ist in der Celler "Herberge zur Heimat" nicht die Rede: "Wenn ihr hier pennen wollt, dann will ich Bargeld sehen", sagt Herbergsvater und Diakon Herbert Außner, 63, gleich bei der Ankunft. "Die Übernachtung kostet 1,30, die Flasche Bier 1,10."
Da über die Hälfte der Nichtseßhaften Alkoholiker ist, gehört die "Penne" in Celle nach Auskunft der lokalen Schilling-Brauerei "zu unseren besten Kunden". Tag und Nacht läßt der Diakon das Bier von den vier Kalfaktoren im Drei-Schichten-Dienst unter die Leute bringen. Bis zu 1000 Kisten "Meister-Pils" werden hier nach den Angaben der Hausgehilfen im Monat umgesetzt. Gewinnspanne pro Kiste: 9,60 Mark. Die Folge: nächtliche Schlägereien, Schnapsleichen in den verdreckten Schlafräumen und Gestank. Damit die Kasse stimmt, vermittelt Herbergsvater Außner (Spitzname "Sklavenhändler") Gelegenheitsarbeiten an seine Gäste. "Knochenmaloche, für fünf oder sechs Mark die Stunde ohne Unfallschutz und Krankenversicherung". wie mein Bettnachbar Paulemann sagt. Wegen Paulemann kann ich in Celle kaum schlafen; er schreckt mehrmals in der Nacht auf und brüllt im Traum um Hilfe. Die anderen Berber behaupten, die zwei Jahre als Wachmann in Treblinka säßen ihm noch heute in den Gliedern.
Superintendent Karl Manzke, 46, Vorstandsmitglied des Vereins Herberge zur Heimat in Celle, verteidigt den Alkoholausschank an die Penner: "Die Leute werden doch derartig diskriminiert. daß keine andere Freizeitgestaltung möglich ist." Was die Berber nicht wissen: Sie trinken für eine gute Sache. denn "jeder Pfennig, der in der Herberge erwirtschaftet wird, wandert in die Finanzierung des neuen therapeutischen Heims".
Was in Celle erst für das Jahr 1977 geplant ist - eine therapeutische Herberge -, das soll es im "Perthes-Haus" in Hamm schon seit Jahren geben: ein Heim, in dem "in einer differenzierten arbeitstherapeutischen Wiedereingliederungswerkstatt echte Resozialisierung betrieben wird". Im Gegensatz zur Herberge in Celle, wo neben 50 Nichtseßhaften auch noch 50 Rentner unter einem Dach hausen, wird in Hamm streng getrennt: Auffangstation für Neuankömmlinge; Übergangsabteilung für diejenigen, die sich in arbeitstherapeutischer Behandlung befinden: Wohnheim für Männer mit fester Arbeit und Altenheim.
Und streng sind hier auch die Sitten: Nach der knappen und korrekten Aufnahme: "Dein Ausweis? Woher? Wohin?" (an das Geduztwerden haben wir uns schnell gewöhnt) führt uns der Kalfaktor in den Keller zum "Abbienen". Wir müssen uns bis auf die Hose ausziehen und die Innenflächen von Hemd und Unterhemd nach außen krempeln. Dann fährt der Hausgehilfe mit einer Lampe dicht über die neuralgischen Zonen: Achselbereich und Kragen. Doch es rührt sich nichts - wir haben noch immer keine Läuse. Anschließend geht es unter die Dusche. Unsere Zimmer liegen gleich neben dem Duschraum. Fließend Wasser auch hier: die Wände herunter. 16 Personen teilen sich hier drei kleine naßfeuchte Räume. Aber: Es gibt frisches Bettzeug.
Im Perthes-Haus wird Ordnung großgeschrieben: Bier, in Celle unser täglich Brot, ist "strengstens verboten". Ebenso "rauchen auf den Zimmern". Wer das Haus verlassen will, muß "Abgang" und "Rückkehr" beim Pförtner minutengenau zu Protokoll geben. Besuch - nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Leitung.
Es ist 18 Uhr. Ein Gong ertönt. "Essenfassen!" Im Speisesaal stehen etwa 70 Penner um die Tische herum. Auf das Kommando "setzen" fällt der Saal wie ein Mann auf die Stühle. Nach sieben Minuten ist die Graupensuppe verschlungen, sind die Margarinebrote hinuntergewürgt. Gebetet wird heute nicht.
Der Mann, der beim Essen den Takt angibt, ist Klaus Dieter Hartmann, zuständig für die Arbeitstherapie in den Werkstätten. Ich frage Hartmann, ob ich hier arbeiten könne, da ich genug hätte von der Tippelei. Die Zigarre zwischen den Zähnen, antwortet er mir: "Wenn du hier was tun willst, dann stecken wir dich erst mal sechs Wochen in die Klammern, damit wir wissen, was für ein Windei du bist."
Gert aus Dortmund, Mitte 30, schon seit sechs Monaten ohne Gelegenheitsarbeit und seit der Scheidung vor neun Jahren "auf der Flucht vor mir selber", schildert die Folgen, die das Zusammensetzen der Wäscheklammern, einer typischen Herbergsbeschäftigung, hat: "Nach drei Stunden bluten dir die Fingerspitzen, nach drei Wochen spürste nix mehr, dann ist dat Gefühl raus." Geklammert wird im Akkord, für 1000 Klammern gibt es eine Mark. Spitzenverdiener bringen es auf 2,60 Mark am Tag. "Wenne dat vier Wochen mitgemacht hast, dann weißte, warum ich froh bin, schon morgen wieder die verdammte Landstraße unter den Schuhsohlen zu spüren."
Am nächsten Morgen verlassen wir mit Gert die Herberge und trampen und tippeln ein paar Tage gemeinsam durch die "Pennerszene" Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens.
In der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf bei Bethel schlafen wir zu acht wie die Heringe in muffigen Duschkabinen, jeder den Kopf über einem Abflußloch.
Im städtischen Übernachtungsheim in der Dortmunder Steinstraße, einem ehemaligen Gefängnis aus der Nazizeit, hat jeder eine Zelle. "Einzelhaft kriegen sonst eigentlich nur Stammkunden", sagt Gert und wundert sich.
Und im Übernachtungsheim des DRK in Gütersloh scheucht uns Heimleiter Rudolf Krebs, 60, volltrunken aus den Betten und durchsucht das Gepäck von "euch versoffenen Arschlöchern" nach Alkoholika. Kein Berber muckt auf. "Der kann sich dat erlauben", sagt Gert, "der ist ein normaler Mensch."
Ähnliche Erfahrungen mit den "normalen Menschen" machen wir jeden Tag. In Paderborn sprechen wir beim Pfarrer der Markt-Kirche, Wilhelm Jürgens, vor, und Gert läßt seine Platte laufen: "Wir sind auf der Durchreise und bitten um eine kleine Unterstützung." Der Pfarrer antwortet durch den Türspalt: "Für mich seid ihr gottserbärmliche Schufte."
Gert erlebt solche Demütigungen häufig. Er sagt, daß "betteln schwerer ist als arbeiten, besonders heute, wo durch die Krise die Konkurrenz immer stärker wird, alle sparen müssen und die Jugend nach vorn drängt". Gert muß sich daher nach neuen Geldquellen umsehen. Er fährt zum Beispiel alle zwei Monate nach Köln, wo selbst Personen ohne festen Wohnsitz Blut spenden dürfen. Jeden Mittwoch ist hier "Berbertag". Bis zu 300 Tippelbrüder stehen dann morgens um 6 Uhr vor der "Abteilung für Transfusionswesen" Schlange, um für "400 Kubik Berberblut 40 Deutsche" zu kassieren. Dr. Doris Schulten, Ärztin der Klinik: "Wir sind auf die Nichtseßhaften angewiesen."
Gert hat sein Überleben auf der Straße organisiert. Weil man in den meisten Heimen nur noch alle sechs bis zwölf Monate übernachten darf - es sei denn, man arbeitet für ein bis zwei Mark pro Tag -, trägt er in sein Notizbuch genau ein, wann er wo war und wann er wiederkommen kann: "Dienstag: Koblenz, Mittwoch: Bonn, Donnerstag: Düsseldorf." Gert nennt das "Sozialtourismus".
Mit dem Märchen vom Romantiker der Landstraße, der frei und sorglos unter der schattigen Birke liegt, die Feldblume zwischen den Lippen, hat sein Leben nichts zu tun. "Solche Typen sind die ganz große Ausnahme. Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen, weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber auch Einzelgänger, die keinem trauen."
Über die Ursachen dieser Flucht tappt Gert ebenso im dunkeln wie die zuständigen Wissenschaftler. Selbst in der Randgruppenforschung wurden die Penner bisher benachteiligt. In den Ausbildungslehrplänen der Sozialarbeiter rangiert die "Nichtseßhaftenhilfe" meist ganz unten. Trinkerheilanstalten und psychiatrische Heilstätten können den Tippelbrüdern nicht helfen, weil es keine angemessenen Therapien gibt. Erst in jüngster Zeit bemühen sich verschiedene Forschungsgruppen, Versäumtes nachzuholen. Die Bundeszentrale für Nichtseßhaftenhilfe in Bethel betreibt mit Bundesmitteln ein Forschungsprogramm, um der Genese des Problems auf die Spur zu kommen.
Da überregionale Daten bisher fehlten, wurden zunächst in einer bundesweiten Erkundungsstudie 520 Nichtseßhafte in eigener Sache befragt. Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit der Befragten (83,9 Prozent) gehört der Unterschicht an, ist ledig (57,9 Prozent) oder geschieden (32,6 Prozent) und war nach eigener Aussage mindestens schon einmal straffällig geworden (70,5 Prozent). Fast jeder dritte (32,5 Prozent) ist in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geboren (Bundesdurchschnitt 1970 16,5 Prozent). In Nervenkliniken waren 15 Prozent.
Da ein weit größerer Anteil der Bevölkerung ähnliche sozialökonomische Bedingungen wie Scheidung, Flucht oder Vorstrafen kennt, ohne nichtseßhaft zu werden, ist ein kausales Verhältnis zwischen den biographischen Daten als Ursache und der Lebensform als Wirkung kaum zu vertreten. Dr. Johannes Wickert, 31, Projektleiter der Nichtseßhaftenforschung am Psychologischen Institut der Tübinger Uni, glaubt zu den Umwelteinflüssen bestimmte psychische Konstitutionen kommen, die einander wechselseitig bedingen". Psychologische Untersuchungen mit den Nichtseßhaften haben ergeben, daß Situationen, die einen gewissen Grad von Verbindlichkeit bekommen, von den Berbern als unerträglich empfunden werden. "Zwar wird die Bindung an oder jemanden oft von dieser Personengruppe als wichtigstes Ziel genannt", so Wickert, "doch wenn das Gewünschte konkret wird, scheint es Anlaß zur Angst und Flucht zu sein."
Zu dem auffälligsten statistischen Merkmal der Tippelbrüder gehört, daß sie keine "Schwestern" haben. Nur drei bis fünf Prozent aller Nichtseßhaften sind Frauen. Geraten Frauen in jene Situationen, welche die Männer auf die Landstraße treiben, landen sie oft auf dem Strich. Deshalb leben auch die wenigen weiblichen Nichtseßhaften meist in den Städten.
In Düsseldorf, wo bei der Polizei 4000 Stadtstreicher registriert sind, treffen wir Marie - klein, krummbuckling, mit struppigem Haar und fettbeschlagener Brille. Sie ist 53, sieht aus wie 75 und sitzt seit drei Wochen auf einer Bank am Schwanenmarkt, einem Park vor dem Landtagsgebäude. Nachts zieht sie den Mantel über den Kopf, tagsüber trinkt sie. Aufstehen kann sie nicht mehr. Ein Dutzend Berber versorgt Marie mit dem Nötigsten: "Komm, Oma, kipp dir noch einen!"
Die interne Fürsorge klappt, bis der Kreislauf der Frau zusammenbricht. Das dauert mal drei, mal sechs Wochen. An diesem Abend ist es soweit. Marie fällt vornüber und starrt regungslos in die Bäume. Wir alarmieren das Rote Kreuz. Dr. Winfried Dreßler, Stationsarzt im Theresienhospital, zuckt bei ihrer Ankunft mit den Achseln. "Die Frau ist bei uns schon Stammkunde, und dabei ist sie hier völlig fehl am Platz. Sie müßte in ein Pflegeheim." Doch dort gibt es endlose Wartelisten.
Auch das Sozialamt, nach Paragraph 17 BSHG (Bundessozialhilfegesetz) verpflichtet, Marie eine Bleibe "auf Dauer" zu verschaffen, ist ratlos. "Solche Fälle haben wir hier zu Hunderten", sagt Sozialarbeiter Achim Ziesel, 40, "das Problem stinkt zum Himmel, und keiner tut etwas."
Aktiv werden nur die Düsseldorfer Stadtverordneten. "Law and Order" heißt hier die Devise, nachdem der Bundestag den Landstreicherparagraphen 316 StGB gestrichen hat. Ähnlich wie ihre Kollegen in Köln oder Stuttgart überlegen sie, wie die Clochards per Polizeiverordnung aus der Stadt zu vertreiben seien.
Wenn sich Marie nach ein paar Tagen im Theresienhospital einigermaßen erholt hat, dann läßt man sie wieder laufen. Bis zum Schwanenmarkt schaffen es ihre schwachen Beine gewöhnlich, und nach etwa vier Wochen geht dann alles wieder von vorne los.
Holzach, Michael: "Betteln ist schwerer als arbeiten" - In: 'Zeit'-Magazin, Nr. 36/ 29. August 1975; wieder veröffentlicht in:
Holzach, Michael: Zeitberichte. Mit Fotos von Timm Rautert. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1989, S. 40 - 46.