Barbara Tietze
Industriekultur am Wendepunkt
Eine kulturtheoretische Bemerkung, die auch eine arbeitswissenschaftliche Relevanz hat
1. Moderne Lebensformen : seßhaft oder nomadisch?
2. Industriekultur und Nomadismus
3. Ästhetik und Arbeitsformen: Nomadische und nicht-nomadische Textilien
1. Moderne Lebensformen: seßhaft oder nomadisch?
Nomadic Furniture hießen zwei Broschüren, die zu Anfang der 70er Jahre erschienen (Hrsg: Victor Hennesey und Paul Papaneck 1973/74) und ein Arsenal von einfachsten, im Transport raumsparenden Möbeln vorstellten. Dabei dachten die Verfasser an ihre akademischen Freunde, von denen das amerikanische Universitätssystem erhebliche Wanderungen abverlangt. Sie dachten jedoch auch an die ganz gewöhnliche amerikanische Familie, die damals im Schnitt alle 1,5 Jahre umzog. "We all live in a world of 1 Year leases, 3 month fashion and jobs, that may mean relocation every few months.... And yet we try to live with order and beauty of our own making, but without giving up flexibility." (Hennessey und Papanek 1974, S. 3). Das "Nomadische" an diesen Möbeln waren simple klapp-, falt-, aufblasbare und zu bündelnde Konstruktionen.
Diese Bücher lösten bei Designern in aller Welt einen Boom an Projekten aus, die sich mit dem Existenzminimum und nomadischen Ausrüstungen befaßten, eine Begeisterung für Klapp- und Pappmöbel, für Rucksäcke, faltbare Marktstände, Campingausrüstungen, Wohnwagen und andere nomadische Objekte. Mit beweglichen Objekten, 50 dachte man, wird auch der Mensch beweglich.
Die Befreiung des Menschen von alten Bindungen, seine geistige und seine physische Mobilität, die Bewegung und ihre Geschwindigkeit sind seit dem späten 18. Jahrhundert das Thema kultureller Visionen. Am konkretesten wurden diese Utopien von den Entwicklungen der modernen Industriegesellschaft verfolgt. Von Technik und Planung im großen Maßstab erhoffte man sich Freistellung von alten Bindungen, moralische und physische Bewegung, kurz Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Komfort.
Die Sehnsucht nach Mobilität jedoch war der Traum einer extrem seßhaften Gesellschaft. Wirtschaft und Technik entwickelten sich nicht utopiegemäß sondern an der Realität orientiert und damit standortgebunden. Die Fabrik, das Wohnhaus und der persönliche Besitz blieben immobil und schufen Sachzwänge, die den Menschen veranlaßten zu bleiben.
Mit der Moderne und ihrer enthusiastischen Hoffnung auf die immer beweglichere Zukunft, auf Geschwindigkeit und Beschleunigung als kulturtragende Prinzipien schaffen sich die Sehnsüchte der seßhaften Gesellschaft nach nomadisierenden Lebensformen ein Ventil. Es entstand eine Diskrepanz zwischen Kultur und Technik, die besonders eindrücklich von den spätmodernen Architekturvisionen der 60er und 70er Jahre unseres Jahrhunderts beschworen wurde.
Es überboten sich die Architekten mit immer kühneren Utopien für den total ortsungebundenen Menschen. Die Konzepte hießen "Plug in - clip on city" (Peter Cook und Yona Friedman) und meinten modulare städtische Strukturen aus Kapseln oder Containern, die man beliebig an stationäre Versorgungsstrukturen an- und abstöpseln konnte. Die neuen Wohnhüllen hießen "Bubble-Dome" und "Un-house" (Reyner Banham und Francois Dellegret: 1965) oder Suitaloon (Michael Webb: 1968). Aufblasbare Hüllen sollten dem Menschen zugleich zweite und dritte Haut sein. Sie alle arbeiteten an der Vision einer gigantischen Kunstwelt unter Einsatz minimaler und ortsungebundener Materialien.
Die zeitgeschichtliche Skepsis galt nicht der Technik als solcher sondern einer Technik, die anders als die modernen Versprechungen, Seßhaftigkeit aufzwingt. Die Industrie und den technischen Fortschritts wollte man für die neue Mobilität erschließen. Am bildhaftesten wird das bei Ron Herrons "Walking Cities". Das sind gigantische Wohnmaschinen, Städte, die durch die Wüste wandern und in ihrer "technischen Vollkommenheit... wie hilflose Relikte einer vom technischen Fortschrittsoptimismus geprägten Epoche" wirken. Mit einer gewissen Melancholie symbolisieren sie die Endstation des technisch Machbaren und eben diese "Ambivalenz" macht "die bis heute wirksame fast allegorische Aussagekraft" solcher Projekte aus. (Hans Peter Schwarz 1986 S. 316)
Der geistige Vater dieser spätmodernen Kultur aus Protest und Optimismus war Buckminster Fuller, selbst ein Arbeitsnomade, der von Vortrag zu Vortrag reiste. Fuller arbeitete sehr früh an dieser Problemkombination von einerseits gigantischen Überdachungen und andererseits nomadischen Häusern. Seine Visionen wollten beide Probleme in einem Zug lösen. Sein Utopia war zugleich eine künstliche Welt und eine Welt der Selbsthilfe und Eigeninitiative. Sein Dogma hieß Freiheit durch überlegene Anwendung technischer Errungenschaften. Seine Ideen trafen das Lebensgefühl einer Generation, die sich von den Bindungen an die moderne Wohlstandsgesellschaft frei machen wollten und sich als Partisanen eines alternativen, lastenfreien Lebensgefühls verstanden. Seine besten Kunden freilich waren die amerikanischen Militärs.
Nachdrücklich wirkten sich diese spätmodernen Ideen auch auf die Arbeitswelten in Industrie und Verwaltung aus. Der vollklimatisierte und künstlich ausgeleuchtete Arbeitsplatz und der Großraum mit flexibler Ausstattung sind eine praktische Umsetzung dieser optimistischen Visionen. Aus der "Plug-in-clip-on" Stadt wird ein Thema der Haustechnik. Nicht Raumwelten wandern sondern lediglich Waschbecken, Menschen, Computer und Bürostühle. Die Spätmoderne geht in der Industriekultur auf und wird zum ästhetischen Sinnbild extrem seßhafter Kulturen.
Auch die Postmoderne setzt dieser Entwicklung keine tragfähig alternative Vision entgegen. Im Gegenteil verschaffen solche Bewegungen wie der "neue Regionalismus" dem auf die solide Dauer und das Bleiben ausgerichteten System auch noch ein konsonantes Gesicht. Zu Recht hat man das Gefühl, daß sich die alten Sachzwänge im Gewand postmoderner Architektur mit einer lediglich neuen Fassade präsentieren. Die mangelnde zukunftsweisende Substanz dieser kulturellen Standpunkte machte viele Architekten unglücklich und führte zum nostalgischen Revival moderner Formenwelten.
Auch wenn die moderne Industriegesellschaft primär eine Kultur der Seßhaftigkeit ist, erlaubt sie dennoch einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen ein nomadisierendes Verhalten. Seit jeher gibt es bei uns Berufe, die man als Nomadenarbeit bezeichnen muß, die aus dem Wechsel von Arbeitsplatz und Arbeitsaufgabe ihre und die Vertreter - um nur einige solcher unseßhaften Arbeitsformen zu benennen. Diesen Arbeitsnomaden gemein ist, daß die Familie in der Regel an einem festen Standort zurückbleibt. Binnenschiffer und Schausteller sind Nomaden, die oft mit der Familie reisen .
Ein Arbeitsnomade ist auch der erfolgreiche Manager. Kein amerikanischer Top-Manager würde sich mehr am Schreibtisch sitzend fotografieren lassen. Man sitzt allenfalls auf der Tischkante oder der Fensterbank, man befindet sich im Fahrstuhl oder auf der Treppe, besser im Auto telefonierend. Im Zweifelsfall ist man tatsächlich unterwegs. Die Arbeitsmittel hat man immer dabei. Der Büronomade arbeitet im Hotel, in der Lounge des Flughafens oder in irgend einem anderen Winkel. Gelegentlich zieht er sich mitsamt seiner Arbeit an einen einsamen Ort zurück. Das kann er machen, denn durch die Telekommunikation hat er die volle Kontrolle über das Geschäft.
Die moderne Bürotechnik ermöglicht nomadische Arbeitsformen ohne daß die Organisation leidet. Telefax, Labtop, Funktelefon machen es weitgehend überflüssig, die Verwaltungsarbeit an einen Ort zu zwingen. Es ist nicht mehr nötig, die künstlichen Bürowelten mit ihren unsinnigen Klimatisierungs- und Ausleuchtungskonzepten zu ertragen. Das Großraumbüro mit seiner gesundheitsschädlichen Ökologie ist für mehr und mehr Büroarbeiter kein Thema mehr. Man packt sein Bündel und verläßt diesen Ort der Leiden und des uneffektiven Arbeitens.
Neue Techniken machen es möglich wirtschaftlich auch in kleinen Serien zu produzieren. Ein Großteil der Arbeit, mit der man den Absatz vor- und nachbereitet, ist nicht mehr an den Ort der Fabrik gezwungen, ist nicht einmal effizient, wenn sie dort gemacht wird. Die Zusammenarbeit überwindet dank der modernen Telekommunikation auch die Distanz zwischen Mensch und Maschine und es entstehen neue Lebensformen, bei denen sich Arbeiten und Wohnen anders durchdringen als das in der alten Industriegesellschaft der Fall war. Es kann dezentralisiert werden und das ist die Voraussetzung für nomadische Lebensformen im großen Maßstab.
Die nomadische Überlebensphilosophie ist ein Gegenmodell zu den Werten der modernen Industriegesellschaft. Für das seßhafte System jedoch charakteristisch ist die Ausgrenzung der nomadischen Lebensformen als abweichend von dem "Normalen". Für nicht-seßhafte Lebensformen haben wir - wie uns die verschiedensten Lexika bestätigen - neben dem Begriff "Nomade" die unglaublichsten Begriffsdifferenzierungen. (Vagabunden, Fahrendes Volk, Reisende, Zigeuner, Landfahrer, Translokation etc.) Der Begriff "Seßhaftigkeit" ist in den gleichen Lexika nicht einmal vorgesehen.
Ursprünglich waren die "nicht-seßhaften" Lebensformen an die Art der Tierhaltung gebunden. Die Viehzüchter begleiteten das Vieh in ihrem Besitz mitsamt ihren Familien und ihrem Hausrat auf seiner Wanderung und entwickelten die entsprechenden ökonomischen und sozialen Lebensformen. Über diese Symbiose zwischen Mensch, Tier und Landschaft hinausgehend kennt die Zoologie zahlreiche Tiere, die biologisch mit einem arteigenen und lebenserhaltenden Bewegungstrieb ausgerüstet sind. Es gibt zahlreiche Arten, deren Lebensform die nahezu permanente Gruppenwanderung ist.
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Ortswechsel, der Kreuzzüge, der Kriege und Völkerwanderungen. Alle diese Bewegungen haben biologisch und kulturell positive Auswirkungen gehabt. Auch in den Einzelbiographien beteiligter Menschen haben diese extrem unsteten Lebensformen trotz grausamster Ereignisse einen erstaunlich hohen und positiven Stellenwert. Die verzweifelten Sehnsüchte der seßhaften Menschen nach Ortswechsel haben vielleicht auch eine biologische Verhaltenswurzel. Das Nomadenleben - zumindest der Wechsel zwischen Seßhaftigkeit und Ortsveränderung - ist möglicherweise artgerecht. Die Menschheitsgeschichte ist auch ein Thema der Paläontologie.
Insofern ist es vielleicht kein Paradox sondern die innere Logik der historischen Entwicklung, daß die moderne Industriegesellschaft selbst die verschiedensten Formen des Nomadismus hervorbringt. Der "Urlaubsnomade" demonstriert die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des gelegentlichen Ortswechsels und die negativen Erscheinungen des organisierten Nomadentums. Produziert doch diese Art des massenhaften und zeitlich koordinierten Völkerwanderung neue steinerne Wohnsilos an Ferienorten und den Verkehrsstau und damit wieder Merkmale einer Bewegungslosigkeit, mit der Seßhaftigkeit erzwungen wird. Dennoch ist diese ethnologisch sicherlich absonderliche Fehlentwicklung kollektiven Verhaltens auch eine Demonstration. Das Wandern hat einen triebhaften und insofern vielleicht auch biologischen Hintergrund.
Auch die Wirtschaftsstruktur der entwickelten Industriegesellschaft verursacht ihre eigenen Abarten nomadischer Lebensformen. Die Arbeitsvermittlung verlangt von ihrer Klientel zunehmend eine Bereitschaft zur Mobilität, die man nur als "Arbeitsnomadismus" bezeichnen kann. Steigende Mieten und der Mangel an preiswerten Wohnmöglichkeiten verursachen weitere Formen des wirtschaftlich bedingten Nomadismus. Eine zwar mechanisierte nichts desto trotz aber auch etwas nomadische Problemlösung ist das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeit. Der "Beiwohner", die Existenzform des von Bekannten zu Bekannten ziehenden Schlafgastes, ist eine zahlenmäßig zunehmende Erscheinung insbesondere in den Großstädten. Der Beiwohner ist die Vorform des Obdachlosen, der auch "City-Nomade" genannt wird.
Statistisch gravierender sind die weltweiten Völkerwanderungen, die durch Kriege, politische und wirtschaftliche Gründe insbesondere in der Dritten Welt verursacht werden. Diese Krisen hängen auch mit der systembedingten Asymmetrie des Weltwirtschaftwachstums zusammen. Hinzu kommt ein mehr und mehr durch ökologische Belastungen verursachter Nomadismus. Die anhaltenden deutschen Abwanderungen von Ost- nach West z.B. werden u.a. durch eine ausweglos erscheinende Umweltverschmutzung veranlaßt.
Unfälle in Atomkraftwerken wie Tschernobyl oder auch die klimabedingte Anhebung des Meeresspiegels machen eine großmaßstäbliche und dauerhafte Evakuierung von Millionen von Menschen unvermeidlich. Die zwangsweise Aufgabe des festen Wohnsitzes macht ein nomadisches Leben unvermeidlich. Der aufgezwungene zumindest vorübergehende Nomadismus ist die konsequente und unvermeidliche Endlösung des Wirtschaftskonzeptes vom grenzenlosen Wachstum.
Die Arbeits- und Lebensformen, über deren Humanisierung wir in den letzten zwei Jahrzehnten diskutierten, verfolgten hingegen andere Ziele. Die Arbeit in Industrie und Verwaltung war ebenso wie ihre "humanisierten" Varianten der modernen Industriegesellschaft verpflichtet, einer Gesellschaft also, die auf Seßhaftigkeit, Ordnung und Dauerhaftigkeit abzielt. Die Entwicklung der modernen Technik war geleitet von der Vision großmaßstäblicher Problemlösungen und dem Glauben an die Planbarkeit des sozialen Fortschritts. Auch die strategischen Korrekturen wurden im großen Maßstab geplant. Arbeitsschutz und -hygiene wollte man über Normung durchsetzen, über Richtlinien und sog. "gesicherte" Erkenntnisse zu Mensch und Arbeit.
Mit der modernen Planung allerdings ist es so ähnlich wie mit der modernen Hochleistungsmedizin. Die Summe der durch Behandlung verursachten Erkrankungen steht in einer gefährlichen Relation zu den unzweifelhaften Behandlungserfolgen. Auch Planung ist gelegentlich toxisch und es ist keineswegs immer so, daß ein Mehr an Planung auch zu einem reibungsloseren Funktionieren geschweige denn einem Mehr an Lebensqualität führen muß. Das ist ein Thema für Verkehrs- und Stadtplanung (Vgl. Cullen, 1990), für den Sozialen Wohnungsbau (Vgl. Blomeyer und Tietze, 1985) und die Entwicklungspolitik (Vgl. Erler, 1987; Pater und Striepke 1986).
Die Opposition gegen die moderne Industriekultur und die kulturellen Pfeiler ihrer Entwicklung wird zunehmend größer. (vgl. auch Blomeyer und Tietze, 1980) Für die zwangsläufigen Konflikte zwischen den Experten und den von ihren Planungen Betroffenen ist die Ergonomie mit ihren sogenannten "gesicherten Erkenntnissen zur Gestaltung der Arbeitswelt" ein besonders drastisches Beispiel.
2. Industriekultur und Nomadismus
Tatsächlich integrieren alle Gesellschaften sowohl nomadische als auch seßhafte Lebensentwürfe. Überlebenswichtig für den Nomaden ist die Oase, der Handel mit den Seßhaften und auch eine gewisse Lebensplanung und Vorratswirtschaft. Überlebensnotwendig für die Seßhaften sind nomadische Träger des Verkehrs und ein gewisses, nicht zu geringes Ausmaß an organisatorischer und örtlicher Flexibilität. Auch in ästhetischer Hinsicht lassen sich an vielen Objekten - egal ob aus eher seßhaften oder eher nomadischen Kulturkreisen stammend - sowohl nomadische als auch seßhafte Werte erkennen. Die Überlebenschancen einer Kultur steigen mit der Integration der polaren Gegensätze.
Auch wenn die historische Entwicklung widersprüchlich ist und sicherlich nichu¦Ñ�OÄé2 in zwei Standpunkte aufl&oumCÄ Éü�ü�\@»³ @ŽÞ» ”Ð íлÍê 08">&�0> >�>& >@��>& >!"!�8" � ¿& " >!"!�8"!> 2 >>" >"�&8� >O"8��ƒÌ¹ÕŹ¼ê5Õ€îÅÕ‹Šïâï½ÅîÅ1ïâñnsform an, die dauerhaft ist und planbar. Man will sich von den Schwankungen der Jahreszeiten, von den Eigengesetzlichkeiten der Außenwelt und von den Unbillen der Natur unabhängig machen. Die moderne Zivilisation macht sich diesen Anspruch zu eigen. Auch die Unordnung durch die variable Natur des Menschen gilt es zu überwinden. Wo es nicht anders geht, ersetzt man den Menschen durch Maschine oder Automat und die Natur durch künstliche Welten, die diese Art der Kontrolle und der Kontinuität ermöglichen. Wohnung, Schule, Fabrik, Krankenhaus und Verwaltung: alle diese Lebensfunktionen haben in dieser Gesellschaft ihre festen Programme und Standorte, auch das Kapital, das sich in der Bank befindet.
Die Bindung des Städters hängt u.a. damit zusammen, daß er durch seinen Besitz, seine physischen und organisatorischen Lebensgrundlagen gebunden ist und er sie schützen muß. Der Schutz wird an schwerfällige und unbewegliche Institutionen delegiert. Solche Institutionen sind Wissenschaft und Forschung, das Militär und die Polizei.
Nomaden hingegen leben in mobilen Behausungen. (Zum Nomadismus im Unterschied zur Lebensform der Seßhaftigkeit vgl. Hemhold 1990) Nicht nur durch das Haus, auch durch die Art ihres Wohnens und Arbeitens unterscheiden sie sich von den Seßhaften. Vor allem aber haben Nomaden eine andere Beziehung zum Besitz. Ihr Haus und ihre Arbeitsmittel müssen beweglich sein. Der nomadische Besitz muß auf- und abbaubar sein, transportabel und dabei extrem raumsparend. Der feste Besitz wird weitestgehend reduziert. Man lebt mit den überlebensnotwendigen Dingen und definiert das sogenannte "Existenzminimum" anders als die Seßhaften. Das nomadische Kapital, der eigentliche "Besitz" ist beweglich und immer dabei: die Herde, das Zigeunerauto, der Schmuck der Frauen, die handwerkliche und künstlerische Qualifikation.
Das gesellschaftliche Wissen wird von der seßhaften Gesellschaft in Buchform gespeichert. Die Bücher haben einen festen Standort in Form der Bibliothek. Träger des nomadischen Wissens sind die Menschen, die Familie und der Clan. Das nomadische Wissen ist oft geheimer Art. Es wird von Mund zu Mund und Generation zu Generation weitergegeben. Das nomadische Wissen ist ein Erfahrungswissen um die Überlebenstechniken in Natur und Gesellschaft. Eine nomadische Heilkunst, die in dieser Form eines Geheimwissens beispielsweise die jüngere chinesische Gesellschaft überlebte, ist das Qui Gong: eine Technik der medizinischen Selbsthilfe, die mit Atemtechniken und Autosuggestion selbst beim Gehen und Autofahren praktiziert werden kann.
Der Nomade schützt sich, indem er sich auf seine Erfahrung und seine instinktive Phantasie verläßt und den Gefahren ausweicht. Von Vater und Mutter lernt der Nomade seine Instinkte zu entwickeln, sich einfühlend und ganzheitlich gegen eine oft feindliche Umwelt durchzusetzen. Das erfordert eine intensive und vertrauensvolle Familienstruktur.
Seine Beweglichkeit erlaubt dem Nomaden ein Höchstmaß an Freiheit. Er kann auf die Jahreszeiten reagieren, auf das Klima, auf die Gegebenheiten der Landschaft. Dem politischen und sozialen Verdruß entzieht er sich durch Wegzug. Das nomadische Ausweichen ist aber auch so etwas wie ein permanenter Aufstand. Den seßhaften Nachbarn macht das wütend und neidisch. Die Beziehung zwischen den Seßhaften und den Nomaden ist das gegenseitige Mißtrauen, zumindest die Konkurrenz. Die Seßhaften sehen sich als höhere Stufe in der Evolutionsgeschichte. Nomaden werden als asozial, primitiv und entwicklungsbedürftig abqualifiziert. (Vgl. dazu die Geschichte der Zigeuner und Landfahrer in Vossen 1983)
Die Angst der Seßhaften gilt den Völkern, die eine verbrannte Erde hinter sich lassen. Immer noch fürchten die Seßhaften, daß die Nomaden lediglich abgrasen und mitnehmen. Nomaden und Seßhafte, das sind auch die Nachfahren von Kain, dem Ackerbauern und Abel, dem Schafhirten. Der Nomade demonstriert, daß die Sachzwänge der Seßhaftigkeit auch eine ganz individuelle Entscheidung widerspiegeln. Der Nomade beweist den zurückbleibenden Seßhaften, daß die Schmerzen des Bleibens kein Naturschicksal sind, daß die Sehnsucht nach Planung und formaler Kontinuität ihren psychologischen Preis hat. Dafür wünschen die Seßhaften den Nomaden den Tod.
Und darum schaffen die Seßhaften Barrieren zwischen sich und den Nomaden. Die Nomaden werden aus ihrer Gesellschaft ausgegrenzt und ausgeschlossen. Ihnen werden Ein- und selbst noch Durchreise verboten. Allenfalls ist ihr Ort ein Lager, das sie - zumindest vorübergehend - zu besonders fremdbestimmten seßhaften Lebensform zwingt.
Für das seßhafte System gefährlicher noch als die Begegnung mit den Nomaden ist die nomadische Sehnsucht der eigenen seßhaften Bevölkerung. Symbol für die explosive Konfrontation zwischen nomadischer Freiheit und seßhafter Zivilisation ist die Mauer. Die chinesische Mauer grenzte die nomadisierenden mongolischen Stämme aus dem Reich der Seßhaften aus. Mit Berliner Mauer und eisernem Vorhang wollte ein extrem seßhaftes System die politisch bedingte Abwanderung, die auch eine Abart des Nomadismus ist, unterbinden.
Die moderne Industriegesellschaft produzierte ein Übermaß an seßhaften Lebensentwürfen. Wenn sich das nomadische Prinzip nicht nur in Form von Krisen durchsetzen soll, ist es an der Zeit die eigenen Werte zu überprüfen und vorbeugend neue Formen der Integration beider "Formpole" zu entwickeln. Die verschiedenen Kulturmuster, um die es hier geht werden deutlich, wenn man seßhafte und nomadische Kulturtechniken einander gegenüberstellt. Das soll im Folgenden am Beispiel des Wohnens und der Produktion textiler Materialien geschehen.
Die traditionelle nomadische Wohnform ist das Zelt. "Eine textile Membran stiftet einen Innenraum". (Hemhold a.a.O.) Das Zelt bietet Schutz vor Blick und Wetter. Es hat in der Regel keine Fenster, denn die im Zelt lebenden Menschen leben ebenso außen wie innen. (Vgl. Synkiewicz 1989 und Róna-Tas 1989) Die Wohnform des Zeltes ist die soziale und psychologische Durchdringung von Innen- und Außenraum und das soziale Miteinander, nicht die Individualisierung des Menschen. Das demonstriert auch der Sprachgebrauch. Die Bedeutung des türkischen Wortes "jurt" ist nicht nur Zelt, sondern auch Lagerplatz, Wohnort, Land und Heimat. Es bezeichnet auch die Region, die von den Nomaden innerhalb eines Jahres durchquert wird. "jurt" ist gleichzeitig die Bauhausung und die Umgebung.
Eine Jurte ist die Spezialform eines Zeltes. Ihre Konstruktionsprinzipien haben Jahrhunderte lang bis heute fast unverändert überlebt und sind so besehen dauerhafter als manches steinerne Baudenkmal. (Vgl. Faegre 1979) Eine moderne Interpretation der mongolischen Jurte ist das Dymaxion Haus von Buckminster Fuller. Nicht nur aus Traditionsgründen sondern des Komforts wegen leben auch heute noch Dreiviertel der mongolischen Einwohner in Jurten.
Eine Jurte besteht aus einem rundgebauten, hölzernen tragenden Gerüst, über das mehrere Lagen von Filzteppichen gehängt werden. Von einer 6-köpfigen Familie kann eine Jurte in 20 Minuten ab- oder aufgebaut werden. Textile Zeltwände - so auch die Wände der Jurte - halten kaum länger als 5 bis 10 Jahre. Sie müssen regelmäßig repariert und ersetzt werden. Der konstruktive Umgang mit den Gebrauchsspuren und dem Verfall der Dinge ist Teil des nomadischen Lebens.
Das Zelt, die Rituale seines räumlichen Gebrauchs und insbesondere das Feuer im Inneren des Zeltes stiften eine magische Beziehung zu dem Familienclan. Die meisten nomadischen Zelte haben eine zeitlich beschränkte Lebensdauer, die mit dem Leben und Sterben der Familie zusammenhängt.
Das Zelt ist demnach ein temporäres Ereignis, es erlaubt Spontanität und ein Leben im Bewußtsein der Vergänglichkeit. Die Diskontinuität des Zeltraumes steht in Kontrast zu den dauerhaften Räumen der fest fundamentierten Architektur. Die sogenannten Hochkulturen mit ihren steinernen Abgrenzungen gegen das Außen haben auch ein steinernes Zeitverständnis. Am krassesten läßt sich das an den ästhetischen Leitvorstellungen der modernen Industriekultur ablesen. Man spart die Zeit, man überlistet die Zeit, man schaltet die Zeit aus durch "zeitlose" Formgebung. Die Zeit kommt zurück in Form von Gebrauchsspuren und Verfall. Beide Erscheinungen gelten dem modernen Hochglanzbewußtsein als bedrohlicher und schmutziger Alltag. Raum, Zeit und Ordnung haben eine kulturbedingte gemeinsame Struktur. Nomadische Kulturen verfolgen einen anderen Ordnungsbegriff und damit auch einen anderen Begriff von Raum und Zeit als seßhafte Kulturen. In einprägsamer Form läßt sich das an der Produktion textiler Materialien ablesen.
3. Ästhetik und Arbeitsformen: Nomadische und nicht-nomadische Textilien
Ein typisches nomadisches Objekt ist der Kelim. Das ist ein flachgewebter Teppich, der gut zu transportieren ist und den man in größeren Mengen für die Innenausstattung z.B. von Beduinenzelten oder Jurten einsetzt. Kelims werden in schmalen Bahnen, d.h. auf transportablen Webrahmen gewebt. Sie entstehen im Lauf der Wanderung an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Man bricht ab und macht an anderer Stelle weiter. Die zahlreichen Neuanfänge sind in Farbe und Muster abzulesen. Nicht nur die zeitbedingten auch die logischen Sprünge im Muster, die "Fehler" gehören zu der Kultur der Kelims. Das hängt u.a. mit den religiösen Leitbildern der islamischen Nomaden zusammen, nach deren Vorstellung eine allzu große Perfektion als Gotteslästerung zu gelten hat. Das menschliche Werk gilt als prinzipiell fehlerhaft. Nur Allah selbst und sein Werk ist vollkommen. Der Mensch muß sich in Demut mit den menschlichen Fehlern abfinden. (Vgl. Kybalova 1975, Tietze 1990~
Ein ebenfalls typisch nomadisches Objekt ist der Filzteppich. Das Filzen ist eine sanfte und umweltschonende Technik. Mit der Rohwolle wird eine ökonomische Ressource genutzt, die - anders als Leder und Fell - stets nachwächst. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist interessant, daß Filz gänzlich abfallfrei hergestellt bzw. verwertet werden kann. Man kann jeden Verschnitt, jedes mißlungene Stück, jeden Schnipsel weiter verarbeiten.
Modellhaft ist der wollene Filz mit den traditionellen Lebensformen der Nomaden verbunden. Aus Filz werden seit jeher nicht nur Teppiche und Zeltwände sondern auch Kleidungsstücke hergestellt. Hirten und Nomaden haben eine Filzkultur entwickelt, bei der das einzelne Objekt oft ein Mittelding ist zwischen Möbel, Mantel und Zelt. Auch in der Untersuchung des Filzes als stoff- und raumbildender Technik und den daraus resultierenden Qualitäten lassen sich grundlegende Einsichten über kulturelle Strukturmuster des Nomadismus gewinnen.
Von Hand gefertigte Filzprodukte sind immer unregelmäßig, immer verschieden und niemals "perfekt". Das Filzen ist die Urform einer Zivilisationstechnik, der überschaubare überlebenspraktische Umgang mit Feuer, Wasser, Luft und Erde. Insofern ist der handgemachte Filz auch heute noch so etwas wie ein Kontrastsymbol, ein Aufstand gegen die ästhetischen Normen der modernen Industrie, die man auch als kulturelle Endform der Seßhaftigkeit bezeichnen kann. Der Filz demonstriert die Leistungsfähigkeit der nicht von Arbeitsteilung und Maschine belasteten Hand.
Filzen kann man an fast jedem Ort. Die Arbeit kann man nach einem gewissen Anfilzen auch unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Zeitliche Sachzwänge ergeben sich lediglich durch die Verfügbarkeit eines qualitativ hochwertigen Rohmaterials (nachwinterliche Schafschur) und klimatische Umstände. Wenn die nasse Wolle zu schnell erkaltet, wird der Prozeß des Filzens verlangsamt bzw. unökonomisch, weil dann zuviel mechanische Arbeit und zuviel heißes Wasser notwendig wird, um die physischen Bedingungen für das Gelingen des Werkstückes zu halten. Auch für die arbeitenden Menschen ist es bei Kälte nicht angenehm, selbst naß zu werden. Hinzu kommt: sowohl die Teppiche als auch die Arbeitskleidung brauchen dann zu lange, um zu trocknen. Das Filzen ist traditionell also eine eher saisonale, an warme Jahreszeiten gebundene Arbeit.
Das Material und seine Herstellung entsprechen der sparsamen, diskontinuierlichen und autarken Lebensform der Nomaden. Das Filzen ist eine Arbeit, die den Menschen kulturell prägt, weil sie auch der Geschichte des Materials und dem zukünftigen Gebrauch verpflichtet ist. Vom Vorgang des Filzens untrennbar sind die vorgeordneten Prozesse von Schafzucht und Landschaftspflege und ebenso die nachgeordneten Prozesse des Gebrauchs. Der fertige Filz ist ein ganzheitliches Dokument nomadischer Lebensform.
Es verdeutlicht die spezifischen Charakteristika des Filzens, wenn man es mit einer anderen stoffbildenden Tätigkeit - nämlich dem Weben - vergleicht. (Vgl. Hemhold a.a.O.) Das Weben erfordert zumeist eine auf das Bleiben ausgerichtete Lebensform. Normale Webstühle sind zu groß, um sie in das nomadische Leben einzupassen. Sie sind auch zu schwer ab- und wieder aufzubauen. Zunächst wird beim Weben das Rohmaterial gesäubert und gerichtet. Durch das Spinnen werden die Fasern dann in ein Ordnungsgefüge gezwungen, das den Faden, "ein meßbares Endlosgebilde" (Hemhold, a.a.O.) entstehen läßt. Das zunächst chaotische Ausgangsmaterial wird linearisiert und im späteren Webvorgang geometrisiert.
Das Weben erfordert im Gegensatz zum Filzen eine zeitaufwendige und differenzierte Planung und erhebliche vor- und nachbereitende Arbeiten. Die Planung und der Stoffentwurf ist zumeist Leistung eines Einzelnen, die eigentliche Herstellung kann kontinuierlich und additiv durch beliebige Ausführende erfolgen.
Das Filzen ist im Vergleich zum Weben ein urtümlicher, unmittelbarer und sinnlicherer Vorgang. Die Arbeitsvorbereitungen sind minimal. Geruchs- und Tastsinn sind gefordert. Der Prozeß unterliegt einem haptischen und kinästhetischen Feedback, die visuelle Kontrolle des Prozesses ist demgegenüber relativ unwichtig. Auch die Qualitäten des Filzes werden weniger vom Auge als von den in der Haut angesiedelten Sensoren und dem ganzheitlichen, z.B. klimatischen Empfinden des Menschen wahrgenommen.
Auch das Filzen erfordert gewisse, im Einzelfall jedoch schnell zu leistende Vorarbeiten. Gefilzt werden kann überall und man braucht dazu fast kein Werkzeug. Zunächst werden die Vliese grob gesäubert. Dann werden die wirren Schafshaare durch mechanisches Kämmen oder rhythmisches Schlagen auf einer Art Pauke gerichtet. Anschließend wird das so aufbereitete und gelockerte Rohmaterial in den Maßen des Teppichs ausgelegt. Mit Hilfe von Heißwasser und Molke oder Seife und unter mechanischer Einwirkung in Form von Reiben, Walken, Rollen, Stampfen oder Schütteln, oder auch Schocks durch Wechsel von heißem und kaltem Wasser wird die Wolle dann zum Filz komprimiert. Dabei schrumpft das Werkstück erheblich. Das vorgeordnete Material geht im Verlauf des Filzens ein neues Chaos ein, das nicht mehr lösbar ist und die Grundlage der neuen Stabilität bildet. Die Wolle wird im Zuge dieses Vorgangs zum einen gereinigt, zum zweiten gibt sie ihr Fett ab, das man zu anderen Zwecken (z.B. Hautpflege, Einfettung der Zeltaußenwände) weiter verwenden kann. Zum dritten gewinnt das Gewirk eine Festigkeit, die bei entsprechend langer Bearbeitung bis an die Qualität von Holz heranreichen kann. Das Rohmaterial verliert im Zuge des Filzens deutlich an Gewicht, was den Transport erheblich erleichtert.
Die Herstellung insbesondere größerer Filzwände ist eine harte Arbeit, die nur in Kooperation zu leisten ist. Traditionell ist das Filzen eher eine Männerarbeit. In der Regel sind jedoch auch die Frauen und Kinder des Klans zumindest an der Aufbereitung der Wolle und ihrem Auslegen beteiligt. Die Mechanik des Filzens erfordert ein Arbeiten im Rhythmus, was in der Abstimmung ein intensives Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Gelegentlich werden die angefilzten Teppiche zu Bündeln geschnürt, die von Pferden über unebene Böden gezogen werden.
Die Herstellung von Filz - insbesondere das handbetriebene Walken - indes ist nicht nur ein körperlicher sondern auch ein meditativer Prozeß. Wolle reagiert auf eine unterschiedlich konzentrierte und intensive in jedem Fall aber ganzkörperliche (also nicht aus dem Sitzen zu leistende) Zuwendung bei dieser Arbeit tatsächlich mit sehr verschiedenen Intensitäten des Verfilzens. Das erklärt, daß auch bei gleichem Material und relativ standardisierten Bedingungen unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Zeiten benötigen, um das ungefähr gleiche Resultat zu erzielen. Das ganze ist ein nicht mehr rein naturwissenschaftlich zu erklärender Vorgang. Hier spielen auch parapsychologische Faktoren eine Rolle. Die psychische Kraft ist in dem handgemachten Filz gegenwärtig. Deshalb wärmt Filz nicht nur den Körper sondern auch das Herz.
Das Weben ist ein sehr viel intellektuellerer Vorgang als das Filzen. Die Vorleistungen des Webers sind eine äßerst komplexe Planung: die Einrichtung des Webstuhls, die Abstimmung der Farben und Garne und die Ablaufplanung. Beim Weben wird gezählt, gemessen und proportioniert. Gerühmt werden Stoffe, die präzise gewebt sind. Solche Stoffe allerdings werden besser von der Maschine als von Menschenhand gefertigt. Schon früh wurden in der Textilindustrie Computer und ihre Vorformen eingesetzt. Auch der Prozeß des von Hand Webens ist ein rythmischer und meditativer Vorgang, allerdings in der psychischen Komponente erheblich feinstofflicher. Gewebe sind vielfältiger, feiner, abriebfester und belastbarer als Filze. Im Vordergrund ihrer qualitativen Eigenschaften stehen visuelle Kriterien.
Während der eine Vorgang gegen das Chaos arbeitet, das Material geometrisiert und damit einer höheren Ordnung zuführt, macht der andere Vorgang das Chaos zum Vorteil. Unordnung und gegenseitige Verstrickung führen zu einem Zustand der Stabilität und zu sehr lebendigen Qualitäten. Das Weben in seiner entwickelten Form ist ein Symbol für die zivilisatorischen Leistungen der seßhaften Kultur. Dagegen kontrastiert der handgemachte Filz, der ein ganz und gar nomadisches Produkt ist.
Simone Krauskopf
Ohne Wohnung - ohne Recht?
- Der § 361 StGB
- Die Situation heute
- Obdachlose und Wohnungslose, Frauen und Männer
- Ursachen
- Problembewältigung, Alternativen
In der BRD leben ca. 45 000 Menschen auf der Straße, 800 000 haben keine eigene Wohnung. Sie sind in ihren Rechten eingeschränkt, obwohl Wohnungslosigkeit nicht mehr strafrechtlich geahndet wird.
Der § 361 StGB
Bis 1969 enthielt das StGB den § 361. Bestraft wurde, wer gemäß Nr. 3: "als Landstreicher" umherzog, Nr. 4: selbst bettelte oder Kinder zum Betteln anhielt, Nr. 5: infolge von Hingabe an "Spiel, Trunk oder Müßiggang" durch Vermittlung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch nehmen mußte, Nr. 7: arbeitsscheu war und sich weigerte, eine zugewiesene angemessene Tätigkeit auszuüben, Nr. 8: sein Unterkommen verloren hatte und nach Fristsetzung sich kein anderweitiges Unterkommen verschaffen konnte.
In der NS-Zeit wurde gegen die sogenannten Asozialen, auch Volksschädlinge genannt, brutal vorgegangen. Die Polizei führte in Zusammenarbeit mit der SA und der SS in der Woche vom 18. bis 25. September 1933 in ganz Deutschland die "Bettlerwoche" durch. Während dieser Zeit wurden auf den Straßen umherziehende Menschen, Wanderer, die in Obdachlosenasylen schliefen, Prostituierte, arbeits- und wohnungslose Gesellen von Polizei, SA und SS aufgegriffen und eingesperrt. Formaljuristisch war diese Aktion nicht einmal ungesetzlich, denn der damalige § 361 StGB erlaubte schon zu Zeiten der Weimarer Republik die Verhaftung von "Bettlern und Landstreichern", diese konnten bis zu sechs Wochen in Polizeihaft gehalten werden. Mit der Aktion "Arbeitsscheu Reich" 1938 wurde die systematische Vernichtung der Bettler eingeleitet.
Die Situation heute
§ 361 StGB wurde gestrichen, die Menschen, die er verfolgen sollte, gibt es nach wie vor.
Heute wird kein "Penner" von Staats wegen verfolgt oder getötet.
Gleichwohl sind sie von vielen Lebensbereichen ausgeschlossen. Man findet nichts dabei, wenn sie in Lokale nicht hineindürfen, auch wenn sie Geld haben und bezahlen könnten. Unter Umständen wird die Polizei gerufen, damit sie den "Penner" vor die Tür setzt. In vielen Städten gibt es Schilder mit Aufschriften wie: "Lagern und nächtigen polizeilich verboten". Von OrdnungshüterInnen werden die "Penner" vor die Stadtgrenzen gebracht, egal ob es regnet oder schneit und die betroffenen Personen kleidungsmäßig entsprechend ausgestattet sind, ihnen wird untersagt, sich an bestimmten Plätzen überhaupt aufzuhalten.
Obdachlose und Wohnungslose, Frauen und Männer
Zunächst aber eine begriffliche Klarstellung. Wenn von Obdachlosen geredet wird, sind eigentlich die Menschen, die auf der Straße leben, gemeint. Hier lautet die treffendere Bezeichnung Wohnungslose.
Obdachlos sind jene, die z.B. nach einer Räumung in städtische Notunterkünfte (auch "Läusepensionen" genannt) eingewiesen werden. Ist jemand wohnungslos geworden, kann er/sie zum zuständigen Sozialamt gehen und dort seinen/ihren Anspruch auf Unterbringung geltend machen. Der Anspruch bestimmt sich nach dem jeweiligen Landesrecht. Z.B. in Berlin durch das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Das Sozialamt weist eine Unterkunft zu und genehmigt die Kostenübernahme. Verträge werden zwischen Sozialamt und Unterkunft geschlossen. Mietverträge zwischen NutzerIn und Unterkunft gibt es nicht. Die NutzerIn erkennt die Haus- bzw. Hausordnung mit ihrer Unterschrift an. Daran knüpfen sich keine Rechte wie z.B. das der Unverletzlichkeit der Wohnung des Art. 13 GG. So kann der überlassene Raum unangemeldet von kontrollberechtigten Personen (Hausmeister, MitarbeiterInnen des jeweiligen Trägers) betreten werden, ein Zimmer kann mit mehreren Betten ausgestattet werden, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. "Läusepensionen" heißen einige Unterkünfte, weil sie unzureichend hygienisch ausgestattet und die Zimmer überbelegt sind. Auch freie Träger betreiben Unterkünfte. Die Unterschiede sind groß. Ob vorhandene Gelder wirklich für die Notleidenden verwendet werden, ist nicht immer eindeutig. Es werden aber auch Unterkünfte mit menschenwürdiger Ausstattung und sinnvollen Betreuungs- und Beratungsangeboten betrieben.
Wegen Unzumutbarkeit lehnen viele Betroffene die beschriebenen Unterkünfte ab und versuchen sich selber weiterzuhelfen. Der Versuch, ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen - denn das Aufbegehren gegen die Art der Unterbringung ist ein solcher - scheitert regelmäßig. An diesem Punkt wird aus einem obdachlosen Menschen ein wohnungsloser. Der Teufelskreis des Lebens und Überlebens auf der Straße beginnt.
Das Leben in der Öffentlichkeit ohne Rückzugsmöglichkeiten, ohne Schutz, eben ohne jegliche Privatsphäre ist bei klarem Verstand kaum auszuhalten. So sind Menschen, die auf der Straße leben oft alkoholkrank. Dies ist aber nicht die einzige Krankheit. Saisonbedingt sind im Winter Erfrierungen an Händen und Füßen häufig, seelische und psychische Defekte, die sich in Depressionen, Lethargie oder auch Überaktivität äußern und dringend behandelt werden müßten treten auf, Infektionen von offenen Wunden, die aufgrund der Lebensumstände nur schwer heilen, machen die Existenz unerträglich. Und trotzdem "ertragen" sie immer mehr Menschen.
Nicht mehr "nur" Männer werden von dieser extremen Form der Armut erfaßt, längst trifft sie auch Frauen. Für sie gestaltet sich die Situation schwieriger als für Männer, die die klassische Klientel der Sozialarbeit in diesem Bereich darstellen. So gibt es z.B. viel weniger Übernachtungsmöglichkeiten. Ist eine Frau auf der Straße gelandet, kann sie sich kaum allein durchschlagen. Sie muß sich in die Abhängigkeit eines (oder mehrerer) Männer begeben.
Ursachen
Ein leider noch immer weit verbreiteter Glaube sieht die Ursachen für ein Leben ohne Wohnung in der "Veranlagung" eines Menschen. Es wird sogar noch vom "Wandertrieb" geredet was natürlich das Problem nicht trifft. Es gibt tatsächlich Männer, die jahrzehntelang umherziehen, die sogar eine Art "Berufsehre" entwickelt haben. Das sind Ausnahmen. Die meisten werden aufgrund längerer Krankheit, Arbeitslosigkeit, Haftstrafe, Scheidung, Tod aus der gewohnten Bahn geworfen. Kehrt ein Mensch nach langem Krankenhausaufenthalt, psychiatrischer Behandlung,
Gefängnisstrafe in sein altes Umfeld zurück, stellt er unter Umständen fest, daß er keine Wohnung mehr hat, seine Möbel untergestellt oder verkauft sind. Dazu kann es kommen, wenn der/die Betreffende sich trotz der Aufforderungen entsprechender Behörden passiv verhalten hat. Nach einer Scheidung haben insbesondere Männer Probleme zurechtzukommen. Aus der gemeinsamen Wohnung ziehen sie aus, wohnen bei FreundInnen, und irgendwann geht auch das nicht mehr.
Im übrigen ist es schlicht falsch, von Stadt- oder Landstreichern zu reden. In der Regel sind diese Menschen eher seßhaft. Die meisten bleiben über lange Zeit in einer bestimmten Stadt.
Frauen werden zunehmend wohnungslos, weil für sie die Möglichkeiten des Ausweichens geringer werden. Typischerweise nehmen sie Jobs in der Gastronomie und im Hotelwesen an, bei denen sie gleichzeitig ein Zimmer bekommen; Frauen bleiben in der Abhängigkeit von Männern, auch wenn sie darunter leiden. Geht das Arbeitsverhältnis zu Ende oder wird es gekündigt, findet eine Frau dann nicht bald wieder ein Unter- und Auskommen, hält sie es bei dem Mann nicht mehr aus, will oder kann sie nicht auf einen Platz im Frauenhaus warten, ist ihr Schicksal vorerst besiegelt. Für Frauen existieren weniger Anlaufstellen als für Männer.
Sind Mann und Frau wohnungslos und leben gemeinsam, werden sie nur schwer eine Möglichkeit finden, auch gemeinsam unterzukommen.
Eine neue Entwicklung in den größeren Städten zeigt, daß auch Kinder ohne Wohnung leben. Diese Kinder sind nicht etwa mit ihren Müttern gemeinsam wohnungslos. Sie leben mit mehr oder weniger Gleichaltrigen, halten sich im Untergrund auf und haben in der Regel keinen Kontakt zu ihren Familien.
Problembewältigung, Alternativen
Für obdach- und wohnungslose Menschen bestehen verschiedene Hilfsangebote, z.B. die genannten Notunterkünfte.
Anlaufstellen für Frauen und Männer sind Wärmestuben, die meist von einem kirchlichen Träger betrieben werden. Hier gibt es Waschmaschinen, Duschen, Spiele, Bücher, Kultur, Essen und Beratung. Wie umfangreich das Angebot einer solchen Wärmestube ist, hängt von den finanziellen Mitteln ab und auch von der Motivation der MitarbeiterInnen. Die Arbeit im Bereich der Wohnungslosenhilfe ist selten von Erfolgserlebnissen geprägt, dafür um so mehr vom Druck fehlender Möglichkeiten, denn Wohnung und Arbeit kann eine Wärmestube in den seltensten Fällen vermitteln. Es gibt Wärmestuben, in denen die MitarbeiterInnen mehr oder weniger als SchließerInnen fungieren. Trotzdem sind diese Orte für die Hilfesuchenden überlebenswichtig, besonders im Winter. Wohnheime oder Wohnungen mit betreuten festen Wohngruppen, meist nur für Männer oder nur für Frauen, sind keine vorübergehende Lösung, sondern etablieren sich zum Dauerzustand. Die Kapazitäten sind begrenzt, Vermittlungen und Neuaufnahmen sind Ausnahmen. In ländlichen Gegenden finden sich Soziale Heimstätten, die aus ehemaligen Arbeiterkolonien hervorgegangen sind. Hier werden wohnungslose Männer aufgenommen, bekommen einen Platz in einem Einzel- oder Mehrbettzimmer, müssen in ihrem Beruf oder einem anderen arbeiten, werden im Prinzip rund um die Uhr betreut.
Im Winter reichen die Unterkunftsmöglichkeiten in den Städten regelmäßig nicht aus. Es werden zusätzliche Notschlafstellen eingerichtet, die das Erfrieren verhindern, aber darüber hinaus keine Angebote machen.
äußerst problematisch kann die Situation für Menschen sein, die keine Meldeadresse haben. Sie können versuchen sich eine sogenannte Scheinanmeldung zu verschaffen. Scheinanmeldung ist kein rechtlicher, sondern ein umgangssprachlicher Begriff.
Folgende Prozedur ist denkbar. Ein wohnungslos gewordener Mensch wird in das zuständige Obdachlosenheim eingewiesen. Er/sie meldet sich dort und bekommt die Meldeadresse. Diese Meldeadresse ist meist die Voraussetzung dafür, Sozialhilfe beziehen zu können. Diese wird nicht einheitlich vergeben. Z.B. wird in Berlin von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich verfahren, von Stadt zu Stadt und von Land zu Land sowieso. So zahlt ein Bezirk an einen Menschen ohne Meldeadresse keinen Pfennig, im nächsten wird gezahlt. Ist eine Meldeadresse vorhanden, wird in jedem Fall gezahlt, entweder tägliche Tagessätze, wenn den Betroffenen nicht zugetraut wird, das Geld "vernünftig" auszugeben, oder wöchentlich oder monatlich. In manchen Städten gibt es kein Geld, sondern Einkaufsgutscheine für bestimmte Läden. Das verstärkt die Ausgrenzung.
Taucht der-/diejenige länger nicht mehr im Obdachlosenheim auf, erfolgt die Abmeldung von Amts wegen, mit der Folge, daß unter Umständen keine Sozialhilfe mehr bezogen werden kann. Läßt eine BürgerIn es zu, daß sich jemand unter ihrer Adresse anmeldet, ohne dort tatsächlich zu wohnen, begeht sie nach dem jeweiligen Landesmeldegesetz eine Ordnungswidrigkeit.
Für einen vom Verlust der Wohnung bedrohten Menschen gäbe es Möglichkeiten, sich zu wehren. Wie, ist schwer zu erfahren. eigentlich sollte hier das Sozialamt helfen.
Wer weiß denn schon, daß bei Mietrückständen das Sozialamt für die Miete aufkommt, damit weder Kündigung noch Räumung erfolgen; wem ist bekannt, daß gegen eine Kündigung Rechtsmittel möglich sind; wieviele gehen gar nicht erst zum Sozialamt aus Scham oder Angst?
Inzwischen wurden Projekte initiiert, die nicht mehr über die Betroffenen verfügen sondern mit ihnen. In einigen Städten wurden Zeitungen gegründet, die von - aber nicht nur für Obdachlose und Wohnungslose gemacht werden.
Von privaten InitiatorInnen werden Lebensmittel gesammelt, die am Ende eines Geschäftstages weggeworfen werden würden. Sie werden an Suppenküchen und Wärmestuben verteilt.
Die "Penner" erheben ihre Stimme: so probt und spielt in Berlin die Theatergruppe "Die Ratten", die gelegentlich in Castorfs Volksbühne auftritt. Trotzdem sind wir weit davon entfernt, das Problem Armut auch nur halbwegs human zu sehen. Z.B. sagte der Berliner Innensenator Heckelmann Herbst im 1993: "Aggressive, aufdringliche oder betrunkene Bettler beeinträchtigen zunehmend nicht nur die Lebensqualität in der Innenstadt, sondern auch das Rechtsempfinden und das Sicherheitsbewußtsein unserer Bürger."
Wessen Rechtsempfinden ist hier eigentlich beeinträchtigt?
Als ob Bettler keine Bürger wären!
Simone Krauskopf
Hannes Kiebel
Obdachlose Menschen in Deutschland
- 1. Begriffe mit Folgen für Menschen
- 2. Wohnungsnotfälle - zuständig sind die Kommunen
- 3. Prinzip Hoffnung
- 4. Wohnungsnotfall-Statistik als Baustein einer Sozialberichterstattung
- 5. Auf der Straße leben, überleben
- 6. Betteln verboten
7. Perspektiven , wichtige Signale
Anmerkungen
1. Begriffe mit Folgen für Menschen
Die Prioritäten im Hilfesystem für Nichtseßhafte müssen neu gesetzt werden. Zu diesem Schluß kommt die Stuttgarter BSU Wirtschaftsberatungsgesellschaft für soziale Unternehmen und Einrichtungen in einer von den Landeswohlfahrtsverbänden Baden und Württemberg-Hohenzollern in Auftrag gegebenen Untersuchung über die Hilfe für alleinstehende Wohnungslose. Für den Südwesten ermittelten die BSU-Autoren rund 17.000 Nichtseßhafte.
Erschwerend war bei der statistischen Erhebung die Begriffsverwirrung: Es ist von alleinstehenden Wohnungslosen die Rede, von Nichtseßhaften, von Obdachlosen, von Stadtstreichern oder von Durchfahrern. Mit den unterschiedlichen Bezeichnungen geht aber auch eine unterschiedliche Zuständigkeit der Sozialhilfeträger einher. Dies hat zur Folge, daß rechtlich differenziert wird und ein Teil der Nichtseßhaften bei der Hilfe außen vor bleibt, weil auf Abgrenzungsschwierigkeiten mit Nichthilfe reagiert wird.[1]
Der bedeutendste Armutswissenschaftler und Praktiker im Deutschen Kaiserreich, Emil Münsterberg (1855-1911), sprach im September 1895 in Leipzig vor dem "Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit" (seit 1919: "...öffentliche und private Fürsorge") über "Fürsorge für Obdachlose in den Städten" und teilte ein in: Fürsorge für seßhafte Obdachlose und Fürsorge für nichtseßhafte Obdachlose. Die Versammlung des Deutschen Vereins beschloß, für eine Trennung der Fürsorge in den Städten zu sorgen: Seßhafte und nichtseßhafte Obdachlose waren geschaffen; eine bedeutsame Folge war die Vertreibung von armen Menschen aus den Städten, überwiegend aus Kostengründen.[2]
"Verschiedene Begriffe werden verwendet, um die Lebenssituation der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zu kennzeichnen. In diesen Begriffsbildungen werden unterschiedliche Sichtweisen des Problems erkennbar, die auch von normativen Grundeinstellungen geprägt sind. Die Bezeichnung 'Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten' (§ 72 Bundessozialhilfegesetz) ist wenig hilfreich, da das Schlüsselwort der Wohnungslosigkeit nicht deutlich wird. Die in der administrativen Praxis bis heute verwendete, stigmatisierende Kategorie 'Nichtseßhafte', die in der Zeit des Nationalsozialismus den Begriff des 'Wanderarmen' ablöste, ist in Zuständigkeits- und Finanzierungsfragen des behördlichen Hilfesystems begründet. In neuerer Zeit hat sich überwiegend der Begriff des alleinstehenden Wohnungslosen durchgesetzt.
Specht definiert ihn folgendermaßen: 'Alleinstehende Wohnungslose sind solche alleinstehende Personen, die ohne oder ohne ausreichende Unterkunft sind.' Auch dieser Begriff ist nicht unproblematisch, da er den vom Familienstand abgeleiteten Status 'alleinstehend' einbezieht und damit nicht berücksichtigt, daß auch Paare, ohne oder mit Kindern, wohnungslos sein können. Eine Differenzierung nach dem Familienstand scheint wenig geeignet, zu einer Verbesserung des Hilfesystems beizutragen. Auf der anderen Seite ist eine Abgrenzung zum Begriff der 'Obdachlosen' erforderlich, die - entgegen dem Wortlaut - zwar nicht ohne Obdach sind, aber keine reguläre Mietwohnung mit einem den Mieterschutz garantierenden Mietvertrag besitzen. Sie leben in kommunalen Obdachlosensiedlungen, in Billigpensionen und anderen provisorischen Unterkünften und Notquartieren."[3]
2. Wohnungsnotfälle - zuständig sind die Kommunen
Die individuelle Lebensqualität von Menschen wird wesentlich durch ihr "Wohnen" bestimmt. Wohnproblematik trifft Menschen in zentralen Bedürfnissen und in ihrer Vernetzung. Lösungsansätze müssen sich deshalb an systemischen Denkmodellen orientieren Die Wohnraumproblematik bildet oft den erstaunlichen Auftakt zur Verarmung. Wohnungsnot betrifft zuerst gesellschaftliche Randgruppen und einkornmensschwache Schichten - darüber hinaus aber zunehmend einen wachsenden Anteil der Gesamtbevölkerung.
Thomas Specht sieht in der Begriffsbestimmung - "Im weitesten Sinne befinden sich alle diejenigen Haushalte in einer Situation von Wohnungsnot, die über zu wenig Mittel und Hilfen verfügen, um ihre Wohnraumversorgung angemessen und auf Dauer sicherzustellen" - für Wohnungsnot eine Brücke zwischen den Menschen ohne Unterkunft, solchen in Notunterkünften sowie Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen.[4]
1987 hat der Deutsche Städtetag eine in Fachkreisen akzeptierte und entwickelte Typologie von "Wohnungsnotfällen" veröffentlicht und damit gleichzeitig eine Definition von Zielgruppen kommunaler Wohnungshilfe übernommen.[5] Unterschieden und definiert werden drei Gruppen von "Wohnungsnotfällen".
Wohnungsnotfälle sind gegeben, wenn Personen
- unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind,
- aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind oder
- aus sonstigen Gründen in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.
Unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht sind Personen
- denen der Verlust ihrer derzeitigen Wohnung unmittelbar bevorsteht und die dabei ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, ihren Wohnraum auf Dauer zu erhalten oder sich ausreichenden Ersatzwohnraum zu beschaffen,
- denen die Entlassung aus einem Heim, einer Anstalt usw. unmittelbar bevorsteht und die ohne institutionelle Hilfe nicht in der Lage sind, sich ausreichenden Wohnraum zu beschaffen.
Aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind Personen,
- die ohne Wohnung sind und nicht in einem Heim, einer Anstalt usw. untergebracht sind,
- die aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit gemäß § 14 ff OBG (Ordnungsbehördengesetz NW, in den anderen Bundesländern gibt es ähnliche Bestimmungen) in eine Unterkunft oder in eine Normalwohnung eingewiesen sind.
Aus sonstigen Grunden in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben Personen,
- die unzumutbaren oder außergewöhnlich beengten Wohnraum bewohnen,
- die untragbar hohe Mieten zu zahlen haben oder die
- eskalierte Konflikte im Zusammenleben mit anderen haben.
Unzumutbar ist Wohnraum, der nicht die Mindestanforderungen an erträgliche Wohnverhältnisse erfüllt oder dessen Gebrauch zu Wohnzwecken erheblich beeinträchtigt (z.B. § 5 und 6 Wohnungsgesetz NW) oder der außergewöhnlich beengt ist (Ziff. 6.2.3 WFB-Bremen 1984)."[6]
3. Prinzip Hoffnung
Im Landessozialbericht NW, Band 2, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, sind die "Städtetagsempfehlungen" von 1987 erweitert worden, da bestimmte Maßnahmen und Hilfen einem Verständniswandel unterliegen. Wohnungslose sind einzuschließen, die von Freunden, Bekannten, Verwandten aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit vorübergehend aufgenommen worden sind, sowohl Menschen, die in sozialen Einrichtungen untergebracht werden oder dort "festsitzen", weil sie keine Wohnung haben bzw. finden. Diese Einrichtungen, z.B. Frauenhäuser, sozialpsychiatrische Einrichtungen und Jugendwohngemeinschaften, übernehmen insofern die Funktion von Obdachlosenunterkünften.[7]
Das System der "Wohnungsnotfälle" hat Eingang zu finden in die allgemeine Wohnungspolitik und die Politik gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot. Vor allem sind die Kommunen aufgrund ihrer Zuständigkeit gefordert.
Wie kaum ein anderer hat sich Gerd Iben in den jungsten Jahrzehnten mit Armut, Obdachlosigkeit, pädagogischen und sozialen Hilfen beschäftigt. Realistisch, aber auch dem Prinzip Hoffnung verhaftet, bringt er sich ein: "Viele Kommunen stehen heute schon vor den Problemen, die Soziallasten nicht mehr tragen zu können. Die Frage, ob wir uns den Sozialstaat noch leisten können, wird inzwischen ungeniert aufgeworfen. Wir brauchen eine entschiedene Gegensteuerung zur Verhinderung der Aufspaltung unserer Gesellschaft in die Erfolgreichen und die Versager, die Mächtigen und die Ohnmächtigen, denn solche harten Grenzen, die immer größere Gruppen vom gesellschaftlichen Fortschritt abkoppeln, entziehen der Demokratie den Boden. Der Städtetag hat (...) hilfreiche Empfehlungen erarbeitet. Die sich verschärfende Not am Wohnungsmarkt wird hoffentlich genügend politischen Druck erzeugen, um diese Empfehlungen auch in die Praxis umzusetzen.[8]
4. Wohnungsnotfall-Statistik als Baustein einer Sozialberichterstattung
Spätestens seit dem "lnternationalen Jahr für Menschen in Wohnungsnot" 1987 existiert in jüngster Zeit die häufig wiederholte Forderung nach einer Wohnungsnotfallstatistik mit Blick auf die ständig ansteigende Wohnungsnot und Obdachlosigkeit.[9]
Die von Experten veröffentlichten Zahlen beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen einzelner wissenschaftlicher Studien.[10] Eine Schätzung, die in der Regel genannt wird, wurde 1990 von den Bundesarbeitsgemeinschaften für Nichtseßhaftenhilfe/ Soziale Brennpunkte veröffentlicht.[11] Danach gibt es in den alten Bundeslandern 800.000 wohnungslose/obdachlose Personen. Davon leben in Obdachlosenunterkünften 300.000; 130.000 sind alleinstehende Wohnungslose, völlig ohne Obdach; 100.000 halten sich in Billigpensionen auf; weitere 100.000 in Heimen und Anstalten; weitere 200.000 Menschen sind Aussiedler ohne Wohnung.
Koch fordert neben einer jährlichen Statistik über Wohnungsnotfälle eine repräsentative Untersuchung der Wohnverhältnisse von Wohnungsnotfällen sowie der Entwicklung der Wohnungsversorgung von Wohnungsnotfällen als Baustein einer umfassenderen Sozialberichterstattung.[12]
In seinem Vorstandsbeschluß zur Sozial- und Wohnungspolitik fordert der Deutsche Verein für öffentliche und private Forderung: "Um gezielt präventive Arbeit zu erleichtern und gleichzeitig übergreifende Planungen zu ermöglichen, ist eine regional differenzierte, aber bundeseinheitliche statistische Erfassung der verfügbaren Wohnungsbestände, ihrer Entwicklung, der Nachfrage nach diesen Wohnungen sowie ein gültiges Bild über die Entwicklung der Mieten erforderlich. Gleichzeitig wäre dies ein Beitrag zu einer realitätsgerechten Beschreibung der Situation."[13]
Der Beschluß des Deutschen Vereins aus 1991 und Koch's Wunsch, veröffentlicht 1993, setzten faktisch nichts in Bewegung. Nach wie vor muß geschätzt werden, muß regional recherchiert werden.
Nach Angaben der Städte und Gemeinden ist in allen Landesteilen eine steigende Zahl von Obdachlosenfällen zu beobachten, wobei die mangelnde Fähigkeit, die Wohnkosten tragen zu können, als eine entscheidende Ursache für Wohnungsverlust und Abgleiten in die Obdachlosigkeit angesehen wird.[14]
Ende 1993 schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft 'Wohnungslosenhilfe', daß rund 850.000 Menschen allein in den alten Bundesländern ohne Wohnung über den Winter kommen müssen "Besonders hart trifft es jene, die über Nacht draußen bleiben müssen. Sie kampieren in Tiefgaragen oder Hauseingängen und wissen oftmals nicht, oh sie den nächsten Morgen erleben.
Etwas besser haben es jene, die in Übernachtungsstätten schlafen können, doch tagsüber haben auch diese Menschen kein gesichertes Obdach. Zumindest ein notdürftiges Dach über dem Kopf haben die 700.000 Menschen, die in Notunterkünften, Billighotels oder Heimen untergebracht sind."[15] Die vorgenannte Bundesarbeitsgemeinschaft geht davon aus, daß 40.000 Menschen in den alten und neuen Bundesländern auf der Straße leben, daß bundesweit 110.000 Menschen ohne gesichertes Obdach sind.[16] Nach Schätzungen haben rund 200.000 Menschen in den neuen Bundesländern ihre Wohnungen verloren und sind obdachlos.[17]
Die Zahl der obdachlosen Frauen steigt bedrohlich an. Rund 23.000 Frauen haben kein Dach über dem Kopf. Mit dieser Zahl sind nur Frauen berücksichtigt, die bei öffentlichen Einrichtungen Hilfe suchen. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Vor einigen Jahren lag der Frauenanteil bei unter 10 Prozent, heute liegt er bei 15 Prozent.[18]
An einem Stichtag im Oktober 1993 wurden in Baden-Württemberg die obdachlosen Menschen gezählt, die bei Stellen der Sozialverbände um Hilfe vorsprachen. Es waren 5.892 Personen, zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor.[19]
Die Wohnungsnot ist keineswegs ein Phänomen, das sich auf die Ballungsräume beschränkt. Unter anderem belegt dies eine Studie der Politologin Susanne Benzler für den Kreis Gießen. Ende 1991 waren in den kreisangehörigen Gemeinden mindestens 228 Menschen von Obdachlosigkeit akut betroffen. Während in Gießen von 1988 bis 1991 im Schnitt 15 Wohnungsräumungen registriert wurden, waren es im übrigen Kreisgebiet in diesem Zeitraum durchschnittlich 29 Räumungen. Der am häufigsten ermittelte Grund: Mietschulden.[20]
Der Abstieg kann jeden treffen. Die Ursachen für Obdachlosigkeit sind zahlreich; die Umwelt scheut sich, sich damit auseinanderzusetzen.
5. Auf der Straße leben, überleben
"Sozialpsychologen wissen, daß sich der Charakter eines Menschen bereits nach einem halben Jahr auf der Straße grundlegend verändert. Doch nicht nur die Persönlichkeit nimmt Schaden, auch der Körper leidet: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Bielefeld schätzt, daß fast 90% der Obdachlosen medizinischer Hilfe bedürfen.
Sie leiden besonders unter Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, des Stütz- und Bewegungsapparates und der Atemwege. Auch die Prävalenz von Herz-Kreislauf- und Hauterkrankungen liegt ebenfalls deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Wen wundert es daher, daß die Lebenserwartung drastisch reduziert ist."[21]
In Niedersachsen erkranken immer mehr Menschen an Tuberkulose. Die Zahl der Neuerkrankungen sei im vergangenen Jahr (1992) um fast 20 Prozent auf 903 Fälle gestiegen, teilte Professor Adolf Windorfer vom niedersächsischen Sozialministerium mit. Besonders beunruhigend sei dabei, daß auch die Zahl der Fälle von infektiöser offener Tuberkulose gewachsen sei. Der Medizin-Professor führt die verstärkte Ausbreitung der chronischen Infektionskrankheit vor allem auf die zunehmende Verelendung zurück. Tuberkulose sei insofern auch eine "soziale Krankheit". Betroffen seien besonders Obdachlose und andere soziale Randgruppen.[22]
Im November 1993 führte der frühe Wintereinbruch zu einem Massenandrang in den Frankfurter Notschlafquartieren. Trotz der vollen Belegung dieser Quartiere sind die städtischen Sozialarbeiter angewiesen worden, zusätzlich zu ihrer üblichen Arbeit die Schlafplätze der Wohnsitzlosen in den Frankfurter Grünanlagen, der Innenstadt und am Mainufer zu besuchen. Sie sollten für die Übernachtung in den Heimen werben, wo die Untergebrachten dann "ein bißchen enger zusammenrücken" müßten.[23]
Zur gleichen Zeit startete die Stadt Köln zusammen mit Selbsthilfegruppen mehrere Hilfeprojekte. Das Sozialamt stellte eine ihrer Tiefgaragen als Schlafstelle für obdachlose Menschen zur Verfügung; eine weitere Garage diente einer Punker-Gruppe als Winterschutz.[24] Die Bilanz für den Winter 1992/1993 ergab, daß mindestens 29 Frauen und Männer auf Straßen und Platzen erfroren sind.[25] Im Winter 1993/1994 wurden 28 Frauen und Männer erfroren aufgefunden.[26] Ohne Überwindung der Wohnungsnot werden mehr und mehr Menschen auf unseren Straßen sterben.
6. Betteln verboten
Augsburg war nicht die erste Stadt mit einer "Bettler-Satzung"; unter den bayerischen Städten hat Augsburg die strengsten Bestimmungen. Die "Bettler-Satzung" verbietet auf allen öffentlichen Straßenflächen im Stadtgebiet das Lagern und Nächtigen, das "Niederlassen zum Alkoholgenuß außerhalb erlaubter Freisitze (das sind Biergärten oder Straßencafes) und das "Betteln in jeglicher Form" als "nicht erlaubnisfähige Sondernutzungen".
Rechtsgrundlage dafür ist das Bayerische Straßen- und Wegegesetz, dessen Paragraph 22a den Gemeinden erlaubt, "Sondernutzungen ihrer Straßen durch Satzung zu regeln". Auch Nürnberg, Fürth, Regensburg, Würzburg, Hof und Bamberg haben ähnliche Satzungen, die sich aber allesamt nur auf Fußgängerzonen oder Parkanlagen beziehen.[27]
Im Stadtbild von Magdeburg fallen immer häufiger Menschen auf, die ihr ganzes Hab und Gut in einer Plastiktüte mit sich herumtragen und auf Parkbänken nächtigen. Heinrich Sonsolla, Leiter des Sozialamtes, sagte dazu: "Tatsache ist nun einmal, daß die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz steigt. Dieser Situation muß Rechnung getragen werden. Wir kalkulieren zum Beispiel ein, daß weitere Obdachlose in unserer Stadt durch den Abriß maroder Häuser in den Altbaugebieten zu erwarten sind, wo mancher jetzt noch Unterschlupf findet. Die Gefahr, auf der Straße zu landen, besteht künftig auch bei Mietschuldnern, deren Anzahl ebenfalls ständig wächst. Unser Eindruck ist, daß Betroffene und auch manche Politiker noch nicht den Ernst der Lage sehen."[28]
In Frankfurt am Main, Heidelberg und anderswo existieren zunehmend "Wagendörfer". Uta Claus besuchte einige, unter anderem traf sie junge Leute in Frankfurt Biegewald: "Wir sind eine Gruppe von jungen Leuten, denen es nicht mehr möglich war, die Wuchermieten des Wohnungsmarktes zu bezahlen beziehungsweise überhaupt einen Wohnplatz zu bekommen ... Da wir es nicht einsehen, zu fünft in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung, in stinkenden, überfüllten Obdachlosenasylen oder auf der Straße abzuhängen und irgendwann mal Amok zu laufen, besorgten wir uns ausrangierte Bauwagen und besetzten im Mai 1990 ein Stück des ehemaligen Bundesgartenschau-Geländes..." Heute steht das Wagendorf an einem anderen Platz, bei Regen tief im Matsch, zwischen einem Gebrauchtwagenpark und einer Kleingartenanlage. In den meisten Wagendörfern hat sich eine stabile Gemeinschaft mit funktionierenden Regeln entwickelt.[29]
In Hannover wurde vor sechs Jahren (1988) zum ersten Mal eine Suppenküche für Bedürftige und Wohnsitzlose eingerichtet, die zunächst stark in der Kritik von Fachleuten stand, nach deren Meinung eine kostenlose Essensversorgung obdachloser Menschen diese weiterhin abhängig macht und bei ihnen zur Lethargie führt Die Suppenküche-Verantwortlichen urteilen nach der Suppenküche im Winter 1993: "Mit der Einrichtung der Suppenküche und anderer Angebote kann das Problem der Wohnungslosen jedoch skandaliert und öffentlich gemacht werden. Effektive Hilfe erfährt die Gruppe der Betroffenen aber nur, wenn ihnen Wohnraum zur Verfügung gestellt wird, in dem sie sich dann selbst versorgen können."[30]
Heinrich Holtmannspötter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es sinnvoll und dem Bedarf zu entsprechen scheint, "solche Tagesaufenthalte einzurichten und zu 'Basislagern' der Eigeninitiative und Selbstorganisation auszubilden und damit diese Form der Hilfestellung ... aktiv in die Hand zu nehmen und zu gestalten, bevor sie ein ordnungsrechtlich geführtes Pendant zu den Übernachtungsasylen werden."[31]
In eine völlig andere, schon längst für überwunden gehaltene Richtung geht die Forderung der FDP-Landtagsfraktion in Sachsen: Die sächsischen Kommunen sollen sich an einem noch einzuführenden Leitprinzip orientieren, Bereitstellung von Unterkünften und Verpflegung nur für die obdachlosen Menschen, die entweder im betreffenden Ort geboren sind oder dort bereits langere Zeit leben.[32] Fürwahr, dieses Prinzip aus dem Deutschen Kaiserreich war schon damals ein funktionierendes Kampfmittel gegen Obdachlose.
7. Perspektiven, wichtige Signale
Ingrid Breckner vom Wohnforum München betont: "Die Mitte der 80er Jahre noch verbreitete Hoffnung, mit der Bereitstellung empirischer Daten über das Ausmaß, die Qualität und die Entwicklungsverläufe von Armut politische Handlungsmotivation oder sogar Handlungsdruck zu erzeugen, beginnt sich allmählich zu verflüchtigen."[33]
Und der Kölner Journalist Tobias Mündemann formuliert irn Rahmen einer lückenlosen Darstellung der gesamten Wohnpolitik: "Obdachlosigkeit wird hierzulande immer noch als Einzelschicksal, als persönliches Versagen gewertet, das entweder sozialpädagogischer Anteilnahme bedarf oder einfach als ordnungspolizeiliches Problem betrachtet wird. Obdachlose haben keine starke Lobby, vertreten keine Kaufkraft, sind kaum in der Lage, sich neben dem Kampf ums Überleben politisch zu organisieren, und sind als Minderheit zu klein, um wenigstens ein Wahlerpotential darzustellen."[34]
Ich stimme den pessimistischen Lagebeurteilungen grundsätzlich zu. Es ist jedoch auch zu beobachten, daß Obdachlose selbst verzweifelt wie mutig dabei sind, die kleine Lobby zu vergrößern, die "Ohnmacht der Öffentlichkeit gegenüber dem sozialen Elend" anzuprangern, die wachsende Gewalt gegen Obdachlose und die Ignoranz der Normalbürger anzuklagen.[35] An mehreren Orten in der Republik sind einzelne wie Gruppen aktiv, sie haben sich als Betroffeneninitiative in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe formiert. Glückauf!
Wohnung ist nicht alles - aber ohne Wohnung ist alles nichts!
Hannes Kiebel
Anmerkungen
[1] Obdachlosigkeit wird nur selten verhindert. Schwäbische Zeitung, 18 11.1993.
[2] Münsterberg, E.: Die Fürsorge für Obdachlose in den Städten. Referat. Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Leipzig 1895, S. 19 ff, zitiert in: Hannes Kiebel, "nichtseßhaft" - ein Begriff wird in Kürze 100 Jahre alt, in: Gefährdetenhilfe, 35/1993/1, S. 24-26.
[3] Hauser, R./Kinstler, H.-J.: Zur Lebenslage alleinstehender Wohnungsloser (Nichtseßhafter), in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, 73/1993/11, S. 412-422. Zitat von Specht in: Specht, Thomas: Die Situation der alleinstehenden Wohnungslosen in Hessen. Nichtseßhafte und alleinstehende Obdachlose. Frankfurt am Main, 1985, S. 15.
[4] Specht-Kittler, Thomas: Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 31-41, Begriffsbestimmung in: Schuler-Wallner, G./Wullkopf, U., Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt 1991.
[5] Deutscher Städtetag (Hg): Sicherung der Wohnungsversorgung in Wohnungsnotfällen und Verbesserung der Lebensbedingungen in sozialen Brennpunkten - Reihe D, Deutscher Städtetag, Beiträge zur Sozialpolitik, Heft 21, 1987.
[6] ebenda, S. 14 f.
[7] Landessozialbericht, Band 2: Wohnungsnot und Obdachlosigkeit. Soziale Folgeprobleme und Entwicklungstendenzen. Expertise des Paritätischen Bildungswerkes Nordrhein-Westfalen. Bearbeitet von Koch, Hard und Tristram. Hg. vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NW. Düsseldorf, 2. überarb. Auflage 1993,S. 23-25; siehe auch: Koch, F: Wohnungsnot und Soziale Arbeit. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, 137/l990/9, S. 216-219.
[8] Iben, Gerd: Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 19-29.
[9] Specht, Th./Schaub, M./Schuler-Wallner, G. (Hg): Wohnungsnot in der Bundesrepublik. Perspektiven der Wohnungspolitik und -versorgung für benachteiligte Gruppen am Wohnungsmarkt. Bielefeld 1988 (Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 7).
[10] Specht, Thomas: Spaltung am Wohnungsmarkt - Die unsichtbare Armut des Wohnens, in: Döring, D./Hanesch, W./Huster, E.-U. (Hg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt am Main 1990.
[11] Bundesarbeitsgemeinschaften für Nichtseßhaftenhilfe (ab 1991: BAG Wohnungslosenhilfe)/und soziale Brennpunkte (Hg): Pressemitteilung vom 3. Oktober 1990; siehe auch nähere Erläuterungen zu dieser Statistik in: Landessozialbericht, S. 136-139.
[12] Koch, in: Landessozialbericht S. 195.
[13] In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, 71/1991m, S. 56.
[14] Ulbrich, Rudi: Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9/93, S. 16-31.
[15] Obdachlose in Deutschland. (Schaubild mit Text von Globus) In: Magdeburger Volksstimme, Magdeburgische Zeitung vom 15.1.1994.
[16] wie 15; Eine Million obdachlos In: Frankfurter Rundschau vom 23.2.1994.
[17] 200.000 Menschen ohne Wohnung. In Hamburger Abendblatt vom 25.11.1993.
[18] Immer mehr Frauen ohne Dach uber dem Kopf. In: Neue Presse vom 24.2.1994; "Manchmal habe ich keinen Bock mehr weiterzukämpfen." In: Magdeburger Volksstimme, Magdeburgische Zeitung vom 21.2.1994.
[19] "Nicht nur unten sparen" . In Badische Zeitung vom 3.1.1994.
[20] Die Wohnungsnot beschränkt sich nicht nur auf Ballungsgebiete. In: Frankfurter Rundschau vom 13.11.1993.
[21] Kalbheim-Gapp, Eva: Diagnose: Armut. In Therapiewoche, 18/1992, Nr. 42, S. 1083; siehe auch: Locher, Gerhard, Gesundheits/Krankheitsstatus und arbeitsbedingte Erkrankungen von alleinstehenden Wohnungslosen, Bielefeld 1990.
[22] Tuberkulose bei sozialen Randgruppen. in: Gottinger Tageblatt vom 5.11.1993.
[23] Immer mehr Obdachlose. In: Hanauer Anzeiger vom 25.11.1993.
[24] Weitere Tiefgarage wird jetzt als Schlafgelegenheit zur Verfügung gestellt. In: Kölnische Rundschau vom 25.11.1993.
[25] Draußen erfroren 29 Menschen. In: Frankfurter Rundschau vom 2.3.1993.
[26] Wohnungslos im Winter 93/94: 28 Männer und Frauen erfroren aufgefunden (detaillierte Liste). In: Gefährdetenhilfe, 36/1994/1, S. 46.
[27] "Bettler-Satzung" ein untaugliches Instrument In: Süddeutsche Zeitung vom 10.8.1992; siehe auch: Doch eine Satzung gegen Bettler. In: Augsburger Allgemeine vom 31.7.1992.
[28] Wenn Träume auf der Parkbank enden. In: Magdeburgische Zeitung, Volksstimme vom 17.7.1992.
[29] Claus, Uta: Wagendorfer- Deutschlands erste Slums? In: DIE ZEIT, Nr. 6, 5.2.1993, S. 40.
[30] Erfahrungsbericht uber die Suppenküche für Bedürftige im Winter 1993. Hg von Wilfried Pellmann im Diakonischen Werk des Evang.-Luth. Stadtkirchenverbandes Hannover, Hannover 1993, S 7.
[31] Holtmannspötter, Heinrich: Die Wohnungslosenhilfe 1993. In Gefährdetenhilfe, 36/1994/1, S. 1-3.
[32] FDP: Obdachlose bei längerem Aufenthalt unterbringen und versorgen. In: Dresdner Neueste Nachrichten vom 27./28.11.1993.
[33] Breckner, Ingrid: Hinsehen oder wegsehen: Armut in der Großstadt, in Die Armen und die Reichen, Hamburg 1993 (Kirche in der Stadt; Bd. 3), S. 11-20.
[34] Mündemann, Tobias: Kein Dach uber dem Kopf - Keinen Boden unter den Füßen. Hamburg 1992, S. 82.
[35] Wohnungsnot, Obdachlose werden aktiv. In Hessische Allgemeine vom 19.11.1993.
(aus: Der Architekt. Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten. Heft 6 - Orte der Ausgrenzung. Juni 1994, S. 325 - 330.)
Alle (im Originalbeitrag abgedruckten, hier aber aus technischen Gründen weggelassenen) Fotos: Karin Powser.
Die Fotos zu diesem Beitrag sind von Karin Powser, Hannover; sie sind überwiegend abgedruckt in: Karin Powser, Alt und arm - vom Leben und Uberleben auf der Straße. Fotografien. (Heft 5 der Reihe TEXTE Drinnen & Draußen) Bezug: Hannes Kiebel, Bochum.
Erwin Jordan
Thesen zur aktuellen Diskussion um "Straßenkinder" in der Bundesrepublik
1. Kinder und Jugendliche, die sich den Einwirkungen von Erziehung in Elternhaus, Schule und Jugendhilfe (Heim) entziehen, sich an "jugendgefährdenden" Orten aufhalten, in jugendeigenen Szenen untertauchen, am Rande der bzw. in der lllegalität leben, haben in der Vergangenheit nicht nur die sozialpädagogische Diskussion bestimmt, sondern auch die Massenmedien beschäftigt (vgl. beispielsweise die große Beachtung des 1978 erschienen Buches: Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo).
Das öffentliche Interesse ergibt sich schon daher, daß diese Kinder und Jugendlichen in augenfälliger und nachhaltiger Weise gegen zentrale gesellschaftliche Sinn-Normen, gegen
- das Gebot der Seßhaftigkeit,
- das der Akzeptanz elterlicher oder anderer Autoritäten,
- die gesellschaftliche Forderung nach Arbeits- bzw. Lernbereitschaft und
- häufig auch gegen das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit im Jugendalter
verstoßen und damit zumindest partiell den Mißerfolg/das Scheitern des Ziels gelungener gesellschaftlicher (sozialer) Integration sichtbar werden lassen.
In diesem Kontext sind in jüngster Zeit vor allem Kinder und Jugendliche "auf der Straße", in riskanten Situationen und unkontrollierten Räumen, Gegenstand der Medien gewesen. In der öffentlichen Etikettierung waren und sind dies u.a. die sog. "S-Bahn-Surfer", die "Crash-Kids" und nunmehr die "Straßen- oder Bahnhofskinder" (vgl. dazu z.B. DER SPIEGEL 15 und 28/1993; STERN 34/1993).
2. Der Begriff "Straßenkinder" ist dabei in mehrerlei Hinsicht eher dem plakativen Skandalisierungsbedürfnis der Massenmedien als einer angemessenen Erfassung des Phänomens geschuldet. Der in Analogie zur Situation der Straßenkinder in Lateinamerika verwendete Begriff unterschlägt nämlich die enormen qualitativen Unterschiede, die zwischen der Existenz von hungernden, um ihre Existenz kämpfenden, kranken und von sozialer Unterstützung weitestgehend ausgegrenzten Kindern in den lateinamerikanischen Metropolen, die von bezahlten "Killerkommandos'' verfolgt werden, und dem Leben von "Bahnhofskindern" in Hamburg bestehen
3. Zur aktuellen Botschaft der Massenmedien gehört gegenwärtig, daß die "Straßenkinder" nicht nur immer zahlreicher, sondern auch immer jünger werden (vgl. z.B. Spiegel-Artikel "Notausgang für kaputte Seelen" 15/1993). Rückfragen bei Vertreterlnnen von Großstadtjugendämtern haben allerdings die Aussage, daß immer mehr und immer jüngere Kinder ohne Ausweich- und Rückzugsmöglichkeiten auf der Straße (z.B. im Bahnhofsmilieu) leben, nicht bestätigt. Die Zahl der obdachlosen Kinder wird als eher klein eingeschätzt. Wichtig im Zusammenhang mit einer seriösen Diskussion ist also eine deutliche Unterscheidung zwischen den Ablösungskonflikten älterer Jugendlicher (16- bis 18jährige) und den Lebenssituationen von Kindern (12- bis 14jährige). Die Bahnhofsszene, die Straße wird - als Treffpunkt bzw. Lebensort - nach wie vor eher durch ältere Jugendliche (in der Ablösungsphase) und junge Erwachsene geprägt.
4. Das plakative Bild von den Straßenkindern ist auch deshalb trügerisch, weil es hier in Wirklichkeit nicht um "klassische" Obdachlosigkeit geht. Dies entspricht auch den Feststellungen von Sozialarbeiterlnnen des Frankfurter "sleep in": "lch möchte in dem Zusammenhang weder bei ausländischen noch bei deutschen Jugendlichen und jungen Menschen von der klassischen Obdachlosigkeit sprechen. Also diese klassische Obdachlosigkeit, die man bei Berbern kennt oder bei älteren Menschen. Die sind völlig rausgefallen und müssen ohne ein Dach über dem Kopf leben. Unsere Kinder und Jugendlichen leben nicht über einen so langen Zeitraum ohne Obdach. Es sind bei uns sehr wenige gewesen, die über mehr als zwei Monate wirklich draußen waren und über uns zum Jugendamt vermittelt werden mußten." (M. Zimmermann-Freitag, in: taz v. 24.7.1993)
Dies schließt natürlich nicht aus, daß in einer Reihe von Fällen von "verdeckter Wohnungslosigkeit" gesprochen werden kann, nämlich immer dort, wo die gegebene Wohnsituation den Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird. Hierzu gehört beispielsweise, daß immer mehr Familien in unzulänglichen Wohnsituationen leben, Kinder durch Hotel- bzw. Containerunterbringungen (Asylbewerberlnnen, Umsiedlerlnnen) in kinder- bzw. familienfeindlichen Umwelten aufwachsen müssen .
5. Das Reden von den Kindern auf der Straße bzw. der Flucht unterscheidet nicht mehr zwischen denjenigen, die mangels Alternativen ihren Lebensmittelpunkt an ungeschützten Orten, auf der Straße, haben und jenen, die die öffentlichen Orte als Szenetreff, als Freizeitort, nutzen.
So sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß die Bahnhofsszenen etc. für Kinder und Jugendliche große Anziehungskraft haben. Dies jedoch nicht im Sinne eines frei gewählten oder erzwungenen Lebensmittelpunktes ("Der Schlafsack liegt im Schließfach."), sondern im Sinne eines Szenetreffs (ein Ort, wo etwas los ist). Dies ergibt sich insbesondere aus den Möglichkeiten, dort etwas zu erleben (action), Gleichgesinnte zu treffen (Geselligkeit) und auch Akzeptanz und Nähe (Beziehung) zu erfahren. Mit ihren sprunghaften Aktionen, den Unberechenbarkeiten, den kleinen (und großen) Abenteuern, Risiken, den Gefahren und Herausforderungen bietet diese Szene offensichtlich attraktive Alternativen zu der oft eintönigen und deprimierenden und von Mißerfolgserlebnissen geprägten - Tristesse des Alltags.
Damit geraten jugendliche (subkulturelle) Szenen ins Blickfeld der Öffentlichkeit und wird auch sichtbar, daß es Kinder und Jugendliche gibt, die offensichtlich relativ ungesteuert vom Elternhaus etc. einen großen Teil ihrer freien Zeit an öffentlichen Orten in selbst gewählten Cliquen verbringen.
6. Die bisherigen Anmerkungen sollen nun keinesfalls die Bedeutung bzw. Brisanz des Problems insgesamt in Frage stellen. Es sollte hiermit lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, daß es zuverlässiger Recherchen und quantitativer Bestimmungen bedarf, um die handlungsrelevanten Quantitäten und Anforderungen an die Jugendhilfe genauer zu bestimmen. Auch wenn es in Wirklichkeit keine 40.000 Kinder sind, die im "Milieu", auf der Straße leben, so besteht doch kein Zweifel, daß die Lebenssituation dieser Kinder und jüngeren Jugendlichen (10 - 15 Jahre) nicht selten dramatisch und von vielfältigen Gewalt-, Mißbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen geprägt ist und diese Kinder und Jugendlichen eine große Herausforderung an die Jugendhilfe darstellen.
7. Der Hinweis auf die Verantwortlichkeit von Jugendhilfe gewinnt vor dem Hintergrund noch an Brisanz, daß der größte Teil der in Bahnhofs- und Straßenmilieus, am Rande bzw. in der lllegalität lebenden Kinder und Jugendlichen aus Betreuungsverhältnissen der Jugendhilfe stammt. Hier geht es in der praktischen Arbeit also nicht primär um die Sicherung bzw. Schaffung eines "Obdachs", sondern um die Reintegration in (befriedigende) Betreuungs- und Lebenssituationen, also um die Überwindung von Heimat- und Beziehungslosigkeit, nicht schlicht um die Vermeidung von Obdachlosigkeit!
Es scheint so, daß eine Reihe der in der Szene lebenden Kinder und jüngeren Jugendlichen sich auf die "klassischen" gruppenpädagogischen Angebote nicht (mehr) einlassen können oder wollen. Auf der anderen Seite ist die Verselbständigungshilfe im Rahmen flexibler Betreuungen keine altersentsprechende Hilfe. Für die 12- bis 15jährigen Kinder und jungen Jugendlichen sind daher neue Betreuungsangebote zu entwickeln. Verselbständigung kann für diese Altersgruppe kein primäres pädagogisches Ziel sein. Vielmehr müssen soziale Beziehungen und soziale Bindungsfähigkeit ermöglicht und gepflegt werden. Es muß Versorgung bereit gestellt werden und es muß der Schutz der Kinder vor Gefährdungen organisiert werden.
8. Um die Kinder und Jugendlichen zu erreichen, die aus ihren bisherigen Lebenskontexten (Familie oder Heim) ausgebrochen sind und nun in über weite Strecken auch illegalen und gefährlichen Szenen leben, sind niedrigschwellige und akzeptierende Ansätze in der Jugendhilfe mit dem Ziel Vertrauens- und Betreuungsverhältnisse aufzubauen und zu stabilisieren erforderlich. Hierzu gehören Streetworkangebote, offene Beratungsstellen und Anlaufpunkte in Szenenähe. Aufgabe dieser Dienste wäre es vor allem herauszufinden, aus welchen Kontexten heraus die Kinder und Jugendlichen in die Milieus gekommen sind, in welchem Umfang Chancen zur Reintegration bestehen bzw. welche Alternativangebote für die weitere Entwicklung erfolgversprechend sein konnten.
9. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, daß - gerade mit Blick auf die "Straßenkinder" - in der politischen Diskussion zunehmend häufiger die "geschlossene Unterbringung" von sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Jugendhilfeangeboten gefordert wird und damit die alte- Kontroverse um Integration bzw. Ausgrenzung erneut in aller Schärfe aufbricht. Begünstigt auch durch restaurative Tendenzen im allgemeinen politischen und sozialen Leben werden wieder Argumente "gesellschaftsfähig", die in der gefängnisähnlichen Kasernierung von Kindern und Jugendlichen ("geschlossene Unterbringung", verharmlosend auch "gesicherte Unterbringung" genannt) eine notwendige Alternative zu einer offenen und reformorientierten (angeblich gescheiterten) Sozialarbeit zu erkennen glauben. Es sind alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, diesen restaurativen Tendenzen entgegenzutreten.
Literatur
Allert, T.: Auto-crashing. Eine Fallstudie zur jugendlichen Selbst- und Fremdgefährdung, in: Neue Praxis, H. 5/1993, S. 393 - 414
Birtsch, V. u.a. (Hrsg.): Autocrashing, S-Bahn-Surfen, Drogenkonsum Analysen jugendlichen Risikoverhaltens, IGFH-Dokumentation, Frankfurt 1993
Elger, W. u.a.: Ausbruchsversuche von Jugendlichen - Selbstaussagen, Familienbeziehungen, Biographien, Weinheim/Basel 1984
F., Christiane: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Hamburg 1978
Jordan, E. Trauernicht, G.: Ausreißer und Trebegänger. Grenzsituationen sozialpädagogischen Handelns, München 1981
Langhanky, M.: Annäherung an Lebenslagen und Sichtweisen der Hamburger Straßenkinder, in: Neue Praxis, H. 3/1993, S. 271-277
SPIEGEL, DER: Notausgang für kaputte Seelen - über das Elend deutscher Straßenkinder, 15/1993, S. 84 - 90
SPIEGEL, DER: Monster im Ziegenstall, 28/1993, S. 104 - 109
STERN: Die Leipziger Trümmer-Kinder - Eine Generation geht verloren, 34/1993, S. 14-21
Trauernicht, G.: Ausreißerinnen und Trebegängerinnen. Theoretische Erklärungsansätze, Problemdefinition der Jugendhilfe, strukturelle Verursachung der Familienflucht und Selbstaussagen der Mädchen, Münster 1989
ZElT-Magazin: Endstation Straße, 49/1986, S. 54 - 63
in: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. 37. Jahrgang. Nr. 1/95, Bielefeld 1995, S. 2 - 3.
Ulrike Helwerth
Vagabundin des Denkens
Zum 20. Todestag von Hannah Arendt.
Einige Anmerkungen zu ihrer feministischen Rezeption
Werk und Person von Hannah Arendt stehen derzeit hoch im Kurs. Über die politische Theoretikerin, früher oft für altmodisch oder konservativ erachtet, wird geforscht und geschrieben wie noch nie. Kaum ein Kongreß, keine Tagung, wo ihr Name nicht mindestens einmal fällt. Ihre Schriften sind zu einem Steinbruch geworden, aus dem nach Belieben Stücke herausgebrochen werden.
Auch bei Feministinnen ist Hannah Arendt en vogue, obwohl sie sich für die "Frauenfrage" nie besonders interessiert hat. Das rührt zunächst aus der schlichten Tatsache, daß es überhaupt so wenig bedeutsame Vordenkerinnen gibt. Hannah Arendt, Schülerin, Freundin und Geistesgefährtin großer Männer, ist eine der wenigen, denen die Ehre zuteil wurde, in den Kreis der "Klassiker" politischen Denkens aufgenommen zu werden. So war sie die erste Frau, die 1950 an der katholischen University of Notre Dame eine Vorlesung halten durfte. Drei Jahre später gelang ihr das gleiche in Princeton. Dort erhielt sie mit 53 Jahren auch ihre erste ordentliche Professur. Ihren Status als Alibi- oder Ausnahmefrau aber liebte sie überhaupt nicht. Über ihre Situation unter den Princeton-Männern schrieb sie: "Bei der Abschlußfeier und leicht beschwipst erklärte ich den dignified gentlemen, was ein Ausnahmejude ist, um ihnen klarzumachen, daß ich mich nicht notwendigerweise als Ausnahmefrau gefühlt hatte."
Hannah Arendt begriff sich vor allem als Jüdin. "Judesein" war für sie "unbezweifelbare Faktizität" ihres Lebens. Und ihre Erfahrungen mit Verfolgung, Flucht und Exil festigten in ihr das Bewußtsein, "Paria" zu sein - Ausgestoßene, Entrechtete. Nicht nur darin sah sich in einer Linie mit Rahel Varnhagen, der deutschen Jüdin der Romantik, und mit Rosa Luxemburg, ihrer "Heldin der Revolution": Außenseiterinnen, Grenzgängerinnen, mit denen sie sich intellektuell auseinandersetzte und tief verbunden fühlte: Bewußte Paria - Weltbürgerin und Heimatlose zugleich. Ein Selbstbild, das vielen Feministinnen vertraut ist, in dem sie sich wiederfinden.
Hannah Arendts Heimat war das Verstehen. ("Männer möchten immer furchtbar gerne wirken, ich möchte verstehen.") Ihr "leidenschaftliches Denken" aber läßt sich keiner akademischen Schule oder politischen Richtung zuordnen. Es ist voller innerer Widersprüche, Inkonsistenz und Eigensinn. Einmal schrieb sie: "Sie fragen mich, wo ich stehe. Ich stehe nirgendwo. Ich befinde mich mit meinem politischen Denken auf keiner heutigen oder sonstigen gängigen Linie. Nicht etwa, weil ich besonders originell sein möchte - es ergibt sich immer so, daß ich irgendwie nicht hineinpasse."
Allein diese Unangepaßtheit und ihr Anspruch auf "Selbstdenken" machen sie zum Vorbild. Außerdem nimmt sie in ihrer distanzierten Haltung gegenüber der institutionalisierten (männlichen) Wissenschaft spätere feministische Kritik in gewisser Hinsicht vorweg. Hannah Arendt war eine "Vagabundin politischen Denkens" schreibt die österreichische Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky. Gerade dieses geistige Umherschweifen, diese Unbestimmbarkeit, aber macht sie heute attraktiver denn je. Und die Subjektivität, die sie sich in ihrem Denken erlaubte, die Betonung des Narrativen, des "Story-telling".
Hannah Arendt verdanken wir eine hervorragende Analyse totalitärer Herrschaftssysteme, die nach dem Zusammenbruch der bipolaren Nachkriegsordnung wieder große Aktualität besitzt. Mit der überall wachsenden Gewalt und Diskriminierung geht auch ein Rückschlag gegen weibliche Freiheiten einher. Immer wieder hat Hannah auf den Zusammenhang von Machtverlust und zunehmender Gewalt hingewiesen. Macht und Gewalt waren für sie antagonistisch: Wo die eine herrscht, kann die andere nicht existieren. Dabei faßte sie Macht positiv: nicht als Herrschaft über andere, sondern als Vermögen zum politischen Handeln, im Sinne eines dialogischen und konsensualen Miteinanders. Hier liegt ein anderer wichtiger Ansatzpunkt für das große Interesse an ihr. Denn ähnliche Ansprüche erheben auch feministische Theorie und Praxis. Im Mittelpunkt des Arendtschen Handlungsmodells steht der Begriff der Pluralität. So heißt es in der "Vita activa": "Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird." Von Pluralität auszugehen heißt anzuerkennen, daß es viele und unterschiedliche Menschen gibt, heißt, diese Differenzen - in Meinungen und Interessen nicht nur zuzulassen, sondern beim Miteinander-Handeln positiv mitzudenken.
Feministinnen, die vom postmodernen Differenzgedanken umgetrieben werden, finden heute in Hanna Arendt eine "unüberspringbare" Vordenkerin, wie es jüngst die Berliner Philosophin Christina Thürmer-Rohr formulierte. Sie sei eine der "glaubwürdigsten Garantinnen des Differenzgedankens", "unausweichlich" auch bei der Suche nach einem neuen feministischen Selbstverständnis jenseits von "politischem Universalismus" und "totalisierenden Tendenzen". Nun machte Hannah Arendt, wie gesagt, aus ihrer Abneigung gegenüber feministischen Ideen keinen Hehl. (Eine Rezension von Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" lehnte sie zum Beispiel ab, weil sie das Werk schwach, unreflektiert und humorlos fand!) Schließlich war ihr jede Form von Identitätspolitik suspekt. Auch ihre persönliche Entwicklung diskutierte sie nicht gerne im Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau. Auf der einen Seite kokettierte sie mit ihrem "altmodischen" Rollenverständnis, auf der anderen reklamierte sie für sich selbstverständlich eine Freiheit, die das alte Geschlechterrollenkorsett sprengte. Außerdem beharrte sie auf einer strikten Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Das machte sie für die Geschlechterverhältnisse weitgehend blind. Die Frauenfrage hielt sie für eine soziale Frage, und der soziale Bereich war für sie kein Ort für politisches Handeln. (Das Private ist politisch - dieser Leitsatz der neuen Frauenbewegungen hätte sie zutiefst indigniert.) So sehr sie mit den Protestbewegungen der sechziger Jahre in den USA und Europa sympathisierte, so fragwürdig blieb ihr die "Women's Liberation". Auf einer deren Versammlung soll sie gesagt haben: "Die wahre Frage lautet doch: Was werden wir verlieren, wenn wir gewinnen?"
aus: * die tageszeitung, Dienstag, 5. Dezember 1995
Ulrike Helwerth fing 1985 bei der taz als Korrespondentin aus der schwäbischen Provinz an. 1989 kehrte sie als Frauenredakteurin zu ihrer Lieblingszeitung zurück. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit 1992 als freie Journalistin rund um das Thema "Frauen".