Verachtet und gemieden, als er noch lebte, dazu oft geschlagen und immer wieder festgenommen, fand der Berliner Stadtstreicher Paul Sanow plötzlich Beachtung, als er völlig, entkräftet in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und dort starb. Er fand Beachtung, nicht weil sein Sterben irgendwie ungewöhnlich gewesen wäre, sondern weil ein Geistlicher die Menschenverachtuag nicht einfach hinnehmen wollte, deren Opfer Sanow, seiner Meinung nach, geworden war. In einer provozierenden Todesanzeige formulierte Pfarrer Gundolf Herz sein Unbehagen so: Am 15. März 1980 verstarb Paul Sanöw, genannt Mause-Paul, im Alter von 54 Jahren. Er lebte seit rund 25 Jahren am Bahnhof Zoo. Er war beliebt und wurde oft geschlagen. Nach seiner 33. Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs hat er nun eine Heimat gefunden. Viele haben zu seinem Tod beigetragen."

Pfarrer Herz, lange Jahre selbst in der Obdachlosenhilfe tätig, setzte schließlich auch durch, daß Mause-Paul ein ordentliches Begräbnis erhielt und nicht, wie in solchen Fällen üblich, anonym beigesetzt wurde. Einen Monat nach seinem Tod versammelten sich die Kumpel vom Bahnhof Zoo, Sozialarbeiter und Neugierige auf dem Friedhof Ruheleben, um Sanow zu begraben.

„Als Paul noch lebte", wunderte sich denn auch einer seiner Kumpanen, „hat sich keiner um ihn gekümmert. Wo kommen jetzt bloß die vielen Leute her?" Neben den -Trauergästen waren zwei Fernsehteams erschienen, und auch die Berliner Zeitungen wollten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen, denn nach gängigen journalistischen Regeln ist vor allem das Spektakuläre berichtenswert. Und daß jemand Schnaps in ein offenes Grab schüttet, kommt nun mal nicht alle Tage vor. Mit dem alltäglichen Leid der Menschen hingegen tun sich die Medien oft weit schwerer.

Wenig ist über Paul Sanows Leben bekannt, ehe er vor rund 25 Jahren den Bahnhof Zoo zu seiner Heimat machte. Als gelernter Bäcker und Konditor hatte er durchaus einmal eine sogenannte „bürgerliche" Existenz, einen ordentlichen Beruf, aber nach dem Tode seiner Frau muß er irgendwann den Boden unter den Füßen verloren haben, und aus dem Bäcker Paul Sanow wurde der Bahnhofspenner Mause-Paul. öfter soll er auf dem Bahnsteig darauf gewartet haben, daß ihn seine Tochter mit den Enkelkindern besuchen kommt. Er wartete vergeblich, und es ist nicht einmal sicher, ob die kleine Familie, die er da erwartete, mehr war als nur ein Traum.

„Geprügelt und geschlagen*, sag«! ,'Pfarrer Herz in seiner Trauerrede, „wurde er nicht nur von den angetrunkenen Gefährten, sondern auch im Rahmen, der Anwendung .unmittelbaren Zwanges', wie das so schön im Amtsdeutsch heißt." Denn immer wieder wurde er von der Polizei aus dem Bahnhofsbereich entfernt, die Anwesenheit von Obdachlosen ist dort unerwünscht. Was man ihm vorwarf war Hausfriedensbruch. Aber wo hätte er hingehen sollen?

Trotz jahrelanger Bemühungen fehlt in Bahnhofsnähe eine Beratungsstelle, fehlen Übernachtungsmöglichkeiten für Menschen wie Paul Sanow, die nicht wissen wohin. So bleiben nur die Bahnhofstoiletten als Schlafplätze. Für Pfarrer Herz ist es schwer begreiflich, „wie juristisch geschulte Menschen, die doch auch ein Herz im Leibe haben, dazu kommen können, Anzeigen zu verfolgen, die ein erneutes Tieferhineinstoßen ins Elend bedeuten, einen Akt der strukturellen Gewaltanwendung gegen wehrlose Menschen."

Bedenklich erscheint ihm auch, daß im Dikkicht der Behördenzuständigkeit die Versuche, eine verantwortungsvolle Sozialarbeit zu betreiben, immer wieder steckenbleiben, daß, obwohl Mittel zur Verfügung stehen, der hinhaltende Widerstand verschiedener Ämter die Aufnahme der Arbeit verhindert. Pfarrer Herz nahm bei dieser bitteren Beschwerde auch die eigene Kirche nicht aus. „Dabei", so sagte er, „ist die Zurückhaltung den Obdachlosen gegenüber nachvollziehbar", auch er habe Schwierigkeiten, Menschen wie Mause-Paul unbefangen zu begegnen. Und er frage sich, ob er selbst, seine „Kräfte und Fähigkeiten immer an der richtigen Stelle und nachdrücklich genug" eingesetzt habe.

Er forderte: deshalb die Trauergäste auf, ihre eigene Einstellung zu den Menschen zu überprüfen, die nicht von vornherein geachtet sind* und er bat, Paragraphen nicht formal auszulegen, sondern nach ihrer menschlichen Anwendung zu fragen. Im Anschluß an diese Predigt, die immer wieder von Zwischenrufen unterbrochen wurde, ließ Pfarrer Herz für Mause-Pauls Grabstein sammeln.

Am folgenden Tag berichtete die BZ in einem groß aufgemachten Bericht von der Beerdigung, dabei wurde behauptet, daß das eingesammelte Geld für den Ankauf von Heroin verwandt worden sei. Pfarrer Herz empörte sich und versicherte, den gesamten Betrag erhalten zu haben. Drei Tage später setzte die BZ ihre Berichterstattung mit dem offenen Brief eines Kriminalbeamten fort. „Herr Pastor", heißt es da, „Sie fordern Obdach für Nichtseßhafte am Bahnhof Zoo. Warum helfen Sie nicht? öffnen Sie Ihre Büros und Ihre Kirche. Nehmen Sie es dort hin, daß man sich in allen Ecken erbricht und uriniert. Wirklich Obdachlose finden immer ein Dach über dem Kopf. Es kann aber nicht hingenommen werden, daß sich Alkoholiker, Räuber und Diebe im Bahnhof Zoo einnisten. Herr Pfarrer! Mause-Paul ist gestorben, weil die, die ihm helfen wollten, nur leere Worte für ihn hatten. Hilfe gaben sie ihm nicht. Herr Pfarrer! Reden Sie nicht so viel, handeln Sie!" Eine Aufforderung, die wohl eher an andere als an Pfarrer Herz allein gerichtet sein sollte.

Jörg Reckmann

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