Während der Recherchen zu diesem Text rief ein Pförtner des Rathauses Neukölln an. Ob wir nicht eine aktuelle Übersicht über die Kältehilfehilfeangebote in diesem Jahr hätten. In den letzten Tagen hätten immer wieder Obdachlose nach einem Schlafplatz gefragt. Und obwohl im Land Berlin andere Menschen für derartige Auskünfte bezahlt werden, haben wir dem Manne die von uns zusammengetragenen Informationen gefaxt. In früheren Jahren, sagte er uns noch, hat er sich privat den strassenfeger gekauft, um kompetent Auskunft zu geben.
Die Kältehilfe ist, wie der größte Teil der Wohnungslosenhilfe, in Berlin seit 1995 Sache der Bezirke. Spätestens 2003 ist bei den Bezirken jedoch, was die Sparlasten betrifft, das Ende der Fahnenstange erreicht. Uns interessierte, wie die Bezirke damit umgehen. Zweiter Ort der Recherche war die Liga der freien Wohlfahrtsverbände, die seit 1996 für das Land Berlin treuhänderisch Zuwendungsmittel in den Bereichen Gesundheit und Soziales umsetzt, und zwar mit 18 Millionen Euro im Jahr nicht wenig. Vier Millionen fließen (neben 20 Millionen Euro Sozialhilfemittel) in die Wohnungslosenhilfe. Aber fließen sie auch an die richtige Stelle? Und dann wollten wir noch wissen, ob sich die Senatsverwaltung für Soziales nicht auch einmal zur Kältehilfe äußern mochte. Sie mochte, aber nicht aus eigenem Antrieb. Vorweggenommenes Fazit der Recherche: Noch nie war Kältehilfe in Berlin so unpolitisch und so unkoordiniert wie heute.
Die Bezirke
In Berlin gibt es zwölf Bezirke. Nach dem Obdachlosenrahmenplan von 1999 sollen sie ein regionales Angebot an Kältehilfeplätzen sicherstellen. Sie sollen den regionalen Bedarf erheben und sich mit den benachbarten Bezirksämtern abzustimmen. Die stichprobenartige erfragte Praxis sieht anders aus: Die Innenstadtbezirke halten viel Kältehilfe bereit, viele Außenbezirke wie Spandau, Tempelhof und Zehlendorf sparen sich die Ausgabe bereits seit Jahren – obwohl 1995 alle Berliner Bezirke Kältehilfemittel nach einem Schlüssel in ihre Haushalte zugewiesen bekamen. Aber auch Mitte hat dieses Jahr erwogen, die „kleine“ Kältehilfe (Nachtcafes, Essensversorgung) wegfallen zu lassen, während Charlottenburg Problembewusstsein zeigt: „Für eine optimale Versorgung müsste der Umfang der Kältehilfe deutlich erhöht werden“! In Kreuzberg gab es einen Konsens in der Bezirksverordnetenversammlung, auch in diesen Jahr wieder Kältehilfe anzubieten. Allerdings wurde hier - wie in der gesamten Stadt - aus Spargründen erst ab 1. November begonnen. Dies ist aber nichts Neues, denn schon jahrelang wird die Kältehilfe in Berlin verkürzt, von November bis März, gefahren.
Es ist kein Zufall, dass die drei befragten Innenstadtbezirke Mitte, Kreuzberg und Neukölln – alle mit schwieriger Sozialstruktur - zu den Initiatoren eines Gesprächs der SozialstadträtInnen mit der Staatssekretärin für Soziales gehören. Am 20. November soll es unter anderem um eine gerechten Verteilung der „Lasten“ für die Kältehilfe zwischen den Bezirken gehen. Denn: Mit der Einstellung der Kältehilfe durch bestimmte Bezirke verschwinden ja die Obdachlosen nicht, sondern sie gehen dann dorthin, wo es (noch) Notübernachtungen und Nachtcafes gibt.
Nach Einschätzung der Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner aber „gibt es im Moment überhaupt keinen Anlass, anzunehmen, dass die Kapazitäten der Kältehilfe geringer ausfallen werden, denn der Senat geht davon aus, dass wir auch in diesem Winter ausreichend Plätze zur Verfügung stellen können und dass gewährleistet ist, dass jede und jeder, die oder der einen Schlafplatz sucht, untergebracht werden kann.“ Diese Zählung betrachtet die Kältehilfe als reines Mengenproblem. Da wollen wir doch nur hoffen, dass dieser Winter nicht allzu streng ausfällt und dass frostige Tage wie Anfang November selten bleiben. „In diesem Herbst hatten wir bereits bis zu 90 Übernachtungen pro Nacht in der Kältehilfe“, berichtete Ulrich Neugebauer, Sozialarbeiter in der Notübernachtung Lehrter Straße 68 der Stadtmission. Diese Zahl wirkt umso pikanter, wenn man weiß, dass das Bezirksamt Mitte dort 60 Plätze finanziert, die anderen 60 die Stadtmission aber aus eigenen Mitteln und Spenden trägt.
Das Kältehilfetelefon – eine Privatangelegenheit der Diakonie?
Seit 1995 gibt es das Berliner Kältehilfetelefon, das Mensch und Bett zusammenzubringen soll. Noch 1998 wurde es von der Senatsverwaltung für Soziales dadurch unterstützt, dass die Senatsverwaltung die Kältehilfeliste von sich aus etwa 100 Adressaten – den Trägern der Wohnungslosenhilfe, den Bezirksämtern, BVG und S-Bahn, der Polizei und dem Bundesgrenzschutz, der Tagespresse sowie den Obdachlosenzeitungen zugestellt hat. Aber das ist lange her. Warum die Sozialverwaltung das Kältehilfetelefon links liegen lässt, wissen wir nicht. Aber sie tut es. Angeblich soll das Landesamt für zentrale soziale Aufgaben auf Anfrage die Kältehilfeliste herausgeben. Aber wer weiß das, wer kennt das Landesamt, und wer hat einmal versucht, es unter der angegebenen Telefonnummer 9028-0 zu erreichen? Wir sind kläglich gescheitert. Ein Mitarbeiter des Referats I D der Sozialverwaltung („Koordination und konzeptionelle Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe“) beschied uns sehr unwirsch, ob wir nicht wüssten, dass die Kältehilfe in der Zuständigkeit der Bezirke liegt. Der aktuelle Stand der Kältehilfe sei der Senatsverwaltung nicht bekannt. Die fachliche Überwachung der Arbeit des Kältehilfetelefons, sagte uns Herr Brose, sei Sache der Liga.
Und eine fachliche Überwachung des Kältehilfewegweisers und des Kältehilfetelefons tut Not, weil der Träger – das Diakonische Werk, das dafür Geld in ungenannter Höhe aus dem Ligavertrag erhält – seiner Aufgabe offensichtlich nicht gerecht wird. Die Kältehilfeliste ist immer unvollständig, Angebote sind falsch zugeordnet, die Website ist schlecht zu öffnen, und im Winter 2001 war das Kältehilfetelefon wochenlang nicht besetzt. Im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband – ebenfalls Liga-Mitglied – war man sehr schmallippig: Die „Betriebsoptimierung“ des Kältehilfetelefons sei im Fluss und wird mittelfristig wirksam werden. (Wir vermuten, dass die Frage nie diskutiert worden ist.) Man könne bezweifeln, so Herr Lachenmeyer, ob das Kältehilfetelefon überhaupt nützt. Möglicherweise wäre eine Plakatierung für die Verbreitung der Informationen besser geeignet. „Für die Liga ist momentan die Gretchenfrage, was überhaupt vom Liga-Vertrag übrigbleibt. Angesichts des Spardrucks ist es schwierig, strukturelle Fragen zu stellen.“
Herrn Pfahler, dem Referatsleiter Wohnungslosigkeit im Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg, ist hingegen keine Kritik von Nutzern der Kältehilfeliste bekannt: Im Gegenteil – das Diakonische Werk Neukölln-Oberspree biete mit der Website und dem allabendlich besetzten Kältehilfetelefon einen „tollen Service“. Die Verbreitung der Kältehilfewegweisers über das Internet reiche aus; schließlich habe ja heute jeder einen Internetzugang. Das Diakonische Werk verbreite die Informationen vor allem bei seinen Mitgliedern, bei denen die Kältehilfebedürftigen schließlich auflaufen. Die Bezirksämter z.B. benötigen keine Kältehilfeliste, schließlich seien die nach dem Berliner Polizeigesetz verpflichtet, Obdachlose „ordentlich“ unterzubringen. Das Diakonische Werk und alle anderen Wohlfahrtsverbände wollen die Obdachlosen „nicht in Subsysteme schieben, sondern sie ins Regelsystem der Versorgung integrieren.“ Merkwürdig: Die Fachstelle Obdachlosigkeit und die Sozialdienste in Mitte z.B. haben die Kältehilfeliste und geben die Informationen weiter.
Die Senatsverwaltung für Soziales (PDS)
Gabi Schöttler (SPD), Sozialsenatorin der verblichenen Großen Koalition, hatte zum Beginn der Kältehilfe im November 2001 wenigstens noch eine freundliche Presseerklärung veröffentlicht. Auf Grund der Information, dass die Sozialstaatssekretärin Petra Leuschner am 20.11.02 mit den Bezirken über die Zukunft der Kältehilfe in Berlin berät, versuchten wir, von Frau Leuschner zu erfahren, ob Kältehilfe und Obdachlosenpolitik allgemein überhaupt noch Gegenstand der Berliner Landespolitik sind. Eine Mitarbeiterin vertröstete uns mehrere Tage, um schließlich – spürbar erleichtert – anzubieten, der Redaktion die Antwort der Senatorin Heidi Knake-Werner auf eine Anfrage von Elfi Janzen (Die Grünen) zuzusenden.
Die Senatorin folgte nicht nur hinsichtlich der Anzahl der Kältehilfeplätze (ausreichend), sondern auch hinsichtlich der Verbreitung des Kältehilfewegweisers über das Internet (ebenfalls ausreichend) der Auffassung des Diakonischen Werks. Dann eine Überraschung: „Darüber hinaus werden die AG Leben mit Obdachlosen und das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg – aus Spendenmitteln finanziert – eine Papierform erstellen, die dann an die Tagespresse verschickt und den Trägern, die keinen unmittelbaren Zugang zum Internet haben, zur Verfügung gestellt wird. Wir gehen davon aus, dass mit dieser Angebotsübersicht eine ausreichende Information gewährleistet ist, so dass alle, die eine solche Hilfe benötigen, diese auch erhalten.“
Nun, nach unseren Informationen hat die AG Leben mit Obdachlosen die Papierversion nach dem Teilausfall des Kältehilfetelefons in 2001 mühsam durchgesetzt, und das Diakonische Werk hat keine „Spende“, sondern einen Druckkostenzuschuss aus seinen Zuwendungsmitteln geleistet. Wie dem auch sei, gedruckte Kältehilfewegweiser sind notwendig, vor allem für die Obdachlosen selbst.
Fazit
In Berlin leben momentan etwa 6000 registrierte, d.h. von den Sozialämtern betreute Wohnungslose. Wenn wir das Verhältnis „normaler“ Sozialhilfeempfangender zu eigentlich Sozialhilfeberechtigten heranziehen, können wir von noch einmal 6000 Obdachlosen ausgehen. Diese Menschen scheuen aus meist sehr guten Gründen den Weg zum Sozialamt und ziehen sog. niedrigschwellige Hilfen vor. Kältehilfe ist niedrigschwellig und solange notwendig, wie die Gesellschaft nicht beschließt, die Obdachlosen verrecken zu lassen. Noch ist es nicht soweit. Kältehilfe ist aber auch ein Indiz dafür, dass das „Regelsystem der Versorgung“ längst nicht alle Obdachlosen erreicht, und das ist gefährlich. Denn in der Wohlfahrtsindustrie ist nur mit „Integrationsmaßnahmen“ für Obdachlose, finanziert aus Landes- und Sozialhilfemitteln, richtig Geld zu machen. An dieser Stelle hat Frau Knake-Werner den Liga-Verbänden Anfang November den Krieg erklärt: Ab Mai 2003 sollen die Vergütungen auch für die Obdachlosenhilfe auf Hamburger bzw. Bremer Niveau abgesenkt werden. Eine öffentliche Auseinandersetzung findet nicht statt, weil der Ligavertrag den Blicken der Öffentlichkeit entzogen ist. Die Verbände reagieren je nach Temperament resignativ oder mit giftigen Seitenhieben auf das „Subsystem“. Bewegung geht momentan nur von den Bezirken aus.
Kerstin Herbst
Editorische Notiz: Dieser Beitrag ist ein Klassiker, weil er eine kritische Auseinandersetzung mit der Wohnungslosenhilfe versucht. Er wurde im Spätherbst 2002 im Strassenfeger abgedruckt, der genaue Beleg wird hier demnächst nachgetragen. Auch die Links gab es damals noch nicht, sie wurden nachträglich eingefügt. Stefan Schneider - Berlin 14.12.2010