"Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann."
Josef Kardinal Frings: Silvesterpredigt vom 31. Dezember 1946 in der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl
Weitere Erläuterungen dazu siehe:
http://www.frings-gesellschaft.de/leben-und-werke/sylvesterpredigt/
Nachbemerkung:
Ich hatte dieses Zitat aus der unmittelbaren Nachkriegszeit 1946 bereits in den 1990er Jahren gefunden und aufbewahrt, weil es zeigt, dass auch ein anderer Umgang mit Dingen möglich ist als die uns bekannte Form, devot zuzusehen, ob es möglich ist, dieses käuflich zu erwerben oder tauschen zu können, vor allem aus der Perspektive von Menschen, die gar nicht haben, um Dinge kaufen oder tauschen zu können.
Ja, wir leben gegenwärtig wieder in Zeiten, in denen viele Millionen Menschen in genau dieser Not sind, von der Frings spricht. Und es ist so viel da, dass es möglich sein sollte, sich das zu nehmen, was zum Leben und zum Erhalt der Gesundheit gebraucht wird.
Berlin, 20.08.2014
Stefan Schneider
[Abbildung] Quelle: WikiCommons, URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dd/Hochdorf_Privateigentum_1.JPG
Die Befriedigung des Bedürfnisses für Obdach wird einen Maßstab abgeben für die Art, in welcher alle übrigen Bedürfnisse befriedigt werden.
Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: MEW, Bd. 2, 297
Aus dem Tagebuch eines Bettlers
Ich klingelte. Ich bettelte um Brot.
Um alte Sachen.
Ich beschrieb anschaulich die Not.
Ich kann so eine jämmerliche Miene machen.
Meine Familie sei teils hungrig, teils tot.
Nur ein kleines, hartes, verschimmeltes Restchen Brot,
womit ich eigentlich Geld meinte.
Der Herr verneinte.
Ich versuchte diverse Gebärden.
Ich kann so urplötzlich ganz mager werden.
Ich taumelte krank.
Ich - stank.
Da wurde ich gepackt.
Fünf Minuten war ich nackt.
In einer Wanne im Bad,
bei dreizig Grad.
Ich weinte. - Ich wußte:
Hier half kein Beteuern.
Man fing an, meine Kruste
herunterzuscheuern.
Dieser Herr war ein Schelm.
Ich wurde auf die Straße gestoßen.
Ich fand mich in schwarzen Hosen,
Lackschuhen, Frack und Tropenhelm.
Ich fand kein Geld. - Mir wurde bang,
ich fand nur ein Trambahn-Abonnement.
Und ich ging auf die Reise,
fuhr mit der Sechzehn stundenlang,
immer im Kreise.
Was halfen die noblen Sachen.
Ich bettelte. Probeweise.
Ich kann so eine kummervolle Miene machen.
Aber die Leute begannen zu lachen
und die Haltestelle zu verpassen.
Ich sann auf einen Schlager.
Ich wurde urplötzlich ganz mager.
Ich wurde gewaltsam aus der Trambahn
heruntergelassen.
Da waren die Anlagen und Gassen
auf einmal ganz traurig und fremd.
Als ich aus dem Pfandhause kam,
Trug ich nur noch Hose, barfuß und Hemd.
Ich mußte mir einen Anzug leihen.
Ich ging mit der Gräfin Mabelle,
die eigentlich eine Büffetmammsell
ist und gesucht wird, in ein Hotel.
Wir speisten: Hirschbraten mit Knickebein.
Wir sangen zu zwei'n:
"Wer hat uns getraut-..."
Und zuletzt, ganz laut:
"Wohlauf noch getrunken den funkelden Wein..."
Nacht ohne Dach
Nacht mit Lichtern.
-Café-Garten am Rande der Stadt -
Wo jeder Gegenstand die Seele von Dichtern
oder versöhnende Hilflosigkeit hat.
Und Menschen kommen und gehen.
Und es lügt ein Getu und Getön.
Aber Tischtücherzipfel wehen,
Und das ist schön!
Und dann ist auch schön: ein Paar
verliebter Jugend. -
Nacht ohne Dach...
Erinnerung, rufe nicht wach,
wie schlimm eine Nacht ohne Dach
einst für mich war.
Nachtrag: Ich glaube, ich mag Ringelnatz nicht. Warum, weiss ich noch nicht so genau. Auf jeden Fall hat aber jemand herausgefunden, das auch Ringelnatz etwas geschrieben hat zum Thema Penner bzw. Leben auf der Straße. Diese Texte haben den Weg auf meinen Computer gefunden und nach langen Jahren geduldigen Ausharrens veröffentliche ich sie hier an dieser Stelle.
Berlin, 20.08.2014
Stefan Schneider
Man ahnt...,
daß es nicht Schicksal ist, wenn Wohnungen fehlen, Mieten überhöht sind, Firmen pleite machen, Fabriken schließen, Menschen frei setzen.
Man weiß...,
daß die hausgemachte Lebenskrise gemeistert worden wäre, wenn zum Verlust der Frau, zur Trennung, Scheidung, nicht Verlust der Arbeit (den Schmerz im Alkohol ertränkt), Verlust der Wohnung (der Vermieter wollte halt nicht länger warten) hinzugekommen wäre.
Man erfährt...,
daß das Gerede (bisweilen selbst geglaubt und nachgefaselt) daß, wer arbeiten will, auch Arbeit findet, der pure Hohn ahnungsvoller Menschenverächter ist.
Man kennt...,
das Männerwohnheim, das zwar Obdach bietet, warmes Essen, aber die Chance auf den Arbeitsplatz unter Null versenkt (Chef, sehen Sie sich doch mal diese Adresse an) und daß auch nicht Heim im Sinne von daheim ist.
Man spürt...,
täglich den Zynismus der Bürokratie, den Egalismus der Mitmenschen, den verschämten Blick zur Seite jener braven Bürger, die das Gewissen quält, im Angesicht des Elends und der Not, mitten unter uns, in einem reichen Land, das im Überfluß Menschen auf der Straße hält.
Man ahnt...,
daß von der Politk, der jetzigen Regierung, den Mächtigen, Abhilfe nicht zu erwarten ist, solange nicht die Not der Schwachen die Macht der Starken untergräbt, das Elend der Ausgestoßenen, den Extremisten zuviel Zulauf bringt, die Wut der hochprozentig Betäubten zu viele Wahlprozente kostetf, die Verachtung der Schwachen diese zu starken Organisationen eint.
Man ahnt...,
daß man das Schicksal in die eigenen Hände nehmen muß.
Ein Text von den SchülerInnen des Bischöflichen Cusanus-Gymnasiums Koblenz, erstmalig veröffentlicht in: "Platte" Die Obdachlosen-Zeitung Rheinland-Pfalz. 3. Jahrgang. Ausgabe 6. Rheinland-Pfalz. Bingen/ Rhein 1995, S. 9.
[Nachbemerkung: Dieser Text hat mich berührt, als ich ihn im Jahr 1995 erstmalig gelesen hatte. Ich hatte ihn aufgehoben und gehofft, dass ich ihn eines Tages verwenden könnte. Nun räume ich im Jahr 2014 meinen Computer auf und veröffentliche ihn an dieser Stelle. Berlin, 18.08.2014, Stefan Schneider]
Heidelberg: Ein Jahr geht zu Ende....
und wieder werden Bilanzen gezogen, wie immer um diese Jahreszeit. Ob in der Politik, der Wirtschaft, in Neubauprogrammen oder Altbausanierungen, beim Arbeitsamt, bei den Ärzten und Kassen, bei den Banken und Handelsketten.
Alle ziehen sie Billanz. Was wurde erreicht? Was verfehlt? Was sagt die Statistik? Was sagen die Prognosen? Was bringt das nächste Jahr? In diesem Jahr, dem Millenniumsjahr, mit ganz grossen Erwartungen und Befürchtungen und von besonderer Wichtigkeit durchleuchtet.
Hat man aus Fehlern gelernt? Wird alles so schön bleiben wie es war?
Ja, alle ziehen sie Billanz. Auch die Obdachlosen. Billanz über das Leben, das sie führen, freiwillig oder unfreiwillig, sie gehört einfach dazu.
Wie sieht eigentlich das Leben im Laufe eines Jahres bei einem Obdachlosen aus?
Es ist ein harter Überlebenskampf Tag für Tag und dennoch kann ein Tag im Leben eines "Penners" so lang sein wie das Jahr eines Generaldirektors.
Für ein Großteil der Gesellschaft werden sie "Schmarotzer", "Störenfriede", "Penner" oder auch, sehr "mitfühlig" "arme Schweine" genannt.
Aber ist es nicht auch genau diese Gesellschaft, der diesen "Menschenkreis" erst produziert?
Die typische Situation im Alltag eines Obdachlosen: er sitzt in der Fußgängerzone und bettelt. Mensch, in Brot und Lohn und Wohnung kommt vorbei und meint, "geh arbeiten, kannste dir dein Geld auch verdienen".
Das geht nicht nur Obdachlosen in Deutschland so. So einfach läßt sich ein Urteil in ein paar Worte packen.
Und wer kennt ihn nicht, den Teufelskreislauf, keine Wohnung keine Arbeit, keine Arbeit keine Wohnung, hast du beides, hast du auch Geld, die Eintrittskarte zur Akzeptanz und Menschenwürde in der modernen Gesellschaft. Dabei sucht doch jeder Alkoholiker, Junkie oder was auch immer auf der Strasse das gleiche was alle suchen, ein bißchen Wärme und Geborgenheit, Liebe und zumindest einen Hauch von Respekt vor der eigenen Persönlichkeit.
Also ziehen wir Billanz: schnorren geht, manchmal auch klauen, die Zeiten sind für niemanden rosiger geworden. Die müde Mark im Schnorrtopf ist besser als nichts. Auch im Jahr 2000 wird es nicht anders sein, noch leuchten keine neuen Einsichten in das neue Jahrtausend hinein: es bleibt was war, die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher.
Verkäufer Henry Thormann, Heidelberg
- Peris, Dieter: Die Killler-Dogge auf dem Schwarzwaldhof und andere Geschichten. Bochum 1994
- Franck, Michel: Schön ist es auch anderswo. Über Vagagunden und sonstige Touristen. Paris 2000
- Oberhuber, Florian: Vagabundische Mobilität. Wien 2004
- Trapp, Jan: Soziale Nachhaltigkeit in Kommunen am Beispiel Wohnungslosigkeit. Trier 1999