Die Entdeckung des Monte Verita
Henri Oedenkoven, der Sohn eines Antwerpener Großindustriellen, und Ida Hofmann, eine ausgezeichnete Pianistin und Musiklehrerin an einem russischen Institut in Cettinje, trafen sich in einer österreichischen Naturheilanstalt. Beide waren gleich verzweifelt und angewidert von der Verlogenheit und Heuchelei in ihren Gesellschaftskreisen. Beide suchten nach einem Ausweg, beide verstanden sich sofort und schlossen innige und aufrichtige Freundschaft. Ein Naturarzt hatte Henri gerade von einer lebensgefährlichen Krankheit kuriert, und Henri schwor nun auf den Vegetarismus, den er für einen neuen Weg zur Gesundheit und Lebensfreude, überhaupt zur sittlichen und geistigen Erneuerung der Menschheit ansah. »Friede, Wahrheit und Liebe für das Leben des einzelnen und aller verheißend«, war Henris edler Gedanke.
Beide wurden einig, sich irgendwo abseits anzusiedeln, wo es viel Sonne, Früchte und Schönheit gab, um eine Kolonie Gleichgesinnter zu gründen und weiter zu wirken, über ihren Kreis hinaus, über die Grenzen hinaus, für die Befreiung der Menschheit von der erstarrten Lebensweise einer dahinsiechenden Gesellschaft.
Nach einigen Entdeckungsfahrten und vielem Suchen endeten sie auf dem Monte Verita und wählten den Berg zur Basis für ihr so innerlich gut gemeintes Experiment – das von Anfang an den Todeskeim in sich tragen mußte. Ihren himmelstürmenden Ideen fehlte, trotz Oedenkovens kluger Einsicht und seines Vaters Reichtum, die nüchterne und rein praktische Beurteilungskraft. [52]
Und doch kämpften sie imponierend aufrichtig und imponierend lange für ihre Überzeugung. Auch mehrere Teilnehmer hatten sich ihrem Plan begeistert angeschlossen. Einer von ihnen, der frühere Oberleutnant Karl Gräser, war von der doch zweifellos sympathischen Idee besessen, daß der Soldatenstand unmoralisch und Geld sündig sei. Er hatte den größten Teil seines ererbten Vermögens verschenkt, aber doch nicht vergessen, sich einen Notgroschen zu reservieren. Gesellschaftsmüde Naturmenschen kamen, Vegetarier und Rohköstler, in Kniehosen und barfüßig, mit langem Haar, das sie wild wachsen ließen. Immerhin waren sie harmlose und gutmütige Vertreter menschlicher Eigentümlichkeit. Anders verhielt es sich schon mit den ziemlich zweifelhaften Erscheinungen, die nun gleichfalls auftauchten und ein Gebiet unbegrenzter Möglichkeiten für ihre Faulenzerei witterten. Einer der frechsten Brüder dieser Sorte wanderte in einer langen, malerischen Tunika umher und trug ein ledernes Stirnband im Haar. Es wird erzählt, daß die Kinder in den abgelegenen südlichen Gegenden vor ihm niederknieten und glaubten, der Heiland wäre ihnen erschienen.
Diese aufdringliche und ziemlich skrupellose Erlöserfigur war ein Bruder des gewesenen Oberleutnants, mit Namen Gustav Gräser. Er trieb es aber doch zu bunt, wurde sehr bald aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und sah sich gezwungen, weiterzuwandern.
Bei Szittya ist im »Raritätenkabinett« dann über ihn zu lesen: »Thomas Heine, der 'Simplizissimus'-Zeichner, pumpte ihm nur unter der Bedingung etwas, daß er mit ihm mittrinke. Der arme Gustav wurde zum erstenmal in seinem Leben besoffen und, was noch grausamer ist, man [53] zwang ihn, im betrunkenen Zustand seine antialkoholischen Gedichte zu verkaufen.«
Den Aufstieg und Fall vieler solcher Apostel sollte der Berg noch erleben, auf dem sich jetzt neue Kräfte entfalteten und hart gearbeitet wurde. Männer und Frauen waren gleichberechtigt, hatten dieselben Verpflichtungen und führten alle vorkommenden Arbeiten gemeinsam aus. Es war heiliger Ernst für sie. Nicht nur eine bleibende Heimat wollten sie sich schaffen, sondern auch einen lebenden Beweis für ihre – in jener Zeit aufsehenerregenden – Theorien führen, die sich von der Ernährungsreform über Frauenrecht und freie Ehe bis zur Militärdienstverweigerung und zum Internationalismus spannten.
Aber es war der Berg, der in dem Film ihres Lebens zur Berühmtheit gelangen sollte, – sie selbst blieben vergessene Statisten.
Natürlich kann ich es nicht lassen, ich kann es nicht übers Herz bringen und muß nach den ersten paar Tagen im Tessin unbedingt zum Berg der Wahrheit wallfahrten.
Wieso?
Kein Außenstehender kann das begreifen. Denn das ist eine lange und ziemlich verwickelte Geschichte, die weder des Humors noch der Tragik oder Spannung entbehrt. Und diese Geschichte will ich hier erzählen, während ich mich auf den Weg mache und zum Monte Verita hinabsteige.
Hinab? Hinab!
Da haben wir es schon. Sagte ich nicht, es ist eine verwickelte Geschichte? Aber um nicht bezichtigt zu werden, daß ich mir schon ein gehöriges Rotwein-Augenmaß zugelegt hätte, sehe ich mich genötigt zu erklären: Da Fontan Martina in einer Höhe von genau 367 Metern liegt und der Monte Verita, aber auch ganz genau, 351,5 Meter hoch ist, bin ich gezwungen, zu ihm hinabzusteigen.
Einig?
Und nun will ich keine vernünftigen Einwände mehr hören. Denn wer redet hier von Vernunft, wer ist vernünftig im Tessin? Hier nehmen die Gedanken genau so seltsame Formen an wie die Wege, die sich winden und schlängeln und schnörkeln. Mein Lieber, das gehört mit zur [50] Tessiner Mentalität. Das Tessin liebt den Barockstil, es ist gefüllt mit Barock, – es ist barock! Und es ist bis heute noch nicht richtig aus der Barockzeit herausgekommen. Was sollte man beispielsweise sonst von einem Mann halten, dem es gleichgültig sein kann und auch wirklich gleichgültig ist, ob wir heute Sonntag oder Donnerstag haben, ein Mann, der überhaupt nicht ahnt, welcher Wochentag auf dem Kalender steht. Und dieser Mann meint aber absolut darüber informiert sein zu müssen, wieviel Uhr es ist, und kauft sich aus diesem Grunde nicht etwa eine Uhr – sondern ein Fernglas, um die Turmuhr deutlich erkennen zu können. Absurd? Barock? Das ist echt tessinerisch! Vielleicht sollte man sich nur genügend Zeit lassen, mal näher darüber nachzudenken.
Im Tessin hat man Zeit, viel Zeit. Man nimmt sie sich einfach. Und wenn es sich irgendwie machen läßt, mit heiterer Grandezza den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, so tut es der Tessiner. Wenn ein Haus abbrennt oder aus Altersschwäche zusammenfällt, dann wird daneben oder ein Stückchen weiter ein neues erbaut. Die Ruine darf stehen bleiben und malerisch aussehen.
Aber wir befinden uns auf dem Wege zum Monte Verita, und ein langes Stück dieses Weges führt auch hier über eine unverwüstliche Römerstraße. Im Laufe von zwei Jahrtausenden haben Menschenfüße diese Steine rund und glatt geschliffen. Da liegen sie und könnten viel erzählen, – aber wir lassen sie ruhig liegen und fangen unsere Geschichte im Jahre 1899 an: [51]
Da hat man sich ein halbes Leben lang in der Welt herumgetrieben – und auf einmal stockt der Atem vor Überraschung, ich werde ganz andächtig und stumm, die Augen blicken auf das Unfaßbare: da steht es wirklich und wahrhaftig, das immer Erträumte!
Zögernd nähere ich mich, lasse die Hand zärtlich über das rauhe Klippengestein der Mauern hingleiten. Der Anblick genügt nicht, ich muß es fühlen. Es ist wirklich da. Es ist alles zusammen da, alles – wie in einem Märchen der Wirklichkeit. Dieser Kranz von phantastischen Bauten, eingesponnen und versteckt in einem dichten Dschungel, hoch auf einem Vorsprung der Bergschrägung gelegen. Das existiert tatsächlich, was man sich mitunter in müden Stunden vorzustellen versuchte, erfüllt von luftigen Ahnungen und bunten Phantasien. Das gibt es also?
Ich habe es gefunden.
Vor mir liegt Fontana Martina, das geheimnisvolle Dorf.
Die Entdeckung ist überwältigend.
Ist es die unerklärliche Stimmung, dieses Verschmelzen von leuchtender Schönheit und dunklem Geheimnis, etwas zugleich Verlockendes und Drohendes, das so eigenartig stark berührt?
Selbst die Stille, diese beklemmende Stille, ist von My-[40,-Foto]

stik durchdrungen. Es ist keine gewöhnliche Stille. Es ist diese fast unmerklich knisternde Ruhe, die ein Geheimnis in sich birgt. Es ist das Schweigen, das niemals etwas verraten hat und sich niemals sein Wissen über das, was in ungewisser Vergangenheit hier vor sich ging, entreißen ließ.
Nur das monotone, schläfrige Summen der Insekten ist zu hören. Brütende Sonne sickert durch Dickichte, flimmert über Gestein, erhitzt die drückende Luft, die einem als heißer Pflanzenatem entgegenschlägt. Der Duft fremder Blumen und Früchte liegt in dieser Luft und – die Ahnung einer Vorzeit, die immer noch gegenwärtig zu sein scheint, die Spur von Menschen, die das hier einst formten und belebten und dann davongingen. Niemand weiß wann und wohin. Aber sie prägten das hier mit ihrem einstigen Dasein, und zwischen den düsteren Mauern ist ein unbestimmbarer Hauch von menschlichem Schicksal haften geblieben. Es liegt in der Luft und im Zittern fahler Schatten, im Glitzern der Steinwände. Alle Sinne schärfen sich aufnahmebereit.
Vergebens.
Hier flüstern keine Stimmen. Kein Laut ist vernehmbar, scheinbar lebt kein Mensch hier. Nur das flatternde Spiel großer farbiger Schmetterlinge und das schattenhafte Gleiten der Eidechsen, sonst keine Bewegung. Meine Augen saugen dieses Bild auf, ich sehe das alles wie im Traum.
Doch es ist so wirklich, daß es fast weh tut. So unwirklich schön, daß es sich schmerzlich einbrennt.
Was tut man in solchen Augenblicken der Begegnung mit dem Märchenhaften? Ich weiß es nicht. Ich stehe ergriffen da und sehe diese unverwüstlichen Mauern, aus dem silbrigen Gestein des Berges wie für die Ewigkeit errichtet. [41]
Massive Steindächer, aus großen, übereinander greifenden Steinplatten, mit dem matten Abglanz des Sonnenschimmers. Daneben schwarzgrüne Laubschatten, knorrige Stämme, die mit ihren Kronen in das lichte Blau greifen. Die goldgrün durchleuchteten Wedel riesengroßer Bananenblätter. Und das ewige Dunkel, das in den Ecken und Winkeln der Mauern kauert. Beschwörend und fanatisch spreizen die Palmen ihre Fächerhände zum Licht. In der Luft klebt der aufdringlich süße Duft der Feigenbäume. Und dieses eigentümlich filtrierte Dämmerlicht, das die Bambushecken hinter dem Gitter ihrer klaren und strengen Linien sammeln. Welche Farbenspiele überall, welche prächtigen Schattierungen von Grün zu Gold und von Grau zu Silber, von Blaßlila über Tiefblau zu Samtschwarz.
Wo die Ringmauer der Häuser eine schmale Öffnung freigibt, steht eine kleine Wegkapelle, ziemlich zerbröckelt. Das schmiedeeiserne Gitter wirft barocke Schattenkringel auf eine fast ausgelöschte Malerei im Hintergrund. Direkt daneben, von Sonne grell beleuchtet, die üppige Pracht mächtiger Hortensienbüsche, mit Blüten, größer als Menschenköpfe. Wie Feuerwerk brennen die kräftig orangeroten Sterne der Tigerlilien. Heiß und fiebrig sind die Farben der Blumen, kalt und hart behaupten sich die tiefen Schatten der Steinmauern. Durchquert man das Dunkel, legt sich klammer Hauch über das erhitzte Gesicht, wie abgestandene Zeit.
Der magische Ring der verwitterten Mauern schläft seinen Dornröschenschlaf und nimmt keine Notiz von mir. Keine lebende Seele scheint hier zu sein. Hilflos gleiten meine suchenden Blicke umher, auf und ab – über [42; Zeichnung]

Treppen. Überall Treppen, massive Steintreppen. Treppen wie Leitern, fast senkrecht hochkletternd, Treppen, die einen Bogen beschreiben, Treppen, die eine Brücke von einem Haus zum anderen schlagen. Eine mas-[43]sive Steinpyramide von einer Treppe führt zum ersten Stock eines Hauses. Aber das Allerbeste, da windet sich eine tolle, eine geradezu halsbrecherisch reizende Steintreppe, die Pyramidenstufen noch überbrückend, bis zum zweiten Stockwerk hinauf. Alle diese lebensgefährlichh steilen und unregelmäßigen Treppen führen vom Innenhof zu den verschiedenen Räumen empor. Und alle verzweigen sich außerhalb der Häuser, in der freien Luft, klammern sich irgendwie fest, ranken sich empor. Der besondere Reiz all dieser Treppen und Treppchen aber besteht darin, daß sie kein Geländer haben. Man muß schon einigermaßen schwindelfrei sein, um hier zu wohnen, – und kein allzu großer Pessimist.
Und über all dem breitet sich das Stadium eines äußerst fortgeschrittenen aber harmonisch edlen Verfalls. Diese abgebröckelten und teilweise eingestürzten Mauern mit den schwarzen Fensterlöchern. Diese Ruinen mit den schon vor langer Zeit eingestürzten Dächern. Im Innern der düsteren Mauern wachsen bereits große Bäume. Der Rest ist ausgefüllt von wucherndem Gestrüpp und saftig strotzendem Grün. Lebenskräftige Schlingpflanzen umklammern die toten Mauerreste. Und ich verliere mich im Anblick alter Lorbeerbäume, durch deren ölblanke Blattkronen das Sonnenlicht nur noch als irisierender Schimmer sickert, als ein bläulichgoldenes Flimmern, so unwirklich –
Auf einer Treppe, über dem tiefen Schacht des Hofes, steht plötzlich ein Mann. Ich habe ihn nicht kommen hören. Er muß sich lautlos wie eine Katze bewegt haben. Er ist weder jung noch alt, weder groß noch klein. Er wirkt mager und sehnig, und er verharrt reglos in gespannter Aufmerksamkeit, während er langsam und gelassen seinen [44] Blick von meinen Füßen aufwärts bis zum Kopf wandern läßt, ohne eine Andeutung von Eile, – um ihn dann ebenso sachte wieder abwärts gleiten zu lassen. Er rührt sich nicht dabei, er sagt auch nichts. Betrachtet mich nur mit diesem umfassenden, witternden Blick, der sich so enorm viel Zeit nimmt, um alles mitzubekommen und sich ein gründliches Bild zu schaffen. Zeit und Geduld spielen keine Rolle. Meinen Gruß scheint er überhört zu haben. Der Bannkreis des Schweigens und der Scheu heißt keinen Fremden willkommen. Endlich fallen doch ein paar karge Worte, halblaut, fast nebenbei. Es ist knapp zu hören und aufzufassen, daß er mich einlädt, mit ihm auf seine Terrasse zu kommen. Denn augenblicklich dreht er mir den Rücken zu und gleitet lautlos die Steinstufen empor. Ich folge ihm.
Oben angekommen, wo sich zwischen strotzendem Grün und Blumenbuntheit ein überraschender Ausblick über den Lago Maggiore weitet, stellt er sich an die Brüstung und läßt den Blick in diese unfaßbare Schönheit tauchen. Er verweilt darin, scheint mich vergessen zu haben. Ich stehe neben ihm, genau so gefesselt von dem Anblick. Er bedarf keiner Worte.
Keiner spricht. Das Auge sucht den Horizont, – weit, weit über die strahlend blaue Seefläche und die fernen Bergketten hinweg, weit nach Italien hinein.
Wir können gut zusammen schweigen.
Der Bambus lispelt. Ein Käfer summt vorbei. Aus einer Röhre fällt ein Wassertropfen, trifft die Wasserfläche in dem darunter stehenden Steintrog und zersplittert sie mit einem klingenden Laut. Dann ist es wieder still.
Und da sage ich leise das zu dem Mann, was mich die [45] ganze Zeit bewegt hat: Wie gern ich hier einige Zeit wohnen möchte, und ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, eine bescheidene Möglichkeit, ganz gleich wie...
Er holt seinen Blick meilenweit von den Gipfeln ferner Berge zurück, macht ein nachdenkliches Gesicht und schüttelt langsam den Kopf, überlegt, – nein, damit wäre es wohl nichts.
Schweigen, summendes Schweigen.
Eine Katze spaziert würdig und unhörbar vorbei. Tief unten glitzert der See in schillernden Perlmutterfarben, wenn eine leichte Brise ihn aufrauht. Der Bambus flüstert mir was Chinesisches zu, was ich nicht verstehe, aber als Ermunterung auffasse. Ich lasse ein paar halblaute Bemerkungen in die Stille fallen. Der Mann wendet den Kopf, sein Blick streift mich, als wollte er etwas fragen. Aber er fragt nicht.
Eine Eidechse nähert sich uns bis auf ein paar Meter, sieht uns neugierig an, neigt den Kopf schräg zur Seite, um besser hören zu können was ich sage. Doch ich sage nichts. Enttäuscht läuft sie weiter.
Lange ist es still.
»Sind sie nicht schön, die Tigerlilien«, bemerkt der Mann auf einmal sehr leise, als hätte er es nur zu sich selbst gesagt, und nickt dabei zu den im Sonnenlicht glühenden Farben der Blüten.
»Ja«, sage ich ebenso leise, »fabelhaft schön.«
Ein großer Schmetterling schwebt heran, ein Schwalbenschwanz, tummelt sich herum, entschwindet wieder.
Ein paar Worte fallen hin und her. Mit langen Pausen dazwischen.
Unvermutet sagt der Mann: »Kommen Sie, vielleicht [46] geht es doch. Ich habe da was, aber es ist eben ziemlich primitiv. Wenn Ihnen das passen sollte ...«
Er holt einen großen, altmodischen Schlüssel, geht voran über Steintreppen, öffnet eine schwere Balkentür. Wir kommen in einen kühlen Raum, der als eine Art Küche eingerichtet ist, mit weißgetünchten Wänden, rotem Steinboden und hoher Decke. Dann ein schmaler dunkler Gang. Und dann ein vierkantiger Raum, weißgetüncht, Steinfußboden, ein Tisch, ein paar Stühle, zwei Betten, eine alte wurmstichige Kommode, ein breiter Schrank, und dann zwei weit geöffnete Türflügel – und da ist mein Balkon! Ein Balkon hoch über dem Lago Maggiore, umsponnen von Glyzinienranken. Noch haben sie keine Blätter, aber ihre zarten purpurvioletten Dolden sind schon zur ersten Blüte entfaltet. Der schwere süßliche Duft schlägt mir entgegen.
Da stehe ich, ganz benommen, und sage dankbar ja zu dem Wunder. Und dann geht der Mann, schließt die Tür hinter sich, und ich bin allein. Er hat mich würdig gefunden, in seinem Märchenreich wohnen zu dürfen. Ich kann es noch nicht fassen. Hier wohne ich und habe einen Balkon über dem Lago Maggiore, wo er am allerschönsten ist, auf dem Stück Erde zwischen Ronco und Brissago, am gewaltigen Berghang des Ghiridone!
Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich und sehe. Und bleibe sitzen und starre gebannt auf dieses himmlische Stück Erde.
Wie in einem Schwalbennest hänge ich auf meinem Balkon, hoch oben in der Luft, unter dem blauen Dach des Himmels und über der blauen Fläche des Wassers. Unter mir fällt der Berg mehrere hundert Meter steil ab, und dann breitet sich dort die riesige Fläche des Lago Maggiore. [47; Zeichnung]

Wie kleine Blütenblätter schwimmen die zwei Brissago-Inseln vor mir im See. Und weit drüben, in der Ferne des jenseitigen Ufers, wachsen die Berge wieder auf, fast zweitausend Meter hoch, zum Gambarogno-Massiv. Da unten [48] rechts liegt Brissago, da fängt schon Italien an. Und dann wandert der Blick weiter, weiter und weiter nach rechts, weiter nach Italien hinein, bis nach Cannobio und Luino und Porto. Und dann wende ich den Kopf in östlicher Richtung und sehe über Ronco und Ascona und Locarno bis Bellinzona und bis zu dem noch schneebedeckten Gipfel des Pizzo Vogorno.
So, und jetzt wird es dunkel, schweres warmes Dunkel senkt sich herab, und von allen Seiten tauchen die unzähligen Lichter der Ortschaften auf, glitzern und flimmern und spiegeln sich kokett im See. Und aus der nun blauschwarzen Wildnis unter mir ertönt das gespensterhafte Pfeifen der Siebenschläfer.
Da stecke ich eine Stearinkerze an, und noch eine, und noch eine dazu, damit es richtig festlich wird. Dann schenke ich mir ein Glas Rotwein ein und trinke köstlich langsam, lasse Schluck für Schluck auf der Zunge schmelzen, während ich über den nachtdunklen See hinaus träume. Und alle Götter lächeln mir zu.
Ich bin der glücklichste Mensch Europas. [49]
Vor dem Bahnhof in Bellinzona liegt eine Verkehrsinsel, eine ummauerte Erhöhung mit einem Miniaturpark von großen, alten, schattigen Bäumen. Mitten auf der breiten Asphaltbahn, mitten zwischen den Autostraßen. Eine friedliche Insel, auf der allerlei Wegweiserschilder mit klingenden Namen angebracht sind. Unter den Bäumen und Schildern steht Bellinzonas herrlichste Bank mit der Aussicht über Stadt und Bahnhof. Zur einen Seite kann man einen barfüßigen Mann mit zwei Ziegen vorbeikommen sehen, während auf der anderen Seite der Expreßzug von Stockholm nach Rom vorbeifährt. So eine Bank ist das.
Und auf dieser Bank sitze ich in der zarten Sonne – mit etwas gemischten Gefühlen – ,sozusagen zwischen den Zügen. Nämlich dem, der mich bis hierher brachte, und dem nächsten Zug, der mich weiterbringen soll.
Um ehrlich zu sein: da ließ ich einen Zug dahinfahren, den ich hätte benutzen können. Wenn ich den nächsten nehme, habe ich Zeit genug, um mich in Bellinzona umzusehen und – geruhsam auf dieser Bank zu sitzen. So was tut man, ohne eigentlich eine vernünftige Erklärung dafür zu haben. Ich habe es ja so oft hören müssen, wie unvernünftig ich mitunter sein kann. Es kommt wohl immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. [31]
Mir erscheint es ganz natürlich, daß ich hier sitze, obwohl ich längst hätte weiterfahren können. Genau so selbstverständlich, wie es jene Indianer fanden, die eine Expedition der weißen Männer wochenlang durch den mexikanischen Dschungel geführt hatten. Die Weißen wollten noch rechtzeitig zu den nur einmal im Jahre stattfindenden Festlichkeiten eines sehr abgelegen lebenden Indianerstammes eintreffen und drängten darum die indianischen Begleiter ihrer Expedition zu tagelangen Eilmärschen. Auf einmal machten die bisher äußerst willigen und hilfsbereiten Indianer mitten im Dschungel Rast, luden alles Gepäck ab, setzten sich hin und hatten offenbar nicht im Sinne, vorläufig weiter zu marschieren. Die weißen Männer baten und schimpften, abwechselnd und durcheinander. Nichts half. Es dauerte sehr lange, bis die Weißen endlich den Grund des Aufenthaltes erfuhren. Denn die Indianer meinten wohl, das wäre ihre eigene Angelegenheit, in die sich niemand einzumischen hätte. Was war los? Gar nichts, absolut gar nichts, was diese weißen Fremden interessieren könnte. Warum geht es dann nicht weiter, auf was wartet ihr noch? »Auf unsere Seele«, antworteten die Indianer mit der größten Selbstverständlichkeit, »wir sind von unserer Seele gerannt und warten, bis sie uns wieder eingeholt hat.«
So ungefähr fühle ich es auch hier auf meiner Bank. Ich habe früher schon ein paarmal hier gesessen. Wir kennen uns, die Bank und ich. Es ist im Laufe der Zeit meine Bank geworden. Wir sagen Guten Tag zueinander und machen weiter kein Aufheben davon.
Früher – als ich auch hier saß, das war in einer anderen Zeit gewesen, unter anderen Voraussetzungen, mit anderen [32] Augen. Jahre sind inzwischen vergangen, ein Weltkrieg liegt dazwischen. Eine Zeit, in der wir von unserer Seele rannten und nachher tieferschüttert versuchten, uns selbst wieder zu finden, unser menschliches Gleichgewicht. Nun, wir sind nicht für die Bitterkeit des Herzens geboren. Wir wurstelten so recht und schlecht weiter und versuchten das Dasein wieder ein bißchen aufzuwärmen. Hier sitze ich nun auf dieser vertrackten Bank in Bellinzona und werde an das alles erinnert, an früher und jetzt – und ich bin ein klein wenig bange davor, wie ich den Tessin wiederfinden werde. Warum fuhr ich eigentlich nicht gleich weiter?
Auf was warte ich noch? Signore, wenn es sich etwa um Ihre Seele drehen sollte, die ist eingetroffen und gegen behördliche Legitimation und Quittierung am Gepäckschalter abzuholen. Pro Bellinzonas Touristservice ordnet alles für Sie im Handumdrehen. Wir empfehlen uns Ihnen: lassen Sie Ihre Sorgen unsere Sorgen sein!
Nun ja, man schleppt so viel mit sich herum, nötigen und unnötigen Ballast. Wenn ich mich jetzt von der Bank erhebe, wedelt meine Bastardstimmung aufmerksam mit dem Schwanz, und ich führe sie wie einen launischen Köter mit mir weiter durch die Straßen, unter die Bogengänge der Stadt, oder wie es natürlich richtig heißen muß, der Hauptstadt der Republik und des Kantons Tessin. Und wie es nun mal im Leben ist, man zuckt die Schultern, bemerkt, daß hier anscheinend alles still und friedlich zugeht, summt beruhigend vor sich hin, kauft etwas Obst und gnatscht bescheiden.
Aber auf einmal hebt man den Blick und sieht auf den Höhen rundum die düsteren Mauern, die Zinnen, die Türme der alten Festungen eines Bellinzonas, das einst das [33] Tor zu Italien war. Es nahm eine Schlüsselstellung ein, sagt man wohl nun dazu. Ach ja, auch damals wußten sie es schon, und hatten ihren Kummer damit. Von den Ligurern und Kelten, den Etruskern und Römern, die sich hier herumtrieben, räuberten, totschlugen und anderswie regierten und wieder verschwanden, bis zu den Lombarden, den Sforza, immer prallten hier der Norden und der Süden aufeinander. Immer war es eine kriegerische Ecke gewesen. Erst nachdem Bellinzona zu den Schweizern übergetreten war und die Machtstellungen sich verschoben, verloren auch die Burgen ihre ehemalige Bedeutung. Es verlotterte alles ein bißchen und der Zerfall begann. Der ehemalige Schweizer Pfarrer Hans Rudolf Schinz hat sich das im Jahre 1777 angesehen und gibt eine schnurrige Beschreibung der Zustände:
»Die drei Schlösser oder Castelle in und bei der Stadt bezeichnen sie schon von weitem. Das größeste liegt in der Stadt selbst auf der Westseite, hat zwei mächtige Türme und einen weiten Umfang; es heißt das Urnerschloß, weil dieser Stand eine kleine Besatzung von einem Castellan und vier Soldaten oder Schloßknechten darin hält, welche alle fünf Landleute von Uri sein und von der dortigen Landsgemeind erwählt werden müssen; sie bekommen auch von derselben eine Ordonnanz, nach welcher sie schwören, das Schloß vor allem Überfall zu vergaumen und zu verteidigen, das darin befindliche Geschütz zu verwahren und zu besorgen, niemand Verdächtigem Aufenthalt zu geben, zu sehen, daß die Wache, besonders des Nachts, von den Soldaten fleißig gehalten, die Tore durch niemand anders als sie selbst zu rechter Zeit auf- und zugeschlossen werden. Die Soldaten sollen seinen Befehlen gehorchen, und er, der [34] Castellan, Gewalt haben, sie wegen Fehlern in Arrest zu setzen. Auch die Schloßknechte schwören, daß sie das Schloß wohl verwachen, dem Castellan gehorsam sein und ohne dessen Bewilligung nicht aus dem Schloß weggehen wollen. Jeder von ihnen muß für 200 Gulden Bürgschaft stellen, der Castellan aber für 500 Kronen, damit, wann durch ihre Schuld an dem groben Geschütz oder sonst an Gebäuden etwas in Abgang käme, solches daraus ersetzt werden könne.«
Da standen sie: fünf Mann und ein Geschütz, für das sie Bürgschaft erlegen mußten, damit es nicht »in Abgang käme«. Wer hat eigentlich die Romantik der Burgen erfunden? Diesen Herrn möchte ich gern mal...
Durch stille Seitenstraßen drücke ich mich zum Rande der Stadt. Da muß irgendwo ein kleiner Platz mit einem Springbrunnen sein, mit Jasminbüschen und Rasenflächen. Und in der Nähe, dort ganz nah, befindet sich ein Haus, in dem ich mal schwer gesündigt habe. Es war eine Unterlassungssünde. Ich unterließ es, ein sehr hübsches Mädchen, das sehr aufgeräumt, sehr aufgewärmt und sehr neugierig war... na, ist ja egal. Nein, sag mal, wie kann denn so was passieren?
Na, bitte, das ist nun schon so lange her, reden wir doch nicht mehr davon. Wollen wir das nicht lieber vergessen? Doch gerade so etwas, wenn man in Liebesangelegenheiten mal ausnahmsweise träge und faul war und darum den Anstandswauwau spielte, das vergibt man sich nicht so rasch. Da hat man so viele Dummheiten gemacht, aber gerade die unterlassenen Dummheiten sind mitunter die schlimmsten. Die setzen sich leicht als blinder Fleck auf die Seele. Und wie die weißen Flecken auf der Landkarte, lassen sie uns [35] nicht ruhen. Man muß lange dafür büßen. Das hier ist also mein Büßergang.
So eingewickelt kann es im Leben sein.
Was denn? Erwarte ich etwa, daß auch sie nach vielen Jahren zufällig hier herumrennt und... Unsinn, sie war nicht mal aus Bellinzona, sie war nur auf der Durchreise und wartete... oh, Bellinzona, diese Hauptstadt der Wartenden und der Erwartungen! Dennoch suche ich in den langen Straßen mit den kleinen Häusern und Villen, in diesen öden, wie ausgestorben wirkenden Straßen, in denen man selten einen Menschen trifft, keinen Laut hört, keine Kinder spielen sieht, da suche ich nach dem bescheidenen Gasthaus von damals. Nicht mal ein Hund bellt hier. Es ist alles so seltsam tot. Ich finde es nicht mehr. Verstimmt schlurfe ich weiter.
Was habe ich hier eigentlich noch zu suchen? Auf einmal bin ich nur ein etwas müder Reisender, der auf den nächsten Zug wartet und mault:
In Bellinzona wartet man, man wartet immer, auf einen Zug nach dem Norden oder nach dem Süden, auf Bescheid, auf Post, auf irgend jemand oder irgend was. So fühle ich es jetzt und kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß ganz Bellinzona eine wartende Stadt sei, eine Stadt wartender Menschen zwischen Burgruinen und Villen, zwischen Traditionen und Administrationen, ein riesiger Verwaltungsapparat des Kantons, der alles registriert hat und nun bloß darauf wartet, etwas verwalten zu können. Und da findet sich keiner, der neue Tradition schafft. Und alle warten, müde des Wartens.
Ist es so, oder – ?
Natürlich ist es nicht so. Aber es ist ein gutes Beispiel [36] dafür, wie leicht man sich und andere irreführen kann durch Gemütsstimmungen und willkürliche Verallgemeinerungen. Denn es ist natürlich die Erwartung in mir, die ich zu meiner Begegnung mit dem Tessin hege – ich bin es, der eine ganze Stadt von dieser Voraussetzung und mit den Augen eines Erwartenden betrachtet.
Alles Gesehene hängt doch immer mehr oder weniger vom Standpunkt des Beschauers ab. Und darum kann jede Beschreibung einer Reise, mag sie auch noch so objektiv erscheinen, doch nur Bilder eigenen Bewußtseins vermitteln. Jeder sieht es anders, erlebt es anders, fühlt etwas anderes dabei. Alles ist so zufällig und ineinanderfließend, neu und lebendig. Denn Reise ist Bewegung, mit stetig sich verändernden Horizonten, mit einer Flut wechselnder Eindrücke. Vom Standpunkt des Ansässigen sieht das oft ganz anders aus. Der große Vorteil des Reisenden ist die blanke Neuheit des Bildes. Sein Nachteil: er kann nur eine verwirrende Vielfalt von Ausschnitten des Gesamten erfassen. Erst wenn er die vielen blanken Bruchstücke zu einem frischen Bild zusammenfügt, gewinnt er das Resultat. Sein Resultat. Aber ist nicht gerade das der Reiz des Reisens – sich selbst ein Bild zu machen?
So, und jetzt nehme ich mich gewaltig zusammen. Energisch blicke ich auf die Uhr. Wenn ich mir drüben im Ristorante noch eine Portion Risotto sichern will, ist es höchste Zeit, bevor der Zug fährt.
Ich setze mich an einen der kühlen Marmortische, nur zwanzig Schritte von dieser famosen Bank entfernt, die an allem Schuld ist, und lasse meinen Blick umherwandern: »Unter mir lagen in durchsichtigen Schatten alle Gegenstände so bescheiden da! Weiße Häuschen und schöne Kam-[37]pagnen, schon im gefälligeren italienischen Stil mit Vorhallen erbaut, glänzen aus der Fülle der Fruchtbarkeit. In den hohen Bergamphitheatern über dem Lago Maggiore weilte der sinkenden Sonne Abglanz in unaussprechlicher Klarheit, und vom Widerschein ward der schöne Berg Claro wie durch einen leisen Kuß gerötet!«
Das ist nicht von mir. So schrieb die dänische Dichterin Friderike Brun 1795 über Bellinzona. So sah sie es, so fühlte sie sich. Und es ist nicht schwer zu erraten, an was sie dabei dachte. Ach, auch sie saß hier erwartungsvoll, rastete hier vor der Weiterreise, in der süßen Erwartung, ihren geliebten Freund Bonstetten in Lugano zu treffen.
Und jetzt serviert mir die Signorina den Risotto und guten Appetit, und das stimmt mich so selig, daß ich schnell noch was recht Schmuckes über Bellinzona sagen muß:
Ihr seid drei Schwestern, drei flotte Städte des Tessin. Locarno hat sich der Sache des Friedens und der Filmfestivale angenommen. Lugano hat sich zur Aufgabe gestellt, der mondäne Kindergarten südlandshungriger Touristen zu sein. Bellinzona wartet – in vornehmer Zurückgezogenheit auf eine Chance. Die dritte Schwester hat sich noch nicht engagiert. Sie ist vielleicht ein klein wenig eifersüchtig, aber immer noch frei.
Bellinzona, spröde Schöne, einen Kniefall all derer, die Zeit zum Warten haben, vor deiner wählerischen Verwöhntheit! Was wird deinen Keuschheitsgürtel zu lösen vermögen, du Unnahbare? Noch gehörst du uns, den Namenlosen, die sich gestatten dir dankbar zu sein für all das, was du nicht bist und nicht sein willst. Du gehörst dir selbst und bist dir treu. Und wir nehmen uns Zeit, dich dafür zu bewundern! [38]
Und nun, wo ich dir gerade so einen wunderschönen Blumenkranz geflochten und dargereicht habe, da kommt ein gewichtiger Einheimischer daher, der gelehrte Historiker Giuseppe Pometta, und behauptet kühn: »Bellinzona ist ein Mann, Lugano und Locarno sind Weibchen!«
Was soll man darauf sagen?
Ich sage: »Bitte, schnell noch ein Viertel von dem speziellen Bellinzonaer Nostrano, dem roten, zum männlichen Abschiedstrunk !«
Dann aber nichts als los. Denn ich merke, meine Gedanken sind schon voraus geeilt, die sitzen bereits irgendwo auf einem Balkon am blauen See und grinsen schadenfroh.
Ich muß mich beeilen, meine Seele einzuholen. [39]
Jede richtige Reise fängt eigentlich mit den hoffnungsvollen Worten an: Wenn ich erst mal in der Bahn sitze, dann...
Diese Formel, zuerst sehnsüchtig hingehaucht, dann als Drohung zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgezischt, und schließlich nur noch als matter Seufzer wiederholt, wirkt wie lindernder Balsam auf das im Gewühl der Vorbereitungen erhitzte Gemüt. Da wird das bißchen persönliche Dasein aufgerollt und säuberlich geordnet zurecht gelegt, weil – übermorgen ist man nicht mehr da. Wen interessiert denn das, wenn wir erst mal weg sind? Niemand. Aber wir wirtschaften herum und verteilen die Minuten mit Teelöffeln und tun so schrecklich wichtig, als ständen für die nächste Zukunft die Angelegenheiten eines ganzen Staates auf dem Spiel. Man muß sich nur mal dabei erwischen, über sich selbst lächeln können, und ein paar hochtrabende Worte recht feierlich hersagen. Etwa: »Meine Herren, die Zeit der heroischen Gesten ist vorüber. Jetzt können Sie selbst sehen, wie Sie damit fertig werden, hier zu regieren, ich danke ab!«
Alle Bücher in den Regalen lauschten andächtig und nahmen das ergriffen zur Kenntnis. Worauf ich meine Schlüssel in Verwahrung gab und abdampfte. [9]
Wenn ich erst mal in der Bahn...
Und da sitze ich nun und sehe mir meine lieben Mitreisenden an. Ermattet sind sie endlich auf ihren Plätzen zusammengesunken. Wir fahren, wir können lachen. Tun wir das? Die allerletzten Energien wurden abgefeuert, um die strahlende Abschiedsszene möglichst naturgetreu zu liefern. Sie renkten die Arme, wedelten mit den frisch geplätteten Taschentüchern, riefen Segenswünsche, die sie gar nicht meinten, lachten falsch mit echten Tränen und traten sich gegenseitig tüchtig auf die Zehen, weil alle auf einmal zum Fenster hinaushängen mußten. Mein Verleger saß wohlverwahrt in seinem Kontor und kalkulierte, wo er heute was mit wem frühstücken wollte, sollte, müßte, und konnte deshalb nicht auf dem Bahnsteig stehen und zum Abschied die Melone lüften. Also kein Grund zu Aufregungen für mich.
Reisende in internationalen Zügen bilden eine zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft, isoliert von der Umwelt. Abgekämpft, mit dem Ausdruck seliger Hingabe: Es ist vollbracht! In Gedanken versunken leben sie noch ein klein wenig dort weiter, wo sie hergekommen sind. Sie können's nicht lassen: Heim, Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Garten, Blumentöpfe, der Hund Fido, die letzten unbezahlten Rechnungen. Das alles ist jetzt unweigerlich – draußen. Weit weg. In dem überwältigenden Gefühl der Machtlosigkeit, das sie durchrieselt, pellen sie zerstreut eine Apfelsine und propfen das eine Stück nachdem andern in einen gleichsam geistesabwesenden Mund, der mechanisch kaut und Kerne ausspuckt. Sie sind innerlich zerknirscht, weil sie jetzt nicht mehr dabei sind und schreien können »Pfui, Fido, laß das, die Dame mag das nicht!« Sie [10] strengen sich an, gleichgültig zu sein, flegeln sich in ihre Abteilecke, als wollten sie sich selbst überreden: Meinetwegen können die zu Hause jetzt machen, was sie wollen, ich bin abgehauen. Aber wehe, wenn die es wirklich machen! Keine Angst, die machen. Aus Rache wird die nächste Apfelsine abgehäutet.
Mir geht's nicht anders. Was da so alles auftaucht, während man faul und schläfrig dasitzt und sich südwärts schuckeln läßt. Ein saurer Verleger liegt mir noch halbverdaut im Magen. Nicht der hier, der dieses Buch herausgibt. Der Himmel erhalte ihn und lasse ihn noch viele angenehme Zeiten im Tessin erleben. Aber der andre, fast alle die andern säuerlichen Querulanten und Literaturkrämer – man sollte ihnen was husten und Bananen pflanzen gehen, anstatt... na ja.
Ein bißchen mucke ich hier und da noch auf, aber die unentrinnbare Wirkung des Eisenbahn-Stumpfsinns macht sich schon bemerkbar: Ach was, du fährst ja. Dir kann es wohl gleich sein. Die können dir mal... Jetzt, jetzt fährst du und siehst sie nicht die Begräbnismiene aufsetzen und hörst sie nicht gequält brummeln: »Das nehmen Sie an, und das kann möglicherweise sogar richtig sein, aber unter den Umständen und bei diesen Zeiten...« Ja und nein. Und die Angsthasen, die immer so vorsichtig und eingeschüchtert und voller Bedenken sind und dennoch jedesmal das Verkehrte tun und boshaft jammern: »Mein lieber Herr, unsere Leser? Man sollte annehmen, das Lesepublikum bestände aus Analphabeten, Sie machen sich überhaupt keinen Begriff...« Ja und nein. Was geht mich das eigentlich an. Reise ich oder reise ich nicht? Na also.
Wir haben uns in Europa eine schlechte Gewohnheit der [11] Amerikaner zugelegt: alles in Rekordzeit machen zu wollen – auch unsere Ruhepausen, die Ferienreisen.
Ich weigere mich, mein Dasein zu schematisieren. Ich gestatte mir, glückliche Zufälle walten zu lassen, meinen Eingebungen zu folgen, und opfere gern zehn vorher gemachte Pläne für einen plötzlichen Entschluß.
So kommt es, daß ich mich eines Abends in Luzern befinde, am Ufer des Vierwaldstätter Sees. Da sehe ich mir die Abfahrtszeiten der Schiffe an. Eins fährt sehr zeitig am Morgen, fast noch in der Nacht. Das merke ich mir. Und dann schlendere ich langsam durch die Altstadt. Dort, wo die kleinen hübschen Restaurants dicht aneinander gereiht an der Reuß liegen, kehre ich ein.
Im ersten Morgengrauen gehe ich an Bord. Das Schiffchen steuert auf den silbrigen See hinaus, während der ermunternde Duft von frisch bereitetem Kaffee aus der Kombüse dringt. Das Schiff ist ein Raddampfer, so ein Spielzeug mit Schaufelrädern, bei deren Anblick ein richtiger Seemann mal bemerkte: »Da habt ihr wohl weiße Mäuse drin?«
An einsamen Stellen legen wir an, die nur auf dem Wasserwege zugänglich zu sein scheinen. Denn gleich dahinter ragen die Berge steil auf. Wir nehmen Bündel und Kisten an Bord, Hühner und Kühe und Ziegen, manchmal folgt auch ein Mensch mit. Und wir teilen Postsäcke aus. Es geht sehr gemütlich auf unserer Arche zu. Und still -- wie im Traum gleitet das Schiff kreuz und quer über die blanke Wasserfläche, wie Traumbilder tauchen die mächtigen Bergmassen des Bürgenstock und der Rigi auf, lautlos sich verschiebende Kulissen. Über die hohen Bergwände erreichen die ersten Sonnenstrahlen nun den Seekessel und [12] lösen die schattenhaften Farbstimmungen im scharfen Licht auf. Tief unter der Axenstraße fahren wir hin und landen in Flüelen. Schluß mit dem See. Von hier ab geht's langsam, dann immer steiler aufwärts.
Als ich mir das angesehen habe, den Horizont mit den gezackten, übereinander himmelwärts kletternden Gebirgsrücken, hinter denen das Tessin liegt, und nachdem ich mir das noch mal auf der Landkarte richtig klarmache, -- da gehe ich still zwischen Flüelens paar Dutzend Häuschen umher und kaufe mir eine recht solide Ration Verpflegung für morgen. Dann packe ich liebevoll und kunstgerecht meine alte und erprobte Schultertasche mit frischem Brot, mit Hartwurst, Käse, Rotwein und bitterer Schokolade. Dazu das Messer, den Fotoapparat, die Landkarte und die Toilettensachen. Das ist mein Gepäck, mehr brauche ich nicht, wenn ich unterwegs bin. Alles andere liegt im Koffer, und der ist schon weit voraus geschickt und wartet im Gepäckschuppen von Locarno, bis ich ihn mal hole. Da ist er gut aufgehoben und kann mich nicht plagen. Der kann warten.
In einem kleinen Gasthaus spielen sie wunderbar klar und schön im Radio ein Bach-Konzert. Ich trete ein. Es ist herrlich, alles zusammen: das stille Flüelen, die Musik, das Risottomahl, der rote Wein, die Gemütlichkeit der Gaststube, das Lachen der Gastwirtstochter und nachher mein Zimmer mit den schweren, bäuerlichen Federbetten und dem gewaltigen Kachelofen, der ein Drittel des Raumes für sich beansprucht. Doch das Allerbeste ist, als das Konzert schließt und man im Radio mit einer dudelnden Radaumusik anfangen will, da geht der Wirt hin und schaltet aus. Für so einen Mann könnte man beten, daß ihn [13] der liebe Gott von Flüelen und Umgegend noch recht lange erhalten möge.
Am nächsten Morgen wird losgefahren – nach dem Tessin? Sachte, sachte, ein Stückchen in dieser Richtung, in die Berge hinauf. Nicht sehr weit: Flüelen, Altdorf, Erstfeld, Amsteg, Wassen, Göschenen. Und hier steige ich aus, in der scharfen Höhenluft, die uns so gut tun soll. Der Zug verschwindet in einem schwarzen Loch, das sie in die Felsenwand gebohrt haben. Das ist der Gotthard-Tunnel. Hier fängt er an, in Göschenen, und bohrt sich fünfzehn Kilometer quer durch die Alpenkette. Zwölf Minuten dauert die Fahrt, dann ist man südlich des Gotthard, in Airolo, im Tessin. Ein Wunder der Technik, der Bequemlichkeit und der Zeitersparnis. Ich will über den Gotthard gehen, und dazu brauche ich einen ganzen Tag.
12 Minuten Rutschpartie im Expreßzug = 1 Tag Paßwanderung.
So sieht das aus, sachlich nebeneinander aufgestellt. Ein so unsachlicher Mensch wie ich läßt sich selbst von diesem logisch überzeugenden Vergleich nicht abschrecken. Man sitzt doch so gut und bequem in der Bahn, nicht wahr, also warum denn durchaus... Gerade darum, sage ich mir. Weil man so schnell den Gotthard passieren kann, ohne ihn überhaupt m bemerken, weil diese wunderbare Möglichkeit vorhanden ist, brauche ich mich doch nicht verpflichtet zu fühlen, sie absolut zu benutzen. Bin ich hier, um Reiserekorde aufzustellen oder was? Also raus und los.
Tut man so etwas heutzutage wirklich noch? Wozu hat man denn Flugzeug und Expreßzug? Schließlich fährt doch auch ein Postauto über den Gotthard. Ja und? Schließlich – schließlich habe ich Beine und kann selbst und will den [14] Gotthard auf eine andere Art erleben. Nämlich: allein. Darauf kommt es mir an.
In keiner anderen Zeit, als in der unsrigen, scheint man so hundeangst davor gewesen zu sein, sich allein in die Natur hinaus zu begeben. Wirklich allein, in eine wirkliche Natur. Nicht mit dem Wanderverein, und nicht so ein halbes Stündchen Verdauungsspaziergang im Park des Kurhotels. Nein, in meilenweite Einsamkeit, unwiderruflich. Dort, wo es das nicht gibt: Ach, nun habe ich aber genug davon, jetzt kehre ich um und ein. Schon der Gedanke, einen ganzen Tag lang ohne menschliche Gesellschaft zu sein – na, hören Sie mal! Das reicht schon aus. Wie, kein Mensch in der Nähe, wirklich? Eine fürchterliche Vorstellung. Da kann doch nichts los sein. Wenn keiner da ist – was soll man denn da eigentlich? Man soll sich endlich mal auf sich selbst verlassen und nicht Herrn Kunzes Meinung über die Natur anhören, sondern mal die Schleusen für alle fünf Sinne öffnen und dann gehörig in sich selbst hineinlauschen !
Gleich hinter Göschenen windet sich der Paß mühselig aufwärts. Nüchtern und sachlich steht das Gestein da, bis in den Himmel hinein. Hier gibt's nichts zu tun, keine Wälder zu roden, keine Picker zu bestellen, und Uran haben sie bis heute auch noch nicht gefunden. Der Mensch ist hier total überflüssig. Hier gibt's nichts für ihn zu holen, und darum ist auch keiner zu sehen. Seltsam. Nirgends fühlt sich der Mensch des Flachlandes und der Städte so ausgeliefert wie in einsamen Berggebieten. Alles ist ihm so unheimlich fremd, und es gibt nicht einmal irgend etwas von Menschenhand Geschaffenes, worüber er nörgeln könnte.
Auch wenn wir es nicht mögen, sind wir doch alle mehr [15] oder weniger vom Hordenwesen unserer Zeit angekränkelt ohne uns darüber richtig klar zu sein. Wir leben zusammengedrängt in Häuserblöcken, Straßenquartieren, drücken uns in Eisenbahnabteilen, in Autobussen und Straßenbahnen. überall und immer. Bei der Arbeit, beim Sport, beim Vergnügen, im Konzertsaal, im Kino und Theater, selbst in den Ferien, bei der Erholung, immer, ständig, dauernd sind da die anderen. Wir können uns schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne sie ist. Wir werden uns nicht mehr darüber klar. Hier wird man es.
Auf einmal ist alles anders. Die Welt der täglichen und jahrelangen Gewohnheiten hat aufgehört. Plötzlich steht man wirklich allein, sehr allein, unbegreiflich allein. Und das mitten in einer Natur aus aufgetürmtem Gestein, garniert mit teilnahmslos gähnenden Abgründen. So weit man sehen kann, dasselbe Bild. Und man kann weit sehen. Erschreckend weit. Eine beängstigend versteinerte Welt, in der das bißchen Mensch zum armseligen Klumpen einschrumpft und wie eine gottsjämmerliche Schnecke herumkraucht. Mit dieser Erkenntnis ist man sich schon ein gutes Stückchen näher gekommen. So plötzlich an die überaus frische Höhenluft gesetzt wird ein Mensch ziemlich umgänglich mit sich selbst und darum geneigt... Paß nun lieber auf, wo du gehst, sage ich menschenfreundlich zu mir, es wäre schade um deinen Kopf mit all den lebensklugen Gedanken. Wenn du erst mal da unten liegst, ist das Lied aus. Da kommt keiner und sammelt dich zusammen.
Denn die breite und sichere Paßstraße habe ich schon lange verlassen und krabble auf den bedenklich schmalen Pfaden herum, die sich mehr direkt und darum leider auch steiler emporschrauben. Oft ist so ein Pfad nur einige Meter [16] weit sichtbar, windet sich auf und ab, verschwindet dann hinter Felsen oder in der Tiefe. Man weiß nie, wie diese Pfade weiter verlaufen. Es ist sehr spannend. Und mächtig anstrengend. Die Höhenluft, das Klettern. Mein Herz klopft, ich puste und schwitze. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wer hat auch gesagt, daß ich mich hier herumdrücken soll. Ich hätte ja auf der schönen Paßstraße bleiben können. Nun stecke ich im Dilemma.
Wie einsam es hier ist. Kommt hier wirklich keine Menschenseele mehr vorbei? Und die Landschaft – na, kann man das überhaupt noch Landschaft nennen? Landschaft, so ein Wort, bei dem man unwillkürlich an Postkarten und Malereien mit lauschigen Wiesen und rieselnden Bächen und schläfrig nickenden Baumgruppen denkt. Hier aber ist schroffe Unordnung, leblos und unveränderlich in ihrer Todesstarre, ergreifend unheimlich durch ihre unantastbare Regungslosigkeit. Und da kraxelt man nun drin herum, verantwortungslos sich selbst überlassen. Man ist so sehr allein, daß man mit dem Fuß einen Stein wegstößt, um ihn rollen zu sehen und zu hören. Man muß mal eine andere Bewegung als die eigene vernehmen. Und das maßlose Schweigen. Es drückt auf die Nerven, die gewöhnt sind, Widerstand gegen Geräusche zu üben, und auf einmal keinen Laut vernehmen können. Die Einsamkeit ist so unermeßlich. Aber wie findet man sich im Unermeßlichen zurecht? Man muß sich darin verlieren und wieder finden. Leicht gesagt -- in so einer Welt ohne Nerven, so erschreckend schön unnervös.
Ich summe und brumme mir was, um zu hören, ob ich überhaupt noch da bin. Dann pfeife ich eine kleine Melodie, und danach singe ich den Alpen ein hübsches Liedchen vor, [17] das »von dem Herrn, der in Bern, sein Weib hat umgebracht, bei der Nacht, trallala...«. Aber die Bergriesen stellen sich taub an, sie bleiben steil und zeigen mir die kahle, kalte Schulter. So komplett gleichgültig gegenüber der ganzen übrigen Welt möchte ich auch mal sein können.
Auf der Teufelsbrücke stehe ich eine Weile, gegen die Brüstung gelehnt, und starre stumpfsinnig in die tiefe Schlucht mit dem tobenden Wasser. Es schüttelt mich. Es zieht dort, als hätte jemand vergessen, eine riesengroße Tür zuzumachen. Es schüttelt mich nochmals, und ich steige weiter. In Andermatt stehen ein paar frostige Häuserchen. Hier kann man sich sogar von einer dampfend heißen Tasse Kaffee aufwärmen lassen. In Hospental gibt es noch ein ganzes Dörfchen. Und dann ist es aus. Bis jetzt war alles nur Spaß. Hier fängt es an ernst zu werden. Ran an den Gotthard und rauf !
Eine Stunde nach der anderen, auf und ab, stundenlang, hin und her. Das Herz pumpt sich heiß. Ich schnaufe und ächze: da kannst du sehen wie es ist, wenn man zu viel raucht, nicht wahr, aber du willst ja nicht hören, und jetzt schnappst du nach Luft wie ein trockengelegter Karpfen. Schadet dir gar nichts, schnapp du nur, das reinigt die Lungen. Du pfeifst überhaupt nicht mehr, warum bist du eigentlich so still geworden?
Ich pfeife darauf, die giftigen Bemerkungen meines billigeren Ichs zu beantworten. Als ob mich das nichts anginge, suche ich mir einen großen flachen Stein, setze mich drauf, nehme die Flasche aus der Schultertasche und bewillige mir eine Reihe tiefer Trostzüge. So, danke, das hilft gegen die rauhkalte Luft und den eisigen Hauch der Berge. Hier tut Wärme not. [18]
Manchmal kreuzt mein Pfad die breite Bergstraße, aber nur sehr selten ist ein Auto zu sehen. Es ist ein Wochentag im Frühjahr. Der Himmel ist grau und frostig verhüllt. Die Luft ist eisig kalt, und es wird immer ungemütlicher, je höher ich hinaufkomme. Lange Strecken placke ich mich auf der mit groben Steinen angelegten Römerstraße, dem alten römischen Heerweg. Hier zogen sie einst: Kriegsvolk und Handelsleute, Landvogte und andere Räuber, Scholaren und Handwerker, Pilger und Büßer, Heilige und Sünder und Narren. Und nun ich. Hinterher. Ein Nachzügler, der auf dem Gotthard herumläuft in einer Zeit, in der man entweder im Auto über den Paßweg dahinschießt oder im Expreßzug drunterweg rattert. Mein Herr, es ist ja schon so lächerlich lange her, seitdem es unmodern wurde, hier angelaufen zu kommen!
War da jemand, der lachte?
Natürlich niemand. Eine vorlaute Bergquelle kluckert leise. Wer soll denn hier sein?
Und übrigens komme ich hier weder angetrabt, weil es modern noch weil es unmodern ist, sondern weil mir das paßt, weil ich das sehen will, von dem der Schweizer Ludwig Rütimeyer schrieb: »Nirgends überkommt uns so das Gefühl, wirklich ausgeschlossen zu sein von allem Leben, wie auf diesen Gipfeln.« Immer noch passen die Worte, die er im vorigen Jahrhundert in seiner Beschreibung des St. Gotthard gebrauchte: »Ernst, alt und einsam.« Gerade so ist es.
Warum geht hier eigentlich niemand und sieht sich das an? Merkwürdig. Wie stark und würzig die Kräuter in der dünnen Höhenluft duften – und wie schmutzig der Schnee hier oben ist – der ewige Schnee. Ja, gealterter Schnee, [19] grau geworden mit der Zeit und Ewigkeit, gerunzelt und zusammengefallen. Alt und einsam. Alles ist in triefendes Grau getaucht. Es weht feucht. Wie Sprühregen. Und dieser zähe Nebeldunst, diese wehenden Schleier – das sind also die Wolken. Man ist bis zur Schneegrenze und bis in die Wolken hinein gestiegen und stochert nun etwas mißmutig durch ein klitschiges, elend kaltes Naß. Ist es so, in den Himmel zu kommen?
Jetzt liegt die Paßhöhe vor mir mit den unheimlich schwarzen Flächen der kleinen Seen, dahinter das Gotthard-Hospiz. Zu beiden Seiten der Autostraße ist der Schnee vier bis fünf Meter hoch aufgeworfen. Hier oben gibt es stets neue Schneefälle, immer wieder muß der Schnee beseitigt werden, damit der Paß offen bleibt.
In der Gaststätte des ehrwürdigen Hospizes glühen die eisernen Ofen. Da sind Menschen, ein paar Autos halten vor dem Gebäude. Da ist Wärme, eine mollige und sehr willkommene Wärme. Und keine Mönche mehr. Was sollten die auch hier. Den Autofahrern Benzin verkaufen, ihnen Kognak einschenken?
In diesem Hospiz hat Goethe verweilt, himmeln die einen in schmachtenden Tönen. Hier hat Mussolini sich ins Fremdenbuch eingetragen, krähen die anderen. Hier hat Herr Steiglhuber einen Schnaps zu viel getrunken, und das bekam ihm nicht, ließe sich passend hinzufügen. Sie sind hier gewesen und weiter nichts. Das kann jedem anderen auch geschehen. Aber sie haben auch anderen Besuch gehabt, der sich nicht damit begnügte, im Gästebuch zu kritzeln. Und das war immerhin schon viel bedenklicher. Als die französischen Soldaten das hier 1799 erobert hatten, rissen sie fast alles ab, um es als Brennholz zu verfeuern. Die [20] Russen werden nicht mehr viel Brennbares vorgefunden und darum schön geflucht haben, als Feldmarschall Suworow mit seinem Heer von 21000 Mann über den Gotthard gezogen kam. Sogar die Österreicher haben ihre Soldaten hier hinaufgejagt. Es tat sich allerlei.
Bedeutend früher aber, bereits 1560, hatte der Erzbischof Karl Borromeo von Mailand begriffen, wie wichtig es war, sich in dieser Passage einen Stützpunkt für die sehr wachen Interessen der katholischen Kirchenmacht zu sichern. Er schickte zwei Benediktinermönche als Herbergsväter auf den Gotthard. Sprachkundige und äußerst geschickte Herren hatte er sich dazu gewählt, die gute Kontrolle mit allem halten und tüchtige Berichte senden konnten. Doch trotz allem war Mailand fern und der Gotthard hoch, und es klappte wohl nicht so wie es sollte. Die Benediktiner verschwanden, und 1682 sandte der Mailänder Erzbischof Visconti dann die Kapuzinermönche auf den Paß. In der folgenden Zeit wuchs der Verkehr über den Gotthard erstaunlich. Um 1830 löste die neu geschaffene Paßstraße den alten halsbrecherischen Weg ab und wurde nun zur wichtigsten Nord-Süd-Passage. Bald konnten es die Mönche nicht mehr schaffen, ihr Amt auszuüben. Und im Jahre 1841 nahm sich die Kantonregierung der Verwaltung des St.-Gotthard-Hospizes an. Der Paß muß zu jener Zeit eine Völkerwanderung erlebt haben. Als alle Welt, die von der Politik und die vom ehrlicheren Handel, hier passierte, da muß es was zu hören und zu sehen gegeben haben. Handelskarawanen mit Dutzenden von Pferdewagen und mehreren hundert Personen waren keine Seltenheiten. Allein im Jahre 1876 wurden 69 647 Reisende gezählt. Und auf einmal war es Schluß damit, als 1882 der Tunnel fertig und [21] die Gotthard-Bahn eröffnet wurde. Es wurde wieder still auf dem Gotthard – ernst und einsam.
Winterlich eisengrau verhängt ist der Himmel auf der Paßhöhe – 2112 Meter über dem Meere – bis zur frierenden, schneebedeckten Erde. Ich wende dem Hospiz den Rücken zu, gebe mir einen nachhaltigen Ruck und schiebe mit langen Schritten gen Süden.
Abwärts, tröste ich mich, es geht abwärts, weiter nichts als abwärts. Leider zeigt es sich sehr schnell, daß der Abstieg an sich weiter nichts mit Trost zu tun hat. Die schmalen Pfade abseits des Paßweges fallen recht steil ab. Bei jedem Schritt gibt es einen knuffenden Ruck im ganzen Körper, und mein Skelett fängt an zu knirschen. Und alle Steine am Wege lachen sich ins Steinfäustchen.
Eine halbe Stunde steige ich geduldig abwärts, in der üblichen Eselmanier, mit hängendem Kopf und müden Augen, die das alles am liebsten nicht mehr sehen mögen. Und dann noch fast eine halbe Stunde dazu, und da geschieht es. Auf einmal, ohne Übergang, buchstäblich wie aus dem Gotthardhimmel gefallen, stehe ich im blendenden Sonnenschein. Hier ist auch kein Schnee mehr. Der Himmel strahlt unwahrscheinlich blau, und das Licht ist klar und goldig. Da ist frisches Gras, grünende kleine Büsche stehen herum, und der liebe Gotthardgott hat Blumen spendiert. Man ist vom Himmel ins Paradies gekommen – nur eine knappe Stunde von der Paßhöhe entfernt, von dem nassen Geriesel und den eisigklammen Wolken. So habe ich es mir gedacht, hier fängt... Das Tessin? Da fällt mir ein, daß ich schon seit dem frühen Vormittag im Tessin herumlaufe. Denn die Kantonsgrenze zieht sich bereits ein gutes Stück nördlich der Paßhöhe hin. So ein launisches Ländchen: von [22] den bitterbarschen Gotthardhöhen zuckersüß dahinschmelzend zu den Gefilden der oberitalienischen Seen.
Die Veränderung ist so freudig überraschend, daß man sich einbildet, singen zu müssen. Das lasse ich jedoch hübsch bleiben. Man soll nicht übertreiben. Außerdem ist da gleichzeitig etwas anderes, das mich ganz und gar nicht zu Gesangsproben stimmt. Belämmert bleibe ich stehen und bitte mir eine Bedenkzeit aus. Die Berge erheben keinen Einspruch, und ich darf mir das erst mal ansehen. Wie das weitergehen soll, ist nicht auszudenken. Knapp und gut die nächsten acht Meter führt sich mein Pfad noch einigermaßen normal auf. Aber dann hat er keine Möglichkeit mehr, sich ordentlich zu benehmen. Denn da neigt sich mein Weltall ein paar hundert Meter steil abwärts, in eine scheußliche Schlucht. Und unten, ganz tief unten, rauschen mächtige Wasser. Eine eklige Sache, so völlig unvorbereitet Angesicht zu Angesicht mit einem Abgrund zu stehen.
Ich fühle mich auf meinem Pfad wie ein Seiltänzer. Nicht nur der Pfad, sondern überhaupt alles scheint hier aufzuhören. Die schwindlige Aussicht zur Tiefe ist äußerst beunruhigend. Ich mag das nicht. Was denn nun? Es war schwer genug, bis hierher zu kommen. Aber schließlich muß doch der Pfad von Menschenfüßen getreten sein. Hier müssen doch andere vor mir gegangen sein. Wenn die konnten, kann ich wohl auch. Wer mag das gewesen sein. Und wann? Scheint lange her zu sein. Kein Anzeichen einer Spur, keine geknickte Pflanze. Nichts. Ist der Pfad aufgehoben worden, ist die Fortsetzung vielleicht bei einem Bergrutsch abgeglitten und in der Tiefe verschwunden? Da stehe ich mit einem dummen Gesicht, und rund herum hocken die Berge und glotzen mich an. Wenn ich sie ansehe, tun sie gleichgültig. [23]
Und das sind sie wohl auch. Denen kann es ja egal sein, was ich über sie denke und ob ich hier runterfalle oder...
Ein sehr grobes Wort sage ich laut und deutlich und lasse es dahinstehen, wer sich davon betroffen fühlen will, während ich mich noch die letzten paar Schritte weiter vorwage. Und da traue ich meinen Augen nicht, mein Pfad macht nun einen scharfen Knick – geradewegs nach unten. Als wolle er zum malerischen Absturz einladen. So hatte ich es mir nun nicht vorgestellt. Von dieser Kletterpartie bin ich absolut nicht begeistert. Mir ist nicht sehr wohl.
Dabei ist es reizend hier oben. Die Sonne meint es gut. Das Gras ist so erfrischend grün. Eigentlich und recht besehen ist es ganz schön das bißchen Leben, das man hat. Aber der verdammte Pfad, der liegt da und lauert: Na, laß mal sehen, wie ist es denn mit dem Portiönchen hochbesungenem Mannesmut? Ärgerlich brumme ich dieses idiotische: Das wäre ja gelacht! Und dann klettere ich, wie es der Pfad haben will. Nämlich auf dem Bauch liegend, an der schrägen Wand hängend, und mit allen vieren taste ich dabei nach Haltepunkten.
Wer von der felsenfesten Unerschütterlichkeit des Gebirges gelesen und das geglaubt hat, der kann hier sein blaues Wunder erleben, wenn er auf Händen und Füßen, mit der Nase im Gestein, herumglitscht. In dieser Situation die Entdeckung machen zu müssen, wie sehr der Berg brökkelt und bei der geringsten Berührung heimtückisch schottert und kubikmeterweis abwärts rollt, das ist weiter nicht erhebend. Es gleitet nur so, in schrägen Flatschen, immer hinunter damit. Nichts scheint mehr beständig zu sein, man kann sich heutzutage auf nichts mehr verlassen, nicht mal auf die Alpen. Es wird immer schwieriger. Wenn ich [24] einen neuen Halt suche ist es, als ob der halbe Gotthard zusammenfallen will. Was soll denn das. So hat ein Berg sich doch nicht aufzuführen. Ich schwitze und schimpfe: Das habt ihr fein gemacht, hier einen Weg hinzulegen. Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Das ist ja die reine Menschenfalle! Da lockt man mich erst mit einem blumenbekränzten Pfad und dann... dann wollt ihr mich ausrotten, sage ich zu den Felsen. Na, wartet nur, ich werde euch den ganzen Berg demolieren, werde ich!
Ratsch, sagt der Berg unter meinem Fuß, gerade dort, wo ich die Zehenspitzen zu setzen versuche. Und jetzt lösen sich auch noch die Steine, an denen ich mit den Händen hänge. Das ist ja eine Gemeinheit sonder... so was Boshaftes habe ich doch... Ruhe, rede ich mir zu, bloß erst mal Ruhe, ganz ruhig, endlich nicht nervös werden. Aber ich bin's. Ich presse den Körper gegen die bröckelnde Wand, als wollte ich sie beschützen, hake mich mit Fingern und Zehen fest, hole tief Luft und sehe mich nun erst mal um. Und da sehe ich...
Mein Herz erstarrt zu einem eisigen Pfropfen, und alle Eingeweide krauchen abwärts und ducken sich erschreckt zusammen. Jetzt bin ich so weit über den Hang hinabgekommen, daß ich sehen kann, was gerade unter mir ist. Da tief drunten ist ein Loch.
Ich puste heißen Atem und sehe erst mal weg, weil das zu unglaublich ist. Aber ich muß wieder runterblicken, muß Gewißheit haben. Die Gewißheit ist echt genug: da ist das Loch, mehrere hundert Meter unter mir. Sehr genau und korrekt, gerade unter mir, und hier rutschte und glitt ich ahnungslos herum und könnte leicht und geradewegs zusammen mit ein paar Zentnern Geröll dort unten... [25]
Wo – ?
Ich muß wieder hinsehen, ob da noch eine Chance wäre, wenn... Keine, bin ich mir sofort klar. Nicht das kleinste Gebüsch, nichts, keine Spur von einem Halt.
Da ist also von der Bergwand gegenüber der Schlucht im Laufe des Winters eine Lawine herabgekommen. Und die liegt immer noch da tief unten und deckt den Talgrund unter mir zu, breit und mächtig. Und im Lawinenfeld ist ein Einsturz, ein mächtiges Loch, in dem eine ganze Dorfkirche Platz hätte. Das Loch ist pechschwarz im Innern und scheinbar der direkteste Weg zum Mittelpunkt der Erde. Und in der ewigen Nacht des Loches, unter Schnee und Finsternis, auf dem Grunde der Schlucht, da ahne ich das gurgelnde Eiswasser des Flusses.
Nun habe ich Gewißheit genug, mehr als genug. Der Anblick ist schrecklich, aber die Gedankenvorstellung ist noch viel schrecklicher. Gute Reise
Was nun?
Ich bin gar nicht mutig und hänge gar nicht gut hier. Die Bergschrägung sieht teilnahmslos zu. Deine Sache, scheint sie zu meinen, da kannst du mal sehen wie das ist, hier so überm Abhang zu hängen. Oder glaubst du, mir macht's Spaß? Nu sieh mal zu, wie du damit fertig wirst. Hast du nicht sonst immer so gute Einfälle?
Ich habe keine. Hilflos sehe ich mich um. Doch das hilft nichts.
Umkehren, zurück, appelliert eine winzige Portion erschrockene Vernunft in mir. Das hier ist doch irrsinnig, und der Klügere gibt nach. Zögernd gehorche ich. Meine Hände tasten, suchen aufwärts, hoch über meinem Kopf nach Haltepunkten, meine ausgestreckten Arme prüfen, ob man [26] sich hochziehen kann. Nein, Steine und Lehmklumpen rollen abwärts, poltern böse und verschwinden irgendwo in der Unterwelt. Von meinem Klammerpunkt aus kann ich zwar nicht sehen, wo sie sich so eilig hinbegeben. Aber ich habe auch wenig Lust, es zu erfahren. Ich hab's nicht so eilig, und ganz besonders nicht in jener Richtung.
Warum ist gerade das Stück Gotthard über mir so elend beschaffen? Wie bin ich eigentlich hierher gekommen? Die allerdümmsten Fragen stellt man sich selbst. Und man kann es nicht mal sein lassen, wütend, rasend und zerknirscht zu denken: Hast du etwa nicht von der großen Einsamkeit der Berge gefaselt? Na und? Ernst und einsam, nicht wahr, da hast du es! Es wird niemand einfallen, dich hier zu stören. Ist das nicht reizend? Du siehst gar nicht gut aus, ist dir etwa nicht richtig wohl? Kellner, ein Glas Wasser für den einsamen Herrn!
Nichts zu machen, zurück geht's nicht. Das schofle Gefluche in mir kriegt einen Schreck, verstummt und begreift, daß ich nun absolut nicht gut auf mich zu sprechen bin. Hm, rauf ist also nicht zu kommen. Das ist doch wenigstens ein Standpunkt. Ha, meckert etwas sauwütend in mir – Standpunkt!
Ich kann es nicht lassen, wende den Kopf und muß das Loch nochmals besehen. Es ist inzwischen nicht hübscher geworden. Und da rede ich dem Kind im Manne gut zu: Mein lieber Junge, sowas genügt, um den stärksten Mann umzuhauen. Also, vor allem nicht mehr da runter sehen. Laß das. Bloß nicht nach dieser Seite schielen. Verstehst du? Und jetzt weiter, nichts als weg von hier!
Es ist zum – Steinerweichen. Zitternd umarme ich den Berg und klemme mich zentimeterweis weiter, kralle mich [27] fest, gleite und krabble wie ein unbeholfener Käfer. Noch ein paar Meter, noch einen Meter. Ich schwitze dicke Angst. Nun nur noch über diese Kante da. Na, das glückte. Aber, welche Minuten, welche Gefühle, welches Herzklopfen, welche grimmigen Selbstvorwürfe. Nur nicht nach unten blicken. Bloß nicht den fürchterlichen schwarzen Schlund in der riesigen Schneefläche sehen, dann geht es schon.
Das letzte unsichere Stück noch. Und dann ist es überstanden. Ich atme auf, so wie man atmet, wenn man von einem Alpdruck erwacht. Mahlzeit – Alpdruck! Der ganze Gotthard liegt mir im Magen.
War es so schlimm?
Reden wir nicht davon, solange die Knie noch so wunderlich weich sind. Hier läßt es sich doch wenigstens wieder einigermaßen auf den Füßen stehen. Und jetzt will ich mir das doch noch mal... Wo ist es denn? Der schauderhafte Krater ist weg. Ohne es bemerkt zu haben, bin ich schon zu weit weggekommen, und nun versperrt mir die Rundung des Felsens eifersüchtig die Aussicht.
Weiter!
Steil abwärts, quer durch junges Grün von Lärchenwäldern, über saftiggrüne Wiesen, dunkelgrün leuchtenden Moosboden, und alles in goldene späte Nachmittagssonne gebadet. Es wird immer wärmer.
Dort, wo die Landschaft mit ihrer Aussicht auf himmelhohe Berge einer Operettenkulisse gleicht, mache ich Pause. Und ich kann nichts dafür, aber drüben auf dem Paßweg fährt ein Postauto und läßt in jeder Serpentinenkurve sein Horn erschallen. Das Horn sagt wirklich Tatü-tata! Da setze ich mich, wo ich gerade stehe, und springe schnell wieder auf, weil die roten Ameisen mich nicht mögen, und [28] setze mich ein Stück weiter weg und packe meine Marschration und die Rotweinflasche aus. Die ersten Schmetterlinge umspielen mich. Von hier aus kann ich Airolo unten im Tal liegen sehen, klein wie ein Spielzeugdorf. Es liegt da und ich weiß, nun habe ich es bald geschafft.
Immerhin, bevor ich meinen Einzug im Dorf halten kann, ist die Sonne bereits dabei, hinter den Felswänden des Bergkessels zu verschwinden. Und als ich dann endlich in dem kleinen, bäuerlichen Hotelzimmer in den dicken Federbetten liege, in denen man sich doch so wohl aufbewahrt fühlen sollte, da packt es mich auf einmal. Es reißt mich aus dem Schlaf auf und durchrinnt mich heiß und kalt. Immer wieder ist dieser verdammte Krater da tief unter mir. Im gruseligen Licht der Traumbilder erblicke ich wieder und wieder das schreckliche Loch in der Schneefläche. Die stumme Drohung verfolgt mich, eine unheimliche Warnung, ein lauernder böser Blick aus dem Faltengewand der Urwelt. Ich habe in das Zyklopenauge einer sterbenden Lawine geblickt – und begriffen.
*
Als ich später meinen Schweizer Freunden von der Kletterpartie über dem Lawinenloch erzählte, schüttelten sie besorgt den Kopf und erklärten mir geradeaus, wie verrückt es wäre, sich auf so etwas einzulassen. Noch dazu für einen Fremden, der nichts von Bergen versteht. Solche Pfade sind für Einheimische da, für berggewöhnte Gebirgler. Und dazu sind es oft nicht mal Menschenstege, sondern nur Ziegenpfade, auf denen die Bergziegen zu den Weideplätzen klettern. Wenn man das nicht weiß, soll man sich weit davon weghalten. Und dann kam es: »Übrigens, man sollte nicht meinen, daß du so unzurechnungsfähig bist.« [29] Da saß ich, sah wieder das leere Totenauge der Lawine vor mir und nickte: »Ja, man ahnt nicht, was man für Dummheiten macht.«
Und dachte still: Aber nächstesmal – wieder! [30]