Cento Campi entdeckte ich sozusagen vom Bett aus, nämlich durch den Ausschnitt meiner Balkontür. Bei Dirinella fällt der Gambarogno schräg in eine tiefe und breite Schlucht ab. Dort ist die Grenze. Jenseits der Schlucht beginnt Italien. Aber auf halber Höhe des Berges, mit dem bloßen Auge gerade noch erkennbar, liegt auf einer sich schräg zur Schlucht neigenden Felsfläche, wie auf einem abgestumpften Kegel, eine kleine Gruppe von Häusern. Das ist Cento Campi. Es liegt so beängstigend, daß man jeden Morgen besorgt nachsieht, ob es noch da ist. Denn bei einem Bergrutsch würde es in die Schlucht abgleiten und wahrscheinlich in Italien landen.
Wenn sich das abendliche Dunkel mild über das Gambarogno-Ufer legte, blickte ich von meinem Balkon gespannt zu dem schrägen Bergplateau an der Grenzschlucht hinüber. Es versank regelmäßig jeden Abend mit der sinkenden Sonne in Nacht und Nichts. Niemals flammte ein Lichtschein in Cento Campi auf. Niemals schien sich dort Leben zu regen. Waren die Bewohner dieser am Berghang klebenden Häuser ausgestorben? Existierte Cento Campi nur in meiner Phantasie und in den Köpfen einiger Einheimischen die mir diesen Namen – der »hundert Felder« be-[104]deutet – zu nennen vermochten, wenn ich sie wegen des fernen Häuserklumpens befragte?
Doch, etwas anderes erfuhr ich noch: Cento Campi, hundert Felder, hundert kleine Felder sollten dort oben liegen. Nach einer alten Sage soll der Teufel die Felder in einer einzigen Nacht auf den kahlen Felsen hinaufgeschafft haben, auf Grund einer Wette mit dem Glöckner der Kirche unten am Seeufer. Der Glöckner gewann die Wette, indem er den Teufel narrte. Aber ein heiliger Mann darf sich nicht mit dem Teufel in durchtriebene Wetten einlassen und ihm seine Seele verpfänden. Nicht mal, wenn er damit armen Bergbewohnern auf ihrem nackten Felsen zu fruchtbarer Erde verhelfen will. Darum erlitt der Glöckner die schlimmste Strafe, die ein Mensch erleiden kann: sein Name verfiel für alle Ewigkeit dem Vergessen!
Diese Geschichte rückte mir Cento Campi absolut nicht näher, machte es nur noch unwirklicher. Überall fragte ich nun nach diesem sagenhaften Ort. Vergebens. Wie sich bald herausstellte, war Cento Campi tatsächlich unbekannt wie ein Dorf auf dem Mond. Niemand wußte, wie es dort drüben aussah. Niemand war dort gewesen. Niemand ahnte, ob dort überhaupt noch Menschen lebten.
Was tut man?
Man nimmt seine Zuflucht zunächst zu einer Spezialkarte der Schweiz – Maßstab 1:500 000 – und stellt fest, daß Cento Campi auf dieser Karte nicht zu entdecken ist. Weg mit der Karte. Neue Expedition zur Auffindung einer Spezialkarte der Südschweiz, die ausschließlich den Kanton Tessin umfaßt. Skala: 1:25 000 steht nun da. Aber Cento Campi gibt es nicht, es existiert einfach nicht. Jetzt wird es schwierig. Es gilt, eine Karte speziell über das Bergge-[105]biet zu finden, das sich rund um den schweizerischen Teil des Lago Maggiore lagert. Gibt es so eine Karte überhaupt? Es gibt sie. Ich habe sie aufgestöbert. Das ist eine ganz vornehme, eine auserlesene Karte, geradezu ein Leckerbissen von einer Karte, auf der feierlich gedruckt steht: »Reproduktion und Veröffentlichung der Siegfriedkarte 1:50 000, im vergrößerten Maßstab, mit Bewilligung der Eidgenössischen Landestopographie vom 6.2.1948«. Und die hat dann auch den herrlichen Maßstab 1:35 000. Und da gelingt es endlich. Zum erstenmal sehe ich den Namen Cento Campi gedruckt auf einer Karte. Das gibt es also. Es existiert wirklich.
Wirklich?
Frage wohlbereiste Schweizer, und sie werden mit den Schultern zucken, die Köpfe senken und dann verwirrt auf der Schweizerkarte suchen – auf der es kein Cento Campi gibt. Fassungslos aufblickend werden sie plötzlich von einer erleuchtenden Idee beseelt ausrufen: Das Touristbüro kann darüber alle Auskunft geben!
Keine Illusionen – es kann nicht. Selbst die berühmten Schweizer Touristbüros kommen da in die Klemme. Sogar das am nächsten gelegene, das Touristbüro von Locarno, gibt auf. »Cento Campi? Sie meinen Centovalli!« »Nein, ich meine Cento Campi.« »Bedaure, mein Herr, kennen wir nicht.« Und dann ist es aus. Mehr Rettungsstationen gibt es nicht. Das war die letzte.
»Kann mir keiner sagen, wie ich nach Cento Campi komme? Wie es dort aussieht? Wie man dort lebt?«
Höfliches, aber bedauerndes Kopfschütteln ist die Antwort.
Denn kein Fahrplan, keine Touristenbroschüre und keine [106] Bilder geben darüber Auskunft. Niemand erwähnt es. Keine Eisenbahn, kein Postauto, kein Privatauto und keine Drahtseilbahn erreichen es. Nicht mal ein Briefträger, nicht mal ein Brief. Denn im Heimatlande der Weltpostunion gibt es keinen Postverkehr mit Cento Campi. Es ist nicht mehr von dieser Welt.
Und nun bin ich auf dem Wege, das vergessene Dorf im Gambarogne zu suchen.
Von meinem Bergpfad aus kann ich die Grenzstation Dirinella tief unten am See liegen sehen. Da haben sie sich eine richtige Grenze geleistet, das ganze Theater, mit Zoll und Wache, mit Mützen und Uniformen und Stempeln und allem, was sich Staatsmaschinisten zu erträumen vermögen. Die Italiener haben auf ihrer Seite riesige Scheinwerfer, die abends mit ihren blendenden Strahlenfingern den See abtasten – von wegen der bösen Schmuggler. Die schweizerisch-italienische Grenzlinie im See zwischen Dirinella und Maria di Ponte am anderen Ufer aber weckte mein Erstaunen: sie verläuft im Zickzack mitten im Wasser! Ich weiß nicht, ob die schweizerischen und italienischen Seewellen das zu respektieren wissen. Jedenfalls leuchten die italienischen Scheinwerfer nicht im Zickzack. Schade. Das hätte ich gern erlebt.
Mein schmaler Fußsteig schlängelt sich in dreihundert Meter Höhe durch schattige Weinterrassen nach Caviano, wo sie ein puppenstubenartiges Posthaus besitzen, das aus einem kleinen Raum besteht. Aber die nette Dame, die ein paar Stunden am Tage das Postamt repräsentiert und gerade privat beschäftigt ist, weil wohl niemand hier auf die ausgefallene Idee kommt, ein Posthaus zu besuchen – diese Dame weiß etwas über Cento Campi zu erzählen. [107]
Nicht gerade viel, aber immerhin ist sie schließlich der erste Mensch, der nicht glattweg Cento Campis Existenz ableugnet. Und sie berichtet: Dort leben Menschen. Da führt oberhalb Cavianos ein Maultierweg hinauf. Dort oben gibt es nichts zu kaufen, absolut nichts, weder Wein noch Brot, weder Milch noch Käse. Das war alles, was das gute Postwesen aussagen konnte. Ich danke und sage, ich werde mich da mal hinaufbegeben. Sie blickt mich mißtrauisch an.
Doch erst muß ich mir noch das Nachbardorf Scajano ansehen, das letzte Dorf an der Schwanzspitze des Gambarogno. Es ruht so völlig unberührt, daß man nie darauf kommen würde, hier an Grenzland zu denken. Ist es aber. Wo der Ort endet, da führt ein malerischer Fußweg bergab zu jener Schlucht, die ich von meinem Balkon am anderen Seeufer aus erblickt hatte. In der Schlucht rauscht mit viel Wasserfallgeplätscher ein Flüßchen. Mitten im Fluß aber steht zwischen großen Rollsteinen eine hübsche Frau mit zwei Kindern -- und wäscht große Wäsche.
Das muß ich mir richtig ansehen.
Hier ist also die Grenze. Den Bäumen und Sträuchern und Gräsern dort drüben, nur zehn Meter weiter, ist gar nicht anzusehen, daß sie italienisch sind und eine andere Flagge besitzen. Die junge Frau steht mit dem einen Fuß in Italien und mit dem andern in der Schweiz und scheint sich der unberechtigten Grenzüberschreitung überhaupt nicht bewußt Zu sein. Die Kinder badeten in dem schweizerisch-italienischen Wasser, und jetzt springen sie von dem Schweizer Sonnenschein in den italienischen Sonnenschein. Sie leben in glücklicher Unwissenheit darüber, was sie sich da eigentlich für empörende Sachen erlauben. Und die Frau [108] hat den Haufen mit der schmutzigen Wäsche in Italien liegen. Die gewaschenen Stücke aber legt sie auf einen Stein in die Schweiz. Lange und nachdenklich sehe ich mir das an.
Welch tiefer Frieden!
Kein Stacheldraht, kein Militär, keine Uniformen. Sonne, plätscherndes Wasser, lachende Kinder. Dort drüben also, wo die Frau jetzt mit ihrem linken Fuß steht, da haben sie Krieg gehabt und Diktatur und politischen Mord und Schandtaten und wieder Krieg. Da wo die Frau mit ihrem rechten Bein steht -- nicht. Kann man sich so viel Wahnsinn vorstellen? Dort drüben, wo sich diese bewaldete Höhe hinaufzieht, dort wurde man erschossen, wenn man nicht auf andere Menschen schießen wollte und viel lieber durch diesen Fluß hier waten mochte. Jetzt jubeln die Kinder und bespritzen sich mit Wasser.
So wie das hier, wie es jetzt ist – so habe ich mir immer die Grenzen gewünscht, alle Grenzen aller Länder auf allen Kontinenten. Wie haben sie uns als Kinder schon in der Geographiestunde damit geplagt. Mit einem Zeigestock jagten sie uns irrsinnig auf der Landkarte herum, immer einer gekreuzelten Linie nach. Was dort wirklich vor sich ging und daß auf beiden Seiten Menschen lebten und genau wie wir lachten und weinten, das war Nebensache. Die Hauptsache war: die Grenze! Und auf der anderen Seite, da drüben, jenseits aller Grenzen: da ist es dunkel, und da hausen die anderen, die Ausländer, die Fremden, die nie so gut sein können wie wir selbst, nie!
Wie haben sie es uns doch kompliziert gemacht. Na und – haben wir es seitdem besser eingerichtet?
Lange blicke ich auf diese wundervolle Grenze, die gar [109] nicht da ist, und dann wage ich mich endlich nach Cento Campi hinauf.
Der Aufstieg ist verdammt nicht einfach. Lange krümmt sich der Pfad durch verfilzten Bergwald. Und mit einer Steigung, die ganz unmanierlich ist. Man kriecht Schritt für Schritt hinauf. Man begegnet niemandem. Der Weg wird immer beschwerlicher, steiniger, steiler, er zerfasert sich, wird dünn und verschwindet zuletzt fast ganz. Eine schräge Ebene öffnet sich. Voraus, weit voraus, hoch oben, bellt irgendwo ein rasender Hund. Jetzt bin ich in allernächster Nähe. Cento Campi liegt nicht mehr in braunlila Dunst gehüllt als winzig verschwindender Punkt hoch oben an einem Berghang in unbestimmter Ferne, mit einem riesigen See dazwischen. Es liegt greifbar vor mir. Wie mag es aussehen? Vielleicht lassen sie große, böse Hunde frei herumlaufen, die niemanden in die Nähe kommen lassen? Vielleicht weisen sie mich einfach fort: Geh, Fremder, wir haben dich nicht gebeten, zu kommen! Wer weiß? Denn niemand hat das da oben gesehen, niemand vermochte es mir zu beschreiben. Man macht sich seine krummen Gedanken. Der grollende Hund da oben gefällt mir gar nicht.
Nun habe ich die Bescherung. Mir sinkt das Herz. Vor mir hebt sich eine steile Anhöhe. Oben, hinter Bäumen und Sträuchern, sind dunkle Steinbauten zu erkennen. Dort ist es. Ja, und dort hinauf führt ein Hohlweg, Ein Schlauch von einem Weg. Nur schulterbreit. Und wo dieser Hohlweg oben endet und wie eine Himmelsleiter in das unbekannte Dorf mündet, da liegt ein sehr schwarzer und sehr kräftiger Hund und paßt auf dieses einzige Loch auf, durch das man Zu diesen Häusern gelangen kann.
Mir erscheint es sonnenklar: hier dringt niemals jemand [110] ein. Keiner vermag dort durchzuschlüpfen. Darum hat nie jemand Cento Campi gesehen. Darum also weiß niemand, wie es dort drinnen aussieht, hinter dem steilen Bergwall, wo die Himmelsleiter endet. Das haben sie geschickt gemacht. Eine von Natur großartig angelegte und von den Leuten hier fabelhaft ausgenutzte, unzugängliche Festung. Wirklich raffiniert ausgeknobelt. Und der Hund ist rasend.
Was nun?
Jetzt kommt jemand. Erst erscheint ein Kopf über dem Rand der Böschung. Ein üppiger, blonder Engelskopf. Er gehört einer lächelnden, runden Frau voller Frohsinn und Freundlichkeit. So gesund und frisch und strahlend, daß es mir fast unwahrscheinlich vorkommt. Alles andere hatte ich erwartet, alles.
»Ist das hier Cento Campi?« frage ich verwirrt.
Sie nickt lachend.
»Ja, Cento Campi«, sagt sie und beruhigt den Hund, erzählt ihm allerlei. Der Hund scheint das Zu glauben. Er sieht jetzt ganz fromm aus und blickt mich andächtig an. Ich darf vorbei. Ich bin auf den himmlisch gelegenen und vom Teufel erschaffenen »hundert Feldern« willkommen geheißen. Und dann gehe ich durch die winzigen, sich auf und ab windenden Gäßchen, mit den lustigen kleinen Häuserchen, die hell und freundlich wirken, obwohl sie ärmlich und altersgrau sind. Aber alles wirkt hier so überraschend heiter und freundlich. Die Leute grüßen herzlich. Die Häuser sind mit lichtgrünen Weinranken umsponnen und von Sträuchern, Blumen und Bäumen umgeben. Und dann kommt der Mann des rundlichen, stattlichen Engels, der mir am Eingang des Dorfes erschienen war, und lädt mich zu seinem Häuschen ein. [111; Zeichnung]

Das Haus ist aus Steinbrocken erbaut, wie alle Häuser hier. Und es hat ein Dach aus flachen Steinen, wie alle anderen Häuser. Es besteht aus einem einzigen Raum. Und dieser eine Raum ist noch nicht mal so groß wie ein Zimmer einer durchschnittlichen Mietswohnung und lange nicht so [112] hoch. Das ist alles, was sie brauchen. Es genügt ihnen. Es ist sauber und heimelig.
Der Mann fragt, ob ich hungrig sei. Nein, danke, wirklich nicht. Hm, aber ein frischgelegtes Ei, das stärkt immer. Wir schlürfen frische Hühnereier aus der Schale. Und dann füllt er für jeden von uns eine Suppenschüssel mit rotem Wein. Wir trinken auf unsere neue Freundschaft, und die Frau freut sich, daß nun doch mal Besuch gekommen ist. Und das kann ich gut verstehen, denn sie erzählt: zuletzt, das war vor ungefähr zwei Jahren, da war ein Italiener hier!
Wenn es so ist, hat man ja Zeit, sich von einem Besuch zu erholen.
Der gute Mann erzählt mir nun, daß er zehn Jahre seines Lebens in einer Kohlengrube in Kanada gearbeitet habe. Auch in der Nordschweiz hat er sich etwas umgesehen. Und weil sie nun hier einen seltsamen Gambarogno-Dialekt sprechen, der für den Fremden so gut wie unverständlich ist, spricht er zu mir in einer Sprache, die sich aus italienischen, deutschen und englischen Brocken zusammenfügt. Das ist eine großartige Sprache, die ich auch sofort benutze und Centocampinesisch taufe.
Da sitzen wir also in dem sagenhaften Dorf, trinken roten Wein aus Suppenschüsseln und reden unser wunderliches Centocampinesisch. Er ist ein kluger Mann, der nach zehn Jahren den unheimlichen Kohlengruben für immer den Rücken wandte und sich nicht nur heimwärts begab, sondern auf seinen Berg. Er hatte sich drüben einen kleinen bescheidenen Batzen zusammengespart und denkt nun nur noch mit einem leisen Schauer an die Arbeit tief unter der Erde. Und das Allerschönste, er ist glücklich hier. Er ge-[113]nießt es, hier leben zu dürfen. Er hat die Welt draußen gesehen, er hat genug davon gesehen. Er erzählt es mir selbst: hier sei er ein freier Mann, sein eigener Herr, kann kommen und gehen wann es ihm paßt und wo es ihm paßt, die Berge sind frei und stehen ihm offen. Er ist glücklich, und der runde, blonde Engel an seiner Seite ist glücklich, – und sie wissen es!
Die können lachen, und sie tun es: Cheer! Prost! Salute!
Wo die Häuser von Cento Campi enden, breiten sich die fruchtbaren Felder aus, die gesegneten hundert Campis des Teufels, si Signore. Sie fallen nicht steil ab, sie neigen sich schonend und in behutsamer Schrägung. Und darum haben es die Menschen leichter hier als in den meisten anderen Bergnestern des Tessin, wo das Dasein oft zur Unmöglichkeit wird. Es ist tatsächlich wie ein Wunder, sie haben Felder mit guter Erde hier oben, und nicht nur Stein. Ihre Felder sind leichter zu bestellen, ihre Ernte ist reicher und unter weniger harten Bedingungen erworben. Darum sehen sie freundlicher auf das Dasein. Und sind weniger ausgezehrt, ihre Rücken sind weniger gekrümmt. Sie vermögen noch zu lachen. So viel macht das aus. Und darum sind ihre Sinne offener und die Gassen zwischen ihren Häusern einladender. Sie haben es sich behaglicher einrichten können.
Einzig in ihrer Art sind ihre Vorratshäuser. So was Lustiges gibt's vielleicht sonst nur noch am Kongo, aber jedenfalls nicht anderswo im Tessin. Es sind geduckte Bauten, deren dicke, dicke Strohdächer nach allen Seiten fast bis zur Erde herabreichen. Da kann sich der Winterfrost die Zähne dran ausbeißen. Sie sehen aus wie uralte Kobolde in verwitterten Strohmänteln.
Hier leben ein paar Dutzend Familien. Mit ihrem Vieh, [114] ihren Hunden und Katzen, ihren Hühnern und Truthühnern und Ziegen. Hier in fast siebenhundert Meter Höhe. Wenn die Sonnenlampe ausgeht, gehen sie schlafen. Es ist so einfach, so unkompliziert. Es geht auch gut ohne Elektrizität, ohne Gas und ohne Wasserleitung. Ihr Wasser holen sie sich vom Wasserfall des Flusses. Keine Post, keine Kneipe, nicht mal ein Landhandel, nichts. Keine Kirche, keine Polizei. Und sie leben und sind obendrein glücklich. Niemals können Autos hier heraufkommen und niemals die Tourist-Automobile mit ihren Lasten schnatternder, komischer Menschenvögel. Niemals kommen diese interessanten Leutchen hierher, die behaupten, die Schweiz bestände nur aus Hotels, Tourist-Service, Restaurants und netten Geschäften. Diese Leute haben nie Cento Campi gesehen und werden es nie entdecken. Sie haben nie centocampinesisch gesprochen und mit meinem Freund aus Suppenschüsseln roten Wein getrunken.
Darauf trinken wir noch einen!
Die gesamte Tessiner farbenbunte Herrlichkeit haben sie hier zu ihren Füßen. Über ihren Häuptern aber wachsen die Berge weiter, aufwärts, Berge und Wälder, höher und höher. Dort drüben reckt sich, immer noch mit Grün geschmückt, der Monti di Pino über tausend Meter auf – aber das ist Italien. Hier, gleich hinter den letzten Häusern, wo aus tiefer Schlucht die Kühle des fallenden Wassers heraufweht, ist die Grenze.
Die Grenze?
Wo denn, zeig doch mal? Und siehe – es ist gar keine Grenze da. Es gibt keine Grenze. Es gibt nur grüne Bergwälder, die sich diesseits und jenseits der Schlucht himmelan ziehen, grenzenlos, unbegrenzte Berghänge. [115]
Ich habe mich an die äußerste Grenze begeben – und habe sie gefunden. Und habe entdeckt: sie ist ein schäumender Fluß mit Kieseln und Felsgeröll, mit Sonne und Schatten und mit Menschen, die lachen können und weder Uniformen noch Maschinenpistolen tragen.
Salute! No Grenze, keine Frontiera, nix!
Ich leere meine Weinschale und blicke tausende Meter rechts und links über den weiten See, der dort unten leuchtet und glitzert. Und ich blicke auf die Berge rundum und nicke ihnen zu: diese Ruhe, dieser Frie... hätte ich beinah gesagt, aber ich beiße mir auf die Lippen, mir ist so wunderlich zumute, denn auf einmal sehe ich ihn deutlich vor mir: Er sitzt im Schatten einer Hausmauer auf der Erde, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und liest einen Stapel Zeitungen. Alles ältere Jahrgänge, kann ich sehen. Und er priemt. Ein jovialer, älterer Herr mit rundem Kopf, etwas abstehenden Ohren, und einem dünnen, ausgefransten Bärtchen. Er macht einen ziemlich abgemagerten Eindruck. Seine etwas altmodische Kleidung ist ihm viel zu weit geworden und schlenkert um seine leicht komische Figur.
Als ich ihn begrüße, sieht er mich über die dicken Brillengläser hinweg an und beantwortet meinen Gruß mit einem Kopfnicken und einem milden Lächeln.
Ich frage, wie es ihm geht?
»Ach, danke«, antwortet er leutselig, »ich persönlich kann nicht klagen. Ich bin glücklich hier in Cento Campi, sehr glücklich. Wie geht es denn da unten, seitdem ich mich hierher zurückgezogen habe? Man hat es wohl überhaupt nicht bemerkt? Sehen Sie«, setzt er, gesprächig wie alle alten Leute, fort: »Man folgt ja nicht mehr so mit.« Er deutet auf die Zeitungen neben sich im Staub. »Ich bin ein paar [116] Jahrgänge im Rückstand, aber das macht ja nichts, es ist wohl dasselbe heute. Mir ist nur aufgefallen, daß sie nun alle meinen Namen im Munde führen. In 0st und in West reden sie unaufhörlich von mir, – aber sie kennen mich nicht mehr. Heute kennen sie ja nur noch den warmen Krieg und den kalten Krieg. Und meine Wenigkeit also nur dem Namen nach. Man hat ja so vieles erlebt. Vielleicht darf man sich auch in meinem Alter gestatten, etwas mißtrauisch zu sein? Unter uns gesagt, werde ich oft an etwas erinnert, weil es hier so ganz in der Nachbarschaft geschah. Sie wissen, was ich meine? Es war auch eine schlimme Enttäuschung. Es war geradezu – nein, so was darf man nicht sagen. Aber schließlich hatten sie mich ja gerufen. Und ich stand draußen im Korridor und wartete. Dann bereuten sie es. So ernst meinten sie es im Grunde nicht mit mir. Sie fanden später eine Entschuldigung. Die finden immer einen Vorwand, wenn ich ihnen unbequem bin. Na ja, sehen Sie, ich darf ja nicht schlagen. Aber manchmal habe ich Lust gehabt, ihnen ordentlich eine zu kleben. Also die Entschuldigung, das müssen sie hören. Sie können sich nicht vorstellen, was alles als Ausrede gebraucht wird, um mich nicht vorzulassen. Nein, Sie können es sich nicht vorstellen! Man ließ mir sagen, das ginge nicht an, ich mache ihnen nur Priemflecke in die feinen Protokolle, und das könne man nicht dulden, das sei unstatthaft. Ich habe es ihnen nicht übelgenommen, ich wußte schon wie es kommen würde. Es gab ja dann auch ganz andere Flecke. Ich ging still weg und weinte. Wissen Sie, es gibt gewisse Augenblicke im Dasein, wo man mit gutem Recht weinen darf. Und dann später... na, jetzt bin ich hier. Nein, ich habe niemandem meine Adresse hinterlassen. Ich traue den Brüdern nicht. Was die [117] alles machen – und immer in meinem Namen! Es war zu schlimm. Und dann bin ich also hier herauf gekommen. Das half, jetzt geht's mir besser.«
»Gestatten Sie mal«, sage ich, »was machen Sie nun eigentlich hier?«
»Ach, wissen Sie«, schmunzelte er, »man kann es ja nicht lassen. Ich pfusche so ein bißchen nebenberuflich und aus alter Gewohnheit. Als alter Expert in Schlichtung und Streitfragen befasse ich mich ein wenig mit der Grenzproblematik von Cento Campi, ja, Grenzproblematik – haha, es gibt nämlich gar keine! Aber bitte, sagen Sie's nicht weiter. Die Menschheit fühlt sich so unglücklich ohne problematische Streitfragen.«
»Haben Sie uns satt?« frage ich.
»Das ist nicht das richtige Wort«, sagt er und spuckt bedächtig den Priem aus. »Aber lassen wir das lieber. Sie brauchen ja da unten nicht zu erzählen, wo ich bin – sonst gibt's bloß wieder Krach. Unsinn, erzählen Sie was Sie wollen, es glaubt Ihnen ja doch keiner, haha.«
In den Bart schmunzelnd ruft er mir noch nach: »Ziehen Sie dahin in Frieden!«
Beinah hätte ich geantwortet: danke, gleichfalls!
Und der Lago Maggiore lächelt verständnisvoll zu mir herauf, diskret – denn er hat alles gehört und will doch nichts gehört haben. [118]
"Wäre er in Afrika, dieser Berghang, der sich auf dem linken Ufer des Lago Maggiore von Magadino bis Dirinella erstreckt, so würden ihn die alten Landkarten mit dem eindringlichen Satz kennzeichnen: 'Hic sunt leones' und damit zu bedeuten geben, daß hier ein unerforschter Erdstrich liegt."
Carlo Borella, Neue Züricher Zeitung
Drüben, auf der anderen Seite des Sees, da liegt der zwölf Kilometer lange Felsenschinken des Gambarogno. Täglich habe ich ihn vor Augen. Oben hat er eine mächtige Glatze, aber weiter nach unten hin ist er dick und saftig grün bepelzt, bis zum Seeufer.
Ja, ich muß wohl mal zu ihm rüber – morgen? Übermorgen?
Täglich blickte ich ihn von meinem Balkon aus abschätzend an, sagte respektvoll Guten Tag und Gute Nacht zu ihm – und sah den Mond hinter ihm aufsteigen, hinter der riesigen nackten Rückenlinie, die sich dann pechschwarz vom Abendhimmel abhob. Die Japaner besitzen ein klassisches Motiv von großartiger Schönheit: von Ishiyama aus den Herbstmond aufgehen sehen – über dem Biwasee! Nachdem es mir vergönnt war, den Mond über dem Biwasee zu bewundern, möchte ich nun Japan mal was erzählen: den Vollmond über dem Gambarogno aufgehen und seine lange Silberschleppe zwischen den beiden Brissago-Inseln [95] im Lago Maggiore glitzern sehen! Das ist auch nicht von Pappe, meine Herren!
Aber der Berg, der liegt da in schweigendes Dunkel gehüllt an den Abenden, von Sonne übergossen an den Tagen, scheinbar leblos – bis ich es einfach nicht mehr aushalte, an einem zeitigen Morgen nach Porto Ronco hinabsteige, auf dem kleinen Dampferchen den See kreuze und in Magadino an Land gehe, oder besser: In den Schatten des Gambarogno trete.
Es ist, als käme man in ein anderes Land. Man kommt in ein anderes Land! Wie kann das sein? Nur fünf Kilometer Seefläche liegt zwischen den beiden Ufern, und doch ist es anders hier drüben. Nicht so tropisch ausgedörrt, viel mehr lichtgrün als graugrün, nicht so von der Sonne ausgeglüht. Das ist es. Bis lang in den Vormittag hinein wirft der Bergrücken noch seinen Riesenschatten über die Laubenhänge und kleinen Ortschaften. Erst wenn die Sonne so hoch geklettert ist, daß sie über den 1738 Meter hohen Buckel des Gambarogno hinwegsehen kann, gibt es unten am Seehang des Berges Sonnenschein. Die milde Abendsonne verweilt dann zwar länger hier als am Nordufer, aber sie ist nicht mehr mörderisch sengend. Sie streichelt und liebkost die Früchte, läßt sie langsam ausreifen. Darum sind die untersten Terrassen des Gambarogno strotzende Obstgärten. Und von der besonderen Lage dieses Landstriches heißt es im Volksmund, in dem nur den Gambarognesen und den Bergziegen verständlichen Dialekt:
Gambarögn de la sfortuna
d'inverno senza soo,
e d'estaa senza lüna. [96]
Gambarogno, dir geht's schlimm:
winters siehst du keine Sonne,
und im Sommer keinen Mond.
Magadino. Schön, herrlich eingeschmiegt zwischen Berg und Seeufer. Totenstill. Es riecht so ausgestorben. Hier ging es einmal lebhaft zu. Der große Betrieb, den ein Handelsweg mit sich bringt, und der dazugehörige aufblühende Wohlstand. Vollgeladene Schiffe kamen den Lago Maggiore herauf. um hier ihre Lasten zu löschen: im Umschlaghafen Magadino. Hier lag einer der größten Transitwege des Handels – der sich von den Häfen des Mittelmeeres her durch die Po-Ebene zog, dann den Seeweg des Lago Maggiore bis zu seinem letzten Winkel Magadino benutzte, um wieder auf dem Landwege weiter nach Bellinzona und über den Gotthardpaß Zu führen. Als 1882 die letzten noch fehlenden Verbindungen mit den großen Eisenbahnlinien fertiggestellt wurden, da war es aus. Plötzlich wurde es tot hier, und dieser Landstrich versank in Vergessenheit. Die Schuppen und Lagerhäuser, die Kontorbauten und die Paläste der Handelsherren verödeten und verstaubten, der Verfall breitete sich aus.
Es bröckelt immer noch. Und es gibt auch immer noch vereinzelt Wohlstand, der dieser eigenartigen Todesstarre entgegenzuwirken versucht. Der Rest aber ist Armut, Schweigen und der kahle, riesige Bergrücken. Hier gibt es keine Attraktionen für vergnügungsfrohe Touristen. Wenn sie aus Versehen mal hier landen, trippeln sie verlegen auf dem schmalen Ufersaum herum, haben den See im Rücken und den barschen Berg vor sich, von dem sie nicht wissen was sie mit ihm anfangen sollen. Der Gambarogno weiß [97] das auch nicht, oder er will es nicht wissen. Er ist ein alter, rauher und unzugänglicher Herr, der am liebsten nicht gestört sein will. Und weil das alles Zusammen nicht gerade übermäßig einladend anmutet, verschwinden die Fremden eiligst wieder mit dem nächsten Schiff. Ein eigenwilliger Stammkreis von Nordschweizern hat das entdeckt und sich das himmlische Schweigen zu eigen gemacht. Sie entspannen sich hier ungestört von dem Tumult des Fremdenverkehrs. Eigensinnige Geschäftsleute und Künstler vor allem, die sich in dem Schweigen der Bergfalten verkriechen. »Spinnbrüder«, nennt sie die Schweizer Fotografin Angelica scherzhaft, die sich auch dort versteckt hält und sich Zu den vom Gambarogno bezauberten, fanatischen Eigenbrödlern bekennt.
Kein Gambarogno soll mich erschrecken, ich steige auf ihn los. Von Magadino geht es nach Vira, und dann keck und munter rauf nach Fosano. Dort verbindet ein Höhenweg die einsamen Dörfchen des Hanges. Es sind bescheidene, arme Dörfer, vielfach ziemlich zerfallen. Es scheint alles in einer anderen Zeit vor sich zu gehen, abseits vom Leben. Die »abgesonderten Gemeinden« wurden sie von dem übrigen Tessin geheißen. Da kann man sich ja vorstellen...
Die ersten Tropfen fallen, es fängt an zu regnen. Schwere und dicke Tropfen. Und nun schüttet es sich aus, es rauscht herab, so wie es nur im Tessin regnen kann. Ich flüchte mich in Fosanos Grotto.
Der Grotto ist ein Tessiner Begriff, es ist die Dorfschenke, der Halt im einsamen Dasein. Die Bezeichnung entstammt dem Wort »grotta«, was Grotte oder Höhle bedeutet. Und ursprünglich sind damit die Felshöhlen ge-[98]meint, in denen die Weinbauern heute noch ihren Wein kühl und bei niedriger Temperatur lagern, damit nichts von seinem duftigen Aroma verlorengeht. Die Bezeichnung Grotto wurde dann auch für die öffentlichen Weinschenken gebraucht.
Der Tessiner liebt guten Wein. Vom Weißwein ist er nicht begeistert. Wein muß bei ihm rot sein, leuchten und funkeln. Darum haben sie im ganzen Tessin fast ausnahmslos die kräftige blaue Nostrano-Traube angebaut, die französischen und piemontesischen Rebenarten entstammt. Ihre Blätter sind groß und kräftig, geben guten Schatten unter der Pergola, und die Trauben sind dickhäutig, mit sehr dunklem Saft, der wenig Säure enthält, überraschend würzig schmeckt und nach frischer Erde duftet. Aus diesen Trauben gewinnen sie ihren herrlichen Wein, den Nostrano, den »Unsrigen« oder »Einheimischen«. In jeder Berggegend, an jedem Hang, in jedem Tal, in jedem Dorf schmeckt er anders. Ein ewiger Grund zu neuen Proben und Überraschungen...
Die Regenhusche ist vorüber. Ich leere meinen Boccalino, mein Pokälchen, und ziehe weiter. Und da ergibt es sich, daß ich gerade den nächsten Dorfflecken erreichen kann, bevor ein neuer Regenschauer herabprasselt. Nun sitze ich in Piazzognas Grotto oder Dorfschenke oder Osteria – mir kann es gleich sein. Hier sitze ich gut, und der Wein ist ausgezeichnet, eine Kleinigkeit weniger herb als in Fosano, etwas perlend. Wenn er eingeschenkt wird, bildet sich ein hübscher Perlenstern auf der Oberfläche. Nicht übel. Es regnet immer noch. Ich schließe Freundschaft mit einer Katze. Wir bestellen uns Brot und Salami und noch einen Viertelliter von dem Roten. Ich höre ein paar Män-[99]nern zu, die am Vormittag im Grotto sitzen und Mengen von Zeit haben, um Wein zu trinken und eifrig mit den Armen fuchtelnd Forellenfischerei zu diskutieren. Als es ans Bezahlen geht, verschwindet die Katze, dafür darf ich aber auch den Wein allein trinken. Übrigens hat es aufgehört zu regnen.
Weiter. Vairano, Taverna, Casenzano – nein, ich werde mich hüten, alle Stationen zwischen den Regenschauern aufzuzählen. Sagen wir, zusammenfassend: so geht es von Grotto zu Grotto, bis nach S. Abbondio, und das liegt so wunderbar schön, und dort haben sie einen so gemütlichen Grotto und einen so vorzüglichen Nostrano – daß ich gerührt sitzen bleibe und mir vormache, es regnet auch noch den Rest des Tages.
Dieses glückliche S. Abbondio liegt auf einer Bergkuppe, hoch über der übrigen Landschaft, hoch über dem weiten See. Und sein Grotto ist sein ein und alles, seine einzige Weinschenke und sein Speisehaus, sein Gasthaus und das einzige Kaufmannsgeschäft am Orte. Und er ist überhaupt nicht zu verfehlen, der Grotto. Ich kann nicht dafür, aber er liegt direkt rechter Hand der untersten Stufe einer steilen Treppe, die hinauf zur Kirche, zum Friedhof und zum Himmel führt.
Am Eingang zum Grotto aber, auf eine große Mauer, da haben sie ein farbenfrohes und man kann schon sagen auch sonst sehr heiteres Fresko malen lassen. Moment mal, ich muß nur erst mein Pokälchen... so, Salute! Ausgezeichnet! Wirklich, der würzigste Nostrano, den ich getrunken habe. So was habe ich bisher noch nirgends im Tessin gefunden. Ein ziemlich gewichtiger, um nicht zu sagen schwerer Wein. Ganz dunkel, fast schwarzrot glühend. Und ein [100] Aroma – wie eine Gewürzhandlung. Er schmeckt nach, nach... das ist nicht so leicht zu bestimmen. Ich koste nochmal und nochmal. Und bei jeder Probe ergeben sich neue, leise Anklänge, neue Nuancen...
Ja, die Malerei also. Da haben sie sich das gesamte Paradies hinmalen lassen. Es ist eine grüne Wildnis, in der es von großen und kleinen Tieren wimmelt, die alle so fidel aussehen, als hätten sie ihr Leben lang nur von S. Abbondios Nostrano gelebt. Und das haben sie. Oder genauer gesagt, der Maler. Denn während er das Paradies schuf, verlangte er gratis Wein und trank und malte und malte und trank. Na, da haben wir die Schlange. Sie windet sich fett und träge und ist sichtlich desorientiert. Denn das mit dem Apfel klappt nicht. Da stimmt was nicht. Ganz gewiß gibt es auch Adam und Eva. Aber es ist ein Tessiner Adam und eine Tessiner Eva, obendrein von Gambarogno, von S. Abbondio. Und die beiden sitzen da, unbekümmert um Schlange, Apfel und den ganzen restlichen Kummer. Sie sitzen da und feiern den Sündenfall mit rotem Nostrano.
Das ist betörend.
Aber nach was schmeckt denn der Wein eigentlich? Ich kann es nicht... Mitten in meinen angestrengten Spekulationen erblicke ich auch hier, was ich in allen Weinschenken zwischen Magadino und S. Abbondio mit wachsendem Interesse beobachtete. Das erstaunliche Ideal männlichen Daseins, hier erlebe ich es wieder: der Mann, der endlich das Wort erobert hat und spricht. Um ihn herum der Kreis gespannter Zuhörer. Er kann unmöglich dabei sitzen bleiben, er springt auf, geht hin und her auf dem Steinfußboden, auf und ab, wirkungsvoll im Rhythmus der Kraft seiner Argumente. Er spricht mit dem Mund, den [101] Augen, den Schultern, Armen und Händen, mit dem ganzen Körper. Mit großartiger aristokratischer Geste läßt er ein paar Worte seitlich über die Schulter fallen. Jetzt ist er ein unabhängiger und freiheitsstolzer Mann, ein Fürst des Gambarogno, der es den anderen ordentlich gibt. Er wendet sich plötzlich um, dreht sich, spuckt auf den Boden, verächtlich bis dort hinaus, fleht, ihn doch zu verstehen, bittet, droht schicksalsschwer. Die andern hören, sitzen und lauschen. Ab und zu feuern sie ihn mit Zurufen an, mit Einwänden, mit einem Brummen, Räuspern, Spucken, Schnaufen. Endlich, als Schlußeffekt: der Mann läßt sich krachend auf seinen Stuhl fallen. Bumm! Punkt. Er hat ihnen seine Meinung über die weltbewegenden politischen Ereignisse des Gambarogno gesagt. Ein anderer spricht, erst ein paar Bemerkungen, gedämpft, fühlt sich vor, dann wird er bestimmter, dann fängt er an mit den Armen zu fuchteln, erhebt sich langsam, die übrigen beständig im Auge behaltend, stolziert hin und... Und jetzt kommt das Großartige, das worauf es ankommt: jedesmal wenn der hitzig Debattierende einen Satz zu Ende gebracht hat, jedesmal wenn er ein Argument hingeknallt hat, dann fahren seine Hände wie ein Blitz zurück in die Hosentaschen oder in die Gesäßtaschen. Das unvermeidliche Resultat: alle diese Männer, selbst die mit den ganz neuen Hosen, haben total zerschlissene Seiten- und Gesäßtaschen!
Prachtvoll.
Der Wein? Ach so, der Nostrano, der schmeckt... ich weiß wirklich nicht. Ich koste und probiere und schmecke.
Aus einem Tag sind fünf Tage geworden. Gewiß, es regnete auch etwas dazwischen, zugegeben, und ich habe mich in dieser Zeit rege über die äußersten Winkel des [102] Gambarogno erkundigt, wo ich nun hin will, über das, was sozusagen hinter Gottes und des Gambarognos Rücken liegt, im ewigen Schweigen. Auch sonst habe ich mich ganz hübsch umgesehen, war nahe dabei, in einem Talgrunde die Ruine einer Wassermühle kaufen zu wollen, habe entdeckt, wo die Fotografin Angelica sich versteckt hält, und habe einem teuren Verleger in Wien geschrieben, wo er mich zu suchen hätte, falls ich im finstersten Innern des Gambarogno verschollen bleiben sollte. Denn Wien ist so schön weit weg. Es dauert lange, bis der mich mal in Wien vermißt. Und inzwischen kann ich es ungestört gut haben. Man kann also kaum sagen, daß ich geradezu untätig war, immerhin...
Immerhin sitze ich wahrhaftig nun schon den fünften Tag in diesem S. Abbondio und versuche herauszufinden. .. Übrigens ziehe ich jetzt weiter. Zu meiner großen Beruhigung ist mir nämlich eingefallen, welch zwingendes Argument ich besitze, um wieder nach S. Abbondio zu kommen. Wer läßt sich denn einen solchen Grund entgehen? Man wird sich doch nicht seine besten Argumente selber verderben und eingestehen, daß der Wein nach – da hatte ich es gerade! – nach was schmeckt er doch?
Nun ist es wieder weg. [103]
Manchmal ist uns das Schicksal gnädig gesinnt, und wir begegnen unseren Traumbildern in der Wirklichkeit. Da sitze ich nun auf meinem Traum von einem Balkon und denke an die langen Jahre des Unterwegsseins, in denen es sich ein paarmal meldete, dieses Gefühl: Hier, hier ist es, hier sollte man wohnen, dieses Haus wäre...
Es sprach nicht von Größe und Reichtum und Pracht zu mir. Kein Schloß, keine mächtigen Säle, keine pompöse Villa. Nein, das Verborgene, das halb Vergessene sprach zu mir. Da war auf einmal der zündende Funke, der sofort den Kontakt schloß: ich fühlte mich heimisch, ich war heimgekommen. Es war einfach da, so selbstverständlich, als ob es schon immer auf mich gewartet hätte Es schien in seiner Umgebung aufgewachsen zu sein wie die Bäume. Es gibt Häuser, die man sich nicht in eine andere Landschaft verpflanzt denken könnte. Sie gehören einfach da hin, wo sie sich finden. Nirgends sonstwo auf der Welt wären sie anzubringen oder zu finden.
Etwas altersgrau muß so ein Haus sein, gezeichnet von den Spuren der Zeit, durch den Umgang mit Generationen abgeschliffen, gebeizt von langer Berührung mit mancherlei menschlichen Wesen. So hat es im Laufe der Jahre sein bestimmtes, einmaliges Gesicht bekommen. Es prägte und [82] wurde geprägt, erhielt Charakter. Es ist irgendwie ein bißchen verfallen, ein wenig unordentlich, und hat diesen ehrwürdigen Hauch einer ziemlich unbestimmbaren Patina. Es darf nicht größer sein, als daß man es mit seiner Anwesenheit zu beleben vermag. Mit solchen etwas verbauten Räumen, deren Wände zu einem flüstern: Ach ja, danke, es ging, hier ist geboren und gestorben worden, hier haben sie gelebt, geliebt und gelitten – nun probier du es mal! Nachts träumt so ein Haus von seiner Vergangenheit, es streckt sich, es legt sich zurecht im unruhigen Schlaf, es knackt im Gebälk, es tickt, irgend was klappert und raschelt im Luftzug, es stöhnt bei schwerem Gewitter und ächzt im Sturm. So ein Haus sollte es sein.
Manchmal, im Laufe der Jährchen, packte es mich. Da war es plötzlich und sprach zu mir, und ich lauschte. Wir verstanden uns auf den ersten Blick. Einmal war es ein altes und ziemlich verschrumpeltes Haus, noch aus der spanischen Kolonial-Epoche, ganz von Blumen überhäuft, mit einem großen Patio, duftdurchtränkt, von wuchernden Gebüsch fast erstickt, mit bröckligem, sattelartig eingesunkenem Ziegeldach. Das stand bei dem mexikanischen Töpferdörfchen Tlaquepaque. Indianerinnen kamen auf bloßen Füßen lautlos zu seinem Brunnen, um in irdenen Krügen Wasser zu holen.
Ein andermal ein schmuckes, altersgebräuntes japanisches Holzhäuschen, reizend wie ein Spielzeug, mit Schiebetüren und Treppchen, wo man es absolut nicht erwartete. Von der Schlafmatte aus konnte man auf einen kleinen Gartenteich blicken und Goldfische füttern. Das lag hinter dem alten Fuchstempel, in dem abseitigen Küstendorf Anamori, am Rande des Stillen Ozeans. [83]
Und dann war es ein chinesischer Yamen, in Würde gealtert und von Familie zu Familie vererbt, und es hatte die bezauberndsten und verstecktesten Ausgänge und Türen zu unzähligen kleinen Höfen und Höfchen, in denen man sich wundervoll verirren und endlos verlaufen konnte. Das war in der Straße Pei Ho Yen, die verschlafen am Ufer eines Kanals liegt, in der schönsten Stadt der Welt, in Peking.
Und dann auf der Pityusen-Insel Ibiza, in San Miguel, wohin sich nur selten ein Fremder verirrt, auf einer schroffen Klippe aus vulkanischem Gestein, ein kühnes Haus mit einer Stirn von maurischer Großzügigkeit, den Blick erhaben über all den kleinlichen Kram des Alltags hinweg auf das Gestade des Mittelmeeres gerichtet.
Verliebt sah ich mir diese Häuser an. Und nachdem sie mich ein Weilchen beherbergt hatten, drückte ich ihr Bild mit der wehen Innigkeit des Abschiedsnehmenden an mein Herz – und zog weiter.
Vorbei.
Glaubte ich. Aber etwas blieb in mir haften, keimte und wuchs sich stark. Eine sehnsüchtige Vorstellung: das Wunschhaus.
Der Krieg gab mir anderes zu denken. Die Verleger und Redakteure auch. Wir wurden alle so nüchtern, so ernst und sachlich. Wir leben im Schatten der Atombombe, der Zwangsbestimmungen und der endlosen Konferenzen, die uns immer nervöser machen. Wir sind keine Kinder mehr, leider, unsere Phantasie wurde ausgezehrt, und der Weltkrieg hat alle unsere Sehnsüchte und Wünsche über den Haufen gerannt und unter Blut und Tränen verschüttet. Aus müden Augen blicken wir uns an, arm und hundetraurig. Unsere Träume endeten als lahme Krüppel. Seit lan-[84; Fotografie: Die beiden Brissago-Inseln]

gem sind unsere Wunschhäuser eingestürzt – Ruinen. Das Dasein schmeckt nach Ersatz.
So ist es doch.
Aber die Erde kümmert sich wenig darum, sie grünt ganz überschwänglich optimistisch, die Sonne strahlt heißeste Lebensbejahung aus, die Blumen feiern duftende Schönheitswettbewerbe, und es ist unwiderruflich Frühling.
So ist es doch auch!
Und ich habe wieder ein Wunschhaus gefunden. Und liebe es heißer und schmerzlicher als jemals eines der andern. Denn unser Leben geht nun mal heute vor sich, und die Vergangenheit... Sag mal, ist es eigentlich hier am Lago Maggiore immer so friedlich gewesen, wie es heute aussieht? Haben die es besser gehabt, sind die immer vor allem verschont geblieben?
Na also. Natürlich nicht, die haben auch ihren schweren Kummer gehabt. Diese Landschaft, diese Dörfer, diese Flecken, das war bereits zur Bronzezeit ein von ligurischen Stämmen besetztes Gebiet. Dann kamen, sahen und herrschten die keltischen Barbaren. Im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung tauchten die Römer auf und verschwanden erst wieder im dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung. Ihre Wachttürme, ihre Straßen, ihre Gräber, sie liegen heute noch hier. Der lombardische Adel regierte mit harter Hand im dunklen Mittelalter, über das man so erstaunlich wenig weiß. Und Friedrich Barbarossa befaßte sich im 12. Jahrhundert mit diesem Landstrich. 1260 griffen die Comasker Locarno an und brandschatzten es... Nun liegt es dösig da unten in der Sonne. Von meinem Balkon kann ich es sehen, ohne mich vom Stuhl zu erheben...
1342 fuhr eine Mailänder Flotte den Lago Maggiore hin-[85]auf, um Locarno abermals zu vernichten... Die haben wirklich auch nichts zu lachen gehabt... 1512 wurde Locarno wieder belagert und ein Jahr später von den zwölf Schweizer Kantonen erobert. 1515 war die furchtbare Überschwemmungskatastrophe des Tessinflusses. Erhebliches Dunkel senkt sich über das schwarze 16. Jahrhundert und seine fanatischen Religionskämpfe. Dazu wütete die Pest und dezimierte die Bevölkerung... Du lieber Himmel, es fehlte auch hier ganz gewiß nicht an tückischen Heimsuchungen. Erst 1803 tritt dieser Landstrich zusammen mit dem übrigen Tessin als Kanton in die Eidgenossenschaft der Schweiz ein. Das alles hat diese lächelnde Landschaft über sich ergehen lassen müssen. Jetzt atmet sie Frieden. Es ist so still. Im Dickicht unter meinem Balkon singen die Zikaden ungestört. Einen Wasserweg von Locarno nach Venedig hatten sie schon vor Jahrhunderten geplant, entsinne ich mich in einer Geschichtsschreibung gelesen zu haben. Nicht übel, das gäbe eine großartige Kanoetour.
Mein Wunschhaus denkt sich seinen Teil: wenn man erst mal so viel durchgemacht hat wie ich... na, Schwamm drüber. Es steht felsenfest auf den Felsen. Und es ist anzunehmen, daß es das mindestens schon seit fünfhundert Jahren tut. Ein viertel Jahrhundert mehr oder weniger, scheint es nachsichtig zu denken, was macht mir das schon aus. Die Tage vergehen, verstreichen lautlos. Man vergißt den Kalender. Welche Ruhe. Kein Telephon, kein Radio, kein Grammophon, keine Autos, keine Weckeruhr, keine Türklingel, niemand kommt und stört, niemand übt auf einem Klavier. Zweimal, in den ersten Tagen, steig ich nach Brissago hinab und kaufte eine Zeitung, dann vergaß ich auch das. Die zweite liegt immer noch ungelesen da. Neuigkeit-[86; Zeichnung]

en? Wie fern und unwirklich! Die Blätter der Lorbeerbäume klappern im Lufthauch. Die echten Kastanienwälder am Berghang setzen bald Früchte an. Die Magnolienbäume duften aus großen Alabasterblütenschalen. Das Haus träumt, ich auch. Der Efeu rankt sich, wie er es seit Jahrhunderten [87] für gut und richtig befindet. Alles geht seinen natürlichen Gang.
Die Eidechsen klettern an der unebenen Hauswand und an den armdicken Glyzinienranken herauf und sonnen sich auf meinem Balkon. Selten, selten mal kommt ein Fremder vorbei, der kopfschüttelnd erklärt: das wäre nichts für ihn, jedesmal unter Lebensgefahr über diese Treppen sein Zimmer zu erklettern, und überhaupt, ob ich mir darüber klar wäre, daß dieser ganze alte Zunder vielleicht jeden Augenblick vom Felsen abrutschen und ein paar hundert Meter den Abhang hinunterrollen könnte?
Ich nicke vergnügt und schweige mich aus.
Hier will ich ein Weilchen wohnen und mir das Tessin ansehen. Von hier starte ich meine Expeditionen, und nach hier werde ich beruhigt zurückkehren und – beinahe hätte ich gesagt, und meine Katzen streicheln. Denn natürlich sollte man eine Katze haben. Oder zwei, zwei Katzen müßten da sein. Lautlose Tiere, die ruhig und würdig abgemessen durch die Stille gleiten, schmiegsam und unhörbar. So ein bißchen seidenweiches Leben, das den Kopf hebt und aus grünlichen Augenspalten glitzert: Guten Abend, kommst du schon nach Hause? So ein Schatten, der einem aus dem Dunkel entgegen gegeistert kommt: Da bis du ja! So sollte es sein.
Unmerklich ergreife ich Besitz von meinem Wunschhaus, richte mich ein. Wie wäre es wenn – wenn das mein Haus wäre, wenn ich immer hier bleiben, hier wohnen könnte? In Gedanken schleppe ich Bücher und Bilder herbei, rücke Möbel herum... Nein, nicht hier, etwas mehr nach links in die Ecke mit dem Schreibtisch, weg vom Balkon, – sonst bekomme ich nie mehr eine Zeile fertig, sonst träume ich [88] immer nur in diese Landschaft hinein. Lieber noch ein Stückchen weiter, ja, da steht also der Tisch. Und drüben ein großes Regal mit Büchern. Hm. Die Wände sind weiß gekalkt. Die Deckenbalken sind aus dem Holz echter Kastanien und dunkelbraun, fast schwarz, sehr schön. Der Steinfußboden ist von einer wunderlich besoffenen Farbe, die zwischen Veilchenblau und Fliederlila schwankt und sich nicht richtig zu entscheiden vermag, was sie eigentlich sein will. Ich werde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, fällt mir gar nicht ein. Drüben in der Ecke soll ein niedriger Diwan stehen, mit einer Decke in kräftigen, klaren Farben, sehr breit, sehr einladend. Wen zu was einladend? Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen doch, daß ich mit der Einrichtung meines Hauses – ja, m e i n e s, Sie Stiesel! – beschäftigt bin!
So, und nun die Bilder, streng im Stil, farbig wie Blumen, – japanische oder chinesische sollen da hängen. Und endlich so wenig Möbel wie möglich. Ein massives Schubfachmöbel, in dem viel Platz zum Herumwühlen ist. Und einen Schrank, in den sich alles hineinquetschen läßt, was man aus den Augen haben will. Für die kühle Jahreszeit einen dicken, weichen, warmen Teppich in heißglühenden Farben, Belutschistan. Und einen Lehnstuhl selbstverständlich, in dem es sich ruhen, lesen und entspannen läßt. Und auch, damit man weiß, wo man hin soll, wenn man von der Schreibmaschine wegläuft. Ein kleines Tischchen fehlt noch, zwischen Lehnstuhl und Diwan gerückt, über das hinweg man bei Kaffee oder Wein plaudern kann, – denn natürlich würde Ditte angerauscht kommen und... Nein, ich habe wirklich keine Zeit zu Erklärungen, ich richte mein Haus ein, jawohl! [89]
Auf die schwere Balkentür aber, da will ich einen Vers von Eugen Skasa-Weiß schreiben, von diesem Vagabund, der viel heiterer war und viel weniger hochtrabend als der säuerliche Herr Geheimrat Wolfgang. Und der Spruch lautet:
Es sollen Spinnen, Katzen, Kröten um mich sein
und du.
Der liebe Gott darf auch herein,
doch freilich nur so ab und zu.
Und überdies wird nachher viel erzählt.
Die Barschaft wird verfüttert.
Zudem: an langen Abenden ist's schön,
wenn man sich quält.
Die Viecher sich, und wir uns auch;
und selbst der liebe Gott wird manchmal sehr erbittert.
So muß es meistens sehr harmonisch sein,
mit Spinnen, Katzen, Kröten und mit dir –
(der liebe Gott darf ja bisweilen auch herein.)
Oh: komm zu mir!
Warum nicht?
Basta. So sieht es aus.
Gleich mal probieren: Da steige ich also die krumme Treppe hinauf Der große Schlüssel knirscht im Schloß. Die Balkentür kreischt passend schauerlich in den Angeln. Ich stecke ein Licht an, schiebe den Eisenbalken innen vor die Tür, sehe mich um. Da liegen meine beiden Katzen auf dem Diwan. Da sie an den Glyzinienstämmen rauf- und runterklettern und die Balkontüren immer weit offenstehen, können sie gehen und kommen wann es ihnen paßt. Da liegen sie, dekorativ und oberfaul, blinzeln mich aus ihren Onyxaugen weltweise an, spekulieren über ihre In-[90]karnationen, schnurren dabei wie tibetanische Gebetsmühlen, meditieren, und sind übrigens völlig gleichgültig gegenüber allem, was ich von ihnen denken mag. Wir respektieren uns gegenseitig sehr.
Ein Weilchen bleibe ich an der Balkontür stehen, konstatiere, daß der Schnee auf dem Gipfel des Monte Tamaro schon wieder etwas mehr eingeschrumpft ist und eine weiße Sommerabendwolke von Italien her ohne Paß über die Grenze gesegelt kommt.
Dann setze ich mich zur Schreibmaschine, spanne einen neuen, herrlich weißen Papierbogen ein und – stopfe mir besinnlich die Tabakspfeife.
Was kann ich hier alles schreiben! Meine allerschönsten Bücher. Das eine immer sonniger und menschenfreundlicher als das andere. Meine Verleger reiben sich schmunzelnd die Hände, ihre versteinerten Herzen schmelzen, und sie schicken mir unaufgefordert Vorschüsse. So was ist in der ganzen Literaturgeschichte noch nicht dagewesen. Ich werde ganz gerührt und sende ihnen in einem Anfall von übertriebenem Altruismus eine große Kiste dieser berühmten Brissago-Zigarren, die mit dem gelben Strohhalm durch den langen schrumpligen Tabaksleib. Gott behüte sie! – die Zigarren.
So wunderbar unbequem zu erreichen wohne ich, keiner kommt und plagt mich mit seinem Familienstreit oder seinen Ehescheidungsgeschichten. Keiner findet mich hier. Und wenn mich doch mal jemand aufstöbert, dann bleibt er mutlos unten stehen, sieht sich die halsbrecherischen Treppen aus sicherer Entfernung an, überlegt sich sein Vorhaben dreimal und denkt: Um Himmels willen, von da oben die Treppe runtergeschmissen werden? Danke, so viel [91] ist der Besuch nun auch nicht wert! Denkt's und dreht sich um.
Ich sehe ihn dahinziehen und atme erleichtert auf.
Ab und zu kommt mal ein guter Freund und bleibt ein paar Tage oder Wochen. Wir streifen zusammen in den einsamen Bergen herum, probieren den Wein der Grottos stiller Dörfer, in den abgelegensten Tälern. Wir ordnen wieder mal die neuesten Klatschgeschichten von Zürich bis Stockholm, wir lachen herzlich, trinken ruhig und regelmäßig, und wir – nein, die Literaturdiskussionen sparen wir uns. Es gibt ohnehin schon so viel Hoffnungsloses auf dieser armen Welt. Verschont mich mit den gutgemeinten Vorschlägen, was für Bücher ich nun wieder unbedingt gelesen haben muß, um mitreden zu können.
Liebe Freunde, ich verspüre keinen Bedarf, ich besitze nicht den sportlichen Ehrgeiz, durchaus überall mitreden zu müssen. Darf ich mich damit begnügen, ab und zu mal was Unpassendes dazwischen zu brabbeln?
Abends sitzen wir dann beschaulich mit einer pechschwarzen Brasil auf dem Balkon und fabulieren darüber, wer wohl hier »einst gewohnt habe«, und was hier so alles vor sich gegangen sein mag. Wir erfinden hübsche und noch hübschere und allerhübscheste und weniger hübsche und gar nicht mehr hübsche, aber sehr nette Geschichten. Wir dichten uns für ein paar hundert Jahre Generationen von Weinbauern und Wilderern, Madonnenmalern und Seepiraten, Schmugglern und Handwerkern zusammen und erfinden prachtvolle Ahnengalerien von märchenhaft schönen und märchenhaft schlimmen Mädchen und Frauen für sie. Wir beleben die Gegend mit Geistern und Gespenstern: »Da zischte das Berggespenst den Quellgeist [92] und den Waldgeist an: Einmal soll dieses Haus, dieses verschwundene Wunschhaus...«
»Hört doch auf damit, das mag ich nicht hören«, unterbricht uns Ditte, während sie von meinem Whiskyglas nippt, »jetzt werdet ihr gruselig kindisch, und ich will ins Bett. Gute Nacht!«
So gehen die Jahre. Ich werde eine Reihe merkwürdiger Bücher geschrieben haben. Meine Verleger werden sich die gepflegten grauen Bärte streicheln. Ein paarmal werde ich verreist sein, nach dem See Dangra Yum oder zum oberen Lauf des Song-ka, werde meine Freunde in ein paar Erdteilen wieder mal besucht haben und werde dabei nachsehen, was in Totonicapam und in Sonsonate los ist. Aber selbst in Tegucicalpa noch werde ich sitzen und plötzlich von einem wehmütigen Gefühl zerrissen werden. Still werde ich dann vor mich hinlächeln und sehnsüchtig ergriffen denken: Es mag ja hier ganz nett sein, aber – aber bald bin ich wieder am Lago Maggiore!
Das Wunschhaus wird immer warten, wird immer bereitstehen, wird mich immer wieder liebevoll aufnehmen. Wenn es mir in der großen Welt zu kühl wird, wenn ich ernstlich mit der Literatur spaßen will – dann werde ich mich hierher zurückschleichen, werde meine krumme und halsbrecherische Treppe hinaufklettern, werde den breiten, schweren Eisenriegel vor die Tür schieben, mich an die offene Balkontür lehnen, meine müden Augen wieder im Liebreiz des Sees baden und auspusten: So!
Ach, ich weiß, ich weiß... Und mir wird ganz miserabel zumute, wenn ich an den Tag denke, an dem ich meine sieben Sachen zusammensuche, in den Koffer werfe, und von hier abhauen muß. So was dürfte nie aufhören – hat [93] mir mal ein Mädchen unter ganz bestimmten Umständen erklärt. Nicht so unrecht. Im Jammertal unserer Welt ist die Seligkeit immer nur kärglich kurz bemessen.
Zum Donnerwetter, gibt es denn keine Wunder mehr?
Wenn es eines Tages soweit ist, wenn ich endlich ziehen muß, dann werde ich mich noch zuletzt auf meinen Balkon begeben, um die ganze Offenbarung nochmal ins Herz zu schließen und flehentlich zu murmeln:
Oh, heiliger Nepomuk, du Schutzpatron der Wanderer und Scholaren, der fahrenden Sänger und der Heimatlosen, der Sehnsüchtigen und Liebenden – laß ein Wunder geschehen, schenk mir das Wunschhaus am Lago Maggiore.
Amen. [94]
MONTE VERITÀ
nun der ewige Berg des Tessins!
Die wohl vorläufig letzte Überraschung in der Geschichte des Berges erreicht mich in Form einer sachlichen Bekanntmachung der Tessiner Regierung: Baron Eduard von der Heydt hat – wie eine notarielle Urkunde vom 4. Januar 1956 bestätigt – sein Besitztum Monte Verita dem Kanton geschenkt.
Zu dieser großzügigen Geste, die den heiß umstrittenen Berg für alle Zukunft einem ungewissen Schicksal enthebt, seien einige Bemerkungen des Barons gefügt:
»Ich habe mir lediglich ausbedungen, daß ich zu meinen Lebzeiten die uneingeschränkte Verwaltung des Besitztums behalte. Nach außen wird sich gar nichts ändern, solange ich lebe, auch das Hotel wird weitergeführt. Der Zweck der Schenkung besteht darin, Monte Verita als kulturelles und künstlerisches Zentrum zu erhalten. Über die Ausgestaltung im einzelnen lasse ich dem Kanton freie Hand, da ich die Regierung nicht durch Bedingungen und Klauseln einengen wollte.«
Und damit schließt endlich der Kampf um diesen Berg, der siegte und sich für alle Zeiten seine geweihte Bestimmung sicherte. [76]
Das Orakel des Berges
Nur eine Viertelstunde von dem Hotel und seinem wohlgepflegten Park entfernt sieht die Welt des Monte Verita gänzlich anders aus. Ein fußbreiter Steg in der Wildnis, der schroff abfällt, sich wieder schräg aufwärts schlängelt, durch einen Dschungel von Bambus, vorbei an blühenden Mimosen und den geblichweiß leuchtenden Blüten der Lorbeerbäume. Steintreppen. Ein leeres Haus. Kein menschlicher Laut. Wieder schmale Treppen aus Felsgestein, aufwärts und abwärts und wieder aufwärts. Weiter, vorbei an einer mit fremdartigen, lilaroten Blumen überrankten Mauer. Ein alter Brunnenschacht, ein moosbewachsener weiblicher Torso aus müdem Stein, in trotzig verschlossener Haltung und mit dem Lächeln smaragdgrüner Brüste. Ein Pfad, der unter einer weinbewachsenen Pergola zu einem Platz mit einem Tisch aus rauhem Stein führt. Daneben eine Steinbank. Auf der Bank ein Mensch mit knisternd weißem Haar, das lang über Schulter und Nacken herabfällt. Eine alte Strickjacke und Kniehosen sind die Bekleidung. Die nackten Beine steckten in ausgetretenen Latschen. Und dieser Mensch sitzt da mit weit von sich gespreizten Beinen, schneidet sich seelenruhig einen Apfel durch, kaut wohlgefällig, spuckt die Reste aus.
Erst als ich direkt vor ihm stehe, hebt er langsam den Kopf, sieht mich bedächtig an. Aber welcher Blick! Aus dem greisen Gesicht leuchten die klaren, festen und springlebendigen Augen eines jungen Mannes.
»Guten Tag, Carlo, es freut mich, dich wieder zu sehen.«
Carlo Vester reicht mir die Hand, heißt mich willkom-[77; Zeichnung]

men, nicht freundlich und bietet mir so selbstverständlich einen Platz auf der großen Steinbank an, als ob wir uns jeden Tag träfen. Dabei ist es eine kleine Ewigkeit her, seitdem wir uns sahen. [78]
»Einen Augenblick, ich hole nur den Wein und das Brot«, sagt er und schon ist er weg, behändig wie ein Junge.
Es ist nicht Wein und Brot, es ist der Wein und das Brot. Der Wein ist sein eigener, das Brot bäckt er selbst. Der alte, unverwüstliche Carlo Vester, der letzte wirkliche Naturmensch, der letzte Pionier des Monte Verita, der Veteran, der sie alle zusammen überlebte. Alles hat er miterlebt, die ganze Geschichte des Berges. Nun ist er selbst ein Stück Geschichte geworden. Seine zerfurchten Gesichtszüge sind wie aus der Felsenwand des Berges gehauen.
Wir trinken seinen roten Wein und ich frage geradezu: Monte Verita, der Hotelbetrieb?
»Ist den Wenigen nun vorbehalten, die es sich leisten können, von fünfundzwanzig Schweizer Franken aufwärts pro Tag dafür zu bezahlen. Man kann es auch für fünfzig bekommen. Wie man will, es steht einem ja frei«, antwortet er.
Und Baron von der Heydt?
»Er hat doch sein Werk vollbracht, großartig, – großartig schöne Kulissen.« Vester macht eine Pause, bekommt ein schelmisches Leuchten in den Augen. »Oder auch der Fluch des Geldes, wie es einem behagt.«
Und wie steht es mit dem Kulturleben auf dem Monte Verita?
»Kuultuur?« wiederholt Vester und wiegt das Wort auf der Zunge. »Es gibt ja keine mehr, es ist keine Kultur mehr übrig, weder hier auf dem Berg noch in Europa. Die ist kaputtgeschlagen, und die Reste sind schon lange aufgebraucht. Wer hat denn die überschüssige Kraft dazu, neue Kultur zu schaffen?« Er steckt sich eine lange Brissago-Zigarre an. »Asien! Vielleicht Asien, sicher Asien. Von dort [79] wird es kommen. Von China! Die Welt wird mit China rechnen müssen. Vielleicht nur ein halbes Jahrhundert, dann wird man etwas zu sehen bekommen. Es wendet sich jetzt – zum Besseren, zum Positiven, es geht wieder aufwärts. Noch in unserer Zeit, in diesem halben Jahrhundert.«
Das Orakel des Berges der Wahrheit spricht.
Und ich frage nach der Wahrheit des Berges.
»Frage, und du bekommst vielleicht eine Antwort«, sagt Carlo Vester darauf gemütlich lächelnd. »Frage nicht, und du findest die Antwort. Darum schweig!«
Über ein halbes Jahrhundert brauchte das Himmelsstürmertum des Monte Verita um die Wahrheit zu erkennen: das Ziel liegt nicht darin, die ganze Welt umkrempeln zu wollen, sondern darin, sich sein Herz zu bewahren und Frieden mit sich selbst und seiner Umwelt schließen zu können.
Das ist die alte Wahrheit, die der eingesessenen Tessiner Bevölkerung schon immer bekannt war und nach der sie immer gelebt hat. Der Ring aller Lebensweisheit hat sich geschlossen, und es kann wieder von vorn beginnen.
Das Tessin ist und bleibt ein barockes Land.
Tief unter mir liegt Ascona. Dort kann man sie allezusammen heute noch treffen, sie sind immer noch hier, nur in einer neuen Ausgabe, eine neue Generation in Zellophanpackung: Psychoanalyseapostel und Astrologiepropheten, Astralbräute und Gemüsefanatiker, Dollarsucher und Picassoepigonen, und die ewige Prozession hysterischer Edelnymphen. Dort unten sitzen sie immer noch.
Beruhigt kann ich meines Weges ziehen, das Orakel des Monte Verita antwortete mir: Es ist nicht zu befürchten, daß sich vorläufig hier etwas ändern wird! [80]
Bei der Wegkapelle mit dem alten, geheimnisvollen Bilde der Madonna Nera, der Schwarzen Madonna, pflücke ich einen Zweig sprühend roter Blumen und lege sie der Madonna zu Füßen. Ob man eine schwarze Madonna zum Erröten bringen kann?
Ich bekomme ein dunkles Lächeln geschenkt und mache mich fort zu meinem Balkon der Wahrheit. [81]
Resignation auf Herbstchrysanthemen
Er liegt immer noch da, der Berg mit dieser verzauberten und bezaubernden Aussicht und mit dieser Stimmung, der sich keiner zu entziehen vermag. Die schimmernde Fläche des Sees, die Wucht der Berge, und die fast tropische Vegetation des durch die Alpenkette vor allen rauhen Winden abgeschirmten 46. Breitengrades. Und mitten auf dem Berg das Hotel, offen für Licht und Luft, durchleuchtet von Sonne. Aus hellem Beton und Glas, Nickel und Edelhölzern, mit kostbaren Teppichen und den ausgesuchtesten Kunstwerken aller Zeiten.
An einem bescheidenen Eckplatz des Restaurants sitzt mir gegenüber ein sonnengebräunter Mann in eleganter Kleidung, mit untadelig gebundenem Schlips. Er trinkt Mokka und raucht Zigaretten. Er macht einen tief in sich selbst ruhenden, behaglich harmonischen Eindruck. Die Nervosität der großen unruhigen Welt scheint ihm nichts anhaben zu können. Sein Blick ist offen, mild und sicher.
Es ist Dr. Eduard Freiherr von der Heydt, der Besitzer des Monte Verita. »Der Baron« sagen die Leute, wenn sie von ihm sprechen. Sein zuweilen etwas müdes Lächeln erinnert an den Zug weiser Nachsicht im Antlitz buddhistischer Skulpturen. Wenn er sich auf seinem Stuhl etwas vorbeugt, kann ich etwas von dem Kissen aus feinem asiatischem Seidenbrokat sehen, auf dem er sitzt. Er sieht sehr spannend aus.
Wir sprechen von den vergangenen zwei Jahrzehnten, über den Zweiten Weltkrieg, über geschlossene Grenzen, unbehagliche Auswirkungen in der Schweiz, über die jetzige [73] allgemeine Unsicherheit, und eine darauf zurückzuführende stillere Periode des Berges. Der Baron ist während des Krieges Schweizer Staatsbürger geworden. Den bedeutendsten Teil seiner Kunstsammlungen schenkte er dem Museum der Stadt Zürich. Wir kommen auf jene Generation von Liebhabern des Berges zu sprechen, die am Aussterben ist, die in einem chaotischen Europa ihr Leben lassen mußte, die auf der Flucht oder im Exil Selbstmord beging, die über den ganzen Erdball verstreut wurde.
Das Gesicht des Barons bekommt einen versonnenen Ausdruck. Sein Blick scheint Erinnerungen zu streifen, verweilt in Gedanken an Vergangenem, und gleitet wieder in die Gegenwart zurück.
»Wünschen Sie ein Glas Kognak zum Kaffee?« sagt er halblaut und um von etwas anderem zu sprechen.
Er erzählt, daß er jetzt den gesamten Betrieb des Berges verpachtet hat. Damit ist er sozusagen ein Gast in seinem eigenen Heim geworden. Dann kommen wir auf Skandinavien zu sprechen, das er liebt. Wir amüsieren uns über eine skandinavische Pressenotiz die >>etwas voreilig<<, wie er es bezeichnet, die Nachricht von seinem Tode brachte. Und dann frage ich nach dem Schicksal des berühmten roten Tessiner Sonnenschirms. Darauf erzählt der Baron von seiner langwierigen Krankheitsperiode, die ihn schließlich zwang das Lufthemd abzulegen, und damit auch den Sonnenschirm, und sich wieder an bürgerliche Kleidung zu gewöhnen.
Und der Monte Verita?
»...eine Zufluchtsstätte für Menschen, die Ruhe und Frieden suchen... nein, hier werden wohl keine größeren Veränderungen mehr geschehen...« [74]
Es ist, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber er schweigt.
Mein Blick fällt auf die kostbare Umgebung. Die Sonne spiegelt sich in dem goldrandigen Kognakglas, auf dem das Emblem des Monte Verita, eine Palme und einige Bergkonturen, in Gold glänzt. Einen Moment streifen meine Gedanken die »Langhaarigen« und die »Nackten«, die sich hier einst mühten, unter primitivsten Verhältnissen, und anspruchslos lebten, darauf bedacht, die Wahrheit zu finden und sie der Menschheit mitzuteilen.
Auf dem fein registrierenden Gesicht des Barons zeichnet sich die Andeutung eines resignierenden Lächelns ab.
»Der alte Geist ist immer noch da«, sagt er still, »aber wenn man selbst nicht mehr mit gutem Beispiel vorangehen kann...«
Sein Blick umfaßt die herrlichen Kunstwerke an den Wänden. Seine tiefste und innigste Botschaft, die Signatur der Seele aller Zeiten und aller Völker, der mit Inbrunst, Liebe und Leidenschaft um letzte, ewig gültige Klarheit ringenden Seele.
Hat man die Flammenschrift an seinen Wänden gelesen und zu deuten vermocht, hat man ihn verstanden? Ist man sich darüber klar geworden, was von der Heydt eigentlich gegeben hat?
Schweigend nimmt der Berg eines weisen Mannes edle Resignation zur Kenntnis.
Wir erheben uns von den Stühlen, und jetzt kann ich das asiatische Brokatkissen in all seiner Herrlichkeit sehen: Schmetterlinge und Chrysanthemen – die uralten östlichen Symbole des Traumes und der himmlischen Erhabenheit, strahlend wie des Herbstes goldener Tau, leuchtend wie das milde Silberlicht des Herbstmondes. [75]
- Jonny G. Rieger - Ein Balkon über dem Lago Maggiore - Monte Verita - der Berg der Wahrheit VII
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- Jonny G. Rieger - Ein Balkon über dem Lago Maggiore - Monte Verita - der Berg der Wahrheit IV XXXX LEERZ