Am äußersten Ende des Lavizzara-Tales, in 1281 Meter Höhe, ragt Fusio auf. Kühn und stolz anzuschauen, hoch auf den Felsen zusammengedrängt, hoch über dem oberen Lauf des reißenden Maggiaflusses, ein Dorf, das sich imponierend wie ein Schloß erhebt.
Und dennoch, es ist als ob sich ein dunkler Vorhang der Trauer und Sorge herabsenke, als ich mit den Leuten spreche. Die Armut, die Not, die Lawinen, alles das ließe sich ertragen, mit all dem würden sie noch fertigwerden.
»Sehen Sie dieses Kind, das Mädchen, es ist meine Tochter«, sagt eine Mutter. »Das Kind war unter der Lawine begraben, die unser Haus überrannte. Es wurde unter die Treppenstiege gepreßt, und wir fanden es erst, als es schon ganz blau war. Aber jetzt springt die Kleine wieder herum, es ist ihr fast nichts mehr anzumerken. Sie ist nur noch immer sehr scheu.«
Nein, es ist nicht das, und nicht die Einsamkeit und der lange Winter, in dem sie dreizehn Meter Neuschnee und fünf Meter festgetretenen Schnee gemessen haben. Nein, es ist nicht das, und es sind auch nicht die Menschen.
»Ganz gewiß, die Armut verbittert oft das Leben. Die Leute werden böse, wenn es einem gut geht, aber sie sind [228] auch sofort hilfsbereit, wenn es einem schlecht geht – sie kamen alle und halfen mir das Kind unter der Lawine auszugraben.«
Das alles bekümmert sie sehr, aber es ist nicht das, was sie hilflos erdrückt. Es ist das Werk. Das Stauwerk, das riesige Kraftwerk ist es, das jetzt bei Fusio am oberen Lauf der Maggia aufgewachsen ist.
800.000 Kubikmeter Beton, sagt das was?
Nein, man kann sich wohl keine richtige Vorstellung davon machen. Aber man kann sich vorstellen, was die Leute von Fusio erzählen. Es ist ein barscher Fleck Erde, das obere Lavizzara-Tal. Hier gedeihen eigentlich nur Kartoffeln. Und dann das Vieh, das sie jeden Sommer in Pacht nehmen und sogar von den Ufern des Lago Maggiore bis hier heraufholten. Es wurde dann eine kurze Zeit bei Fusio stationiert, damit es sich erst an das Höhenklima gewöhnen konnte. Und dann führten sie es hinauf zu den saftigen Weiden des angrenzenden Sambucotales – dort, wo jetzt das Werk liegt und den Lauf der Maggia zu einem See aufstaut.
Die Bergbauern von Fusio sind berühmt wegen ihrer erstklassigen Käseproduktion, aus unentrahmter Milch gewonnen, vollfett, brachte dieser Käse die besten Preise ein. Es ließ sich auskommen.
Vor ihren Augen erhebt sich nun das Maggiawerk wie eine feindliche Festung, die ihr Dasein bedroht.
Der Geistliche des Dorfes kommt gerade von einem Begräbnis zurück, als ich ihn treffe. »Wieder ist ein Arbeiter vom Werk verunglückt. Unter dem schwerbeladenen Lastwagen rutschte der aufgeweichte Bergweg fort. Mann und Lastauto rollten siebzig Meter tief in den Abgrund. Es war [229] der elfte Todesfall. Auch wieder ein Italiener, wie die zehn anderen vorher.«
Denn die Einheimischen sind weder befähigt, als Bauarbeiter mit den dazu erforderlichen Spezialkenntnissen beim Kraftwerk arbeiten zu können, noch vermögen sie als Mineure oder Lastautochauffeure dabei Geld zu verdienen. Alles das ist ihnen wesensfremd, es liegt ihnen nicht. Sie haben dabei keine Chance. Sie stehen außerhalb des Geschehens, das sich hier vollzieht, und sehen, wie ihr Dasein untergraben, wie ihr Grund und Boden weggesprengt, abgetragen, fortgeschafft wird. Wo Gras und Blumen wuchsen, erstarren Zementflächen. Ein Großbetrieb füllt die ganze Talbreite aus, verändert die Natur, schafft das Gesicht der Landschaft um. Die Touristen, die von der stillen Schönheit des Sambucotales begeistert waren – sie kommen nicht mehr. Auch dieser Nebenverdienst der Sommermonate fällt weg. Und wenn das Werk erst mit allen Kräften loslegt, dann wird das ganze Sambucotal mit seinen grünen Viehweiden von einem einzigen, riesigen Stausee überschwemmt sein. Und es gibt keine Viehweiden mehr.
Was dann? Die Bauern wurden enteignet und abgefunden, sehr gut und reichlich abgefunden. Aber, sagen sie verzweifelt, was hilft uns das Geld? Es verschwindet, es wird schnell alle, es ist bald aufgezehrt. Die Erde blieb uns immer. Sie gab uns zu jeder Zeit ein Auskommen, eine Lebensmöglichkeit. Aber was wird mit unseren Kindern, der Jugend, unseren Nachkommen? Sie stehen mit leeren Händen da. Was sollen sie anfangen, wovon sollen wir alle künftig hier leben?
Wer vermag ihnen zu antworten?
Ein armes, sterbendes Tal blickt angsterfüllt und erbit-[230]tert auf das große Wunder moderner Technik. Das herkömmliche Dasein eines Bergtales entschläft. Ein Kraftwerk erwacht.
So könnte es aussehen, und so sieht es tatsächlich für die Bewohner von Fusio aus. Aber das ist nicht alles. Das Lavizzaratal zieht sich von Fusio abwärts, am schäumenden Lauf der Maggia entlang, bis Bignasco. Und auf dieser langen Talstrecke ist es schon fast ausgestorben. Das Werk kam plötzlich, wie eine erschreckende Bestätigung dessen, was man fürchtete, was bereits im Laufe der Zeit unaufhaltsam fortgeschritten war, wie eine unheilbare Krankheit. Eigentlich ist das Werk nur noch die sichtbare Bekräftigung, die mit einer letzten Formalität verglichen werden kann, nämlich – mit der Ausstellung des Totenscheins.
Denn wie sieht es in Prato und Sornico aus?
Prato überrascht den fremden Besucher mit seinen gepflasterten Straßen und vor allem mit seinen vornehmen Patrizierhäusern. Es ist an Ausdehnung nicht größer als andere Dörfer, aber es erweckt den Eindruck einer kleinen Stadt. Die kostbaren Bauten zeugen von vergangenen großen Zeiten, von Wohlstand und Festlichkeiten. Noch immer tragen sie den Schmuck kunstvoller Malereien und die alten stolzen Familienwappen auf den Fassaden. Aber das einstige Leben ist entwichen und bereits so unfaßbar fern, daß es sich nicht einmal mehr in Erinnerung rufen läßt. Überall begegnet man den untrüglichen Zeichen der Verlassenheit, der Verarmung, des Verfalls.
Eines der Patrizierhäuser trägt das stolze Wappen der Familie Medici mit der Inschrift: ARMA MEDICI, 1851. Es wird behauptet, daß ein Mitglied der Familie Medici sich vor der Verfolgung in Italien in den Tessin rettete und [231] nach gelungener Flucht in Prato Asyl und Frieden fand. Aber das ist alles so merkwürdig ungewiß, ganz erstaunlich ungewiß. Auf dem Friedhof entdecke ich ein ziemlich ungepflegtes aber aus kostbarem Stein errichtetes Grab, auf dem eingemeißelt steht: Romilda Medici, 1863 – 1950. Und doch ist schon nichts mehr mit Bestimmtheit zu sagen, ist alles in Dunkel gehüllt. »Es sind jedenfalls keine Urkunden vorhanden, keine Beweise, keine sicheren Anhaltspunkte«, sagt mir ein Geistlicher in der Kirche. Was soll man dazu sagen? Wer war Romilda Medici, die hier lebte und starb und begraben liegt? Hat es nie jemand erfahren? Hat sie ein Geheimnis mit in das Grab genommen?
Im stolzen Palais der Medici ist niemand mehr, der darauf antworten könnte. Noch prangt das Wappen, noch sind die Fenster geheimnisvoll vergittert. Aber man schüttelt den Kopf und glaubt seinen Augen nicht, wenn man zu den Fenstern des unbewohnten Hauses hineinsieht: die kahlen Räume werden jetzt als Lagerschuppen für Heu und Holz benutzt. Alles ist so vergänglich und in Auflösung begriffen in diesem sterbenden Tal, so schnell vergessen und verweht. Heute ist es schon zu spät, um Fragen nach dem Gestern beantwortet zu bekommen.
Zwischen Gestern und Heute traten Tod und Schweigen.
Und dann Sornico, das gespensterhaft still in der heißen Mittagssonne verharrt. Ein Dorf, das nur noch aus Ruinen großer, stolzer, kostbarer, mit Wappen und Malereien geschmückter, einstiger Prachtbauten besteht. Ruinen, wohin das Auge blickt. Und das war einst der blühende Hauptsitz der Pfarrei des ganzen Lavizzaratales. Eingestürzte Dächer und Häuserfronten, leere schwarze Fensterhöhlen, geborstene Mauern mächtiger, mehrstöckiger Patrizierhäu-[232; Zeichnung]

ser. Noch wehrt sich der stolze Glockenturm gegen den Verfall. Aber wie lange? Bereits jetzt ist kein Mann mehr hier, der die Glocken läuten könnte. Ein halbwüchsiger Knabe verrichtet dieses Amt. Die Töne verhallen. Man lauscht, aber nichts regt sich in Sornico. Nur zwei Häuser fand ich [233] noch bewohnt. Das eine ist mit Malereien und der Jahreszahl 1646 geschmückt.
Die Stufen der Treppengassen sind von Gras und Unkraut überwuchert. Stumm, tot, ausgestorben und doch immer noch unheimlich wirkend, steht das alte Gerichtshaus da – La Banca. Hier, vor diesen Mauern, auf dem freien Platz fanden die Hinrichtungen der zum Tode Verurteilten statt. Noch immer liegt etwas seltsam Beklemmendes in der Luft, selbst am sonnenhellen Tag.
Mein Blick fällt auf einen schweren, kantigen Stein, der etwas über dem Erdboden aus der Mauer des Gerichtshauses herausragt. Darüber hängt eine in der Mauer befestigte Kette mit zwei halbmondförmig gebogenen Eisenstücken. Es ist der alte Lasterstein. Da haben sie die armen Sünder hingestellt, auf diesen Stein, und haben ihnen das Eisen um den Hals gelegt und es geschlossen. Ich halte die schwere Kette mit dem Halseisen in der Hand – sie ist eigentlich so wenig verwittert, als wäre sie noch vor nicht allzu langer Zeit gebraucht worden. Und dabei ist sie doch hier draußen beständig dem Wind und Wetter ausgesetzt. Es geht bedeutend schneller mit dem Verfall der Häuser als mit dem Verfall der barbarischen Zeugen.
Der Hinrichtungsplatz, die Kerkermauern, das Halseisen und der kantige Stein, alles das erscheint selbst im scharfen Licht der Sonne so düster und unheimlich, als hätten sich die Seufzer der Gepeinigten hier für ewig erhalten. Wie ein böser Fluch wirkt das regungslose Schweigen an diesem Ort.
Es nützt nichts, hier nach dem Gestern zu fragen. Die toten Mauern schweigen, das tote Sornico schweigt grimmig, und wir hätten nie etwas von dem erfahren, was hier vorging, wenn nicht ein Augenzeuge dagewesen wäre, der [234, Foto: La Banca in Sornico]

nicht schwieg. Der biedere Berner Karl Viktor von Bonstetten, dieser unbestechliche Gesandte der Nordschweiz, hat Sornico 1796 gesehen, und da sah es so aus:
»Ganz nahe ob Prato ist Sornico, wo der Landvogt von Lavizzara seinen Palazzo hat, der aus drei Kerkern und zwei Stuben besteht. Kein Bild ist trauriger als die Idee eines Kerkers in diesen engen Bergen, wo beim ersten Gedanken von Unglück die ganze Natur zum Kerker wird, wo kein Anblick des Himmels tröstet und wo Tod und Vernichtung in jedem Schall der Natur hindonnert. Da, in diesen finstern Höhlen der sogenannten Palazzi herrscht noch die Tortur, zur Schande aller Schweizer Regierungen. Wütender als die Landvögte sind die Blutrichter, die vom Lande gewählt werden und die das Volk nur aus Haß wählte. Der Herr Landvogt erzählte mir, daß diese Blutrichter aus Unverstand einen Mann an die Folter schlugen, der ohne Folter einen kleinen Diebstahl von sechs Zechinen bekannt hätte, denn, sagten sie, das Geständnis gilt nichts, wenn es nicht auch an der Folter wiederholt wird, und dann könne der Dieb auch zwölf Zechinen gestohlen haben, wenn schon alle Indizien da waren, daß er nur sechs gefunden habe.«
So ging es hier zu. Und weiter, Bonstetten:
»Der Landvogt war allein Richter über Leben und Tod. Die Mißbräuche, die bei dieser Verwaltung waren, sind unnennbar. In keinem finstern Winkel von Europa hat die Tortur wie in der italienischen Schweiz gewütet. Der Landvogt, der nicht auf einen Monat zu leben hatte, mußte von Bußen leben, und aus diesen Bußen manchmal die Bestechungen sich wieder vergüten, denen er in den demokratischen Kantonen sein Amt schuldig war.«
Hört weiter gut zu, ihr düsteren Mauern: [235]
»Da die Landvögte keine anderen Einkommen als Prozesse hatten, so war der Palazzo eine ordentliche Prozeßfabrik, die auch ohne Landvogt und selbst gegen seinen Willen ihren gewohnten Gang fortging. Bald fanden die Einwohner ein Gefühl von Freiheit in der Möglichkeit, jede Tat zu begehen, die sie zu bezahlen fähig waren, oder ganz ungestraft zu bleiben, da wo alle Prozeßkosten verloren waren.«
Na, was sagst du dazu, La Banca von Sornico? Was murmelst du in den Moosbart deines Gemäuers? Habe ich recht verstanden, meinst du: Eure Zeit, eure gesegnete und gepriesene heutige Zeit mit ihren Konzentrationslagern und Gaskammern, mit ihren körperlichen und seelischen Torturmethoden, die Menschenmillionen treffen, wollt ihr diese Zeit vielleicht als weniger barbarisch bezeichnen?
Und da gehe ich sehr nachdenklich fort.
Oberhalb Sornicos treffe ich die armseligste Wegkapelle des ganzen Tessin. Geradezu erschütternd in ihrer einfältigen Armut. Auf einer handgroßen, von der Rinde befreiten Stelle eines dicken Baumes, ist mit Reißnägeln eine Postkarte befestigt, die das Bildnis der Madonna del Sasso trägt. Durch einen darüber angebrachten Blechstreifen ist das Heiligenbild mit einem kleinen Dach versehen und sorgfältig gegen Regen geschützt. Dieses Bild erscheint mir kostbarer als alle vergoldeten und perlenbehangenen Skulpturen, denn es spricht in all seiner Primitivität von etwas Echtem und Unverfälschtem, das geradewegs aus dem Herzen kommt, ohne Umwege.
Und von hier oben werfe ich noch einmal einen Blick zurück auf die zerbröckelnden Stätten des Reichtums, der Macht und Willkür. Sornico ist tot. Es begräbt sich langsam [236] selbst in seinem eigenen Schutt. Prato entschläft leise. Ein Tal stirbt. Mir fällt wieder das große Bild ein, das sie auf die Fassade der Friedhofskapelle von Fusio gemalt haben: Da steht der Tod riesiggroß, als Knochenmann, ein grausliches Skelett, in der rechten Hand eine Sense, hochgestreckt in der linken eine Sanduhr, den hohlen Blick über dieses Tal gerichtet.
Die Zeit eines Tales ist abgelaufen.
*
Einige Zeit später sitze ich in Ascona einem Schweizer gegenüber, dem die Verhältnisse des Landes besonders eingehend vertraut sind. Nein, wir nennen keinen Namen. Es darf dreimal geraten werden.
Diesem Herrn erzähle ich vom Lavizzaratal, dem sterbenden Tal. Er nickt. Ja, so ist es. Es ist ihm bekannt. Es ist das Problem vieler Dörfer und Täler im Tessin. Er berichtet mir, was man alles versucht hat, um diesem Übel abzuhelfen: Staatliche Hilfe, Versuche der Industrialisierung, Experimente mit Heimarbeit, Eröffnung neuer Perspektiven und anderer Lebensmöglichkeiten. Im Großen und Ganzen aber sind alle diese Versuche fehlgeschlagen. Es scheiterte an Traditionen, an der besonderen Mentalität der Menschen, die sich nicht umstellen konnten, an vielen komplizierten Umständen. So erklärt er mir.
»Was sollen diese Leute aber tun«, frage ich, »was soll aus ihnen werden?«
Er zuckt die Schultern, er weiß es auch nicht.
Und da sage ich: »Wird das ganze Tessin letzten Endes als eine Art Ferienheim der Nordschweiz enden?«
Er zuckt wieder die Schultern.
»Vielleicht«, antwortet er. [237]
Ein paar Tage später studiere ich eine Schrift des eifrigen Verfechters der Tessiner Frage, Guido Locarnini. Und da lese ich:
»Die einzig ergiebige Wirtschaftsquelle, welche die Natur dem Tessin gegönnt hat, ist ausgerechnet das Gastgewerbe, das – sei es auch nur oberflächlich – sehr zur Entartung des bodenständigen Volkscharakters des Kantons beiträgt.«
Das mögen sie nicht, Gastwirte sein. Damit ist es also nichts.
Und da lese ich ziemlich am Schluß der umfangreichen Abhandlung, unter »Neue Wege«:
»Eine besondere Stellung nimmt die unter der weitsichtigen Förderung der kantonalen Regierung mächtig emporstrebende Elektrizitätswirtschaft ein, von der sich die ganze Tessiner Wirtschaft dauernde und befruchtende Impulse verspricht.«
Guten Morgen – da hat man sich gerade wegen des sie tödlich bedrohenden Kraftwerkes alle ihre Bekümmerungen zu Herzen genommen, und dann erfährt man ...
Also: Kreuzigung eines Tales, weil man sich etwas von der Auferstehung verspricht?
Die kantonale Regierung: Bravo, hoch!
Der bodenständige Volkscharakter: Nieder, nieder!
Und da bin ich einmal froh, in diesem Dilemma kein Tessiner zu sein, und ziehe mich schleunigst auf meinen Balkon zurück. [238]
Es ist das Märchen vom zartesten Frühling, erlebt mitten in einem sommerlich leuchtenden Land.
Wo der Maggiafluß in den Lago Maggiore mündet, bildet sein Delta einen riesigen Fächer. Die Luft zittert vor Hitze. Unbeweglich stehen die Palmen und strecken ihre gespreizten Blätter wie verdorrte Bettlerhände aus. Die Straße windet sich am Fluß entlang aufwärts. Ein wohltätiger und gefürchteter Fluß. Er schenkt dem Tal diesen üppigen Reichtum an Wein und Mais, Feigen und Kastanien. Zur Zeit der Schneeschmelze aber und bci Wolkenbrüchen kann er zu einem brüllenden Strom anwachsen, der schwere Katastrophen anrichtet. Die Geschichte des Maggiatales, die Bevölkerung und die Gedächtnistafeln wissen davon zu berichten. Dieser Fluß vermag sich im Laufe von einigen Stunden völlig zu verwandeln, dann wirbeln riesige Steine und entwurzelte Bäume in seinen Fluten, dann reißt er gewaltige Stücke kostbarer Erde mit sich, spült Häuser weg, unterminiert und sprengt Bergwände, löst Felsenklumpen und wälzt sie mit sich abwärts. Man erinnert sich an Katastrophenzeiten, in denen der Wasserspiegel des riesigen Lago Maggiore im Laufe von vierundzwanzig Stunden um zwei Meter stieg Die Stadt Locarno wurde überschwemmt. Der rasende Fluß riß einen Brückenpfeiler los, warf ihn um und [215] rollte den siebzig Tonnen schweren Betonklotz dreihundert Meter mit sich.
Wieder und wieder schwemmte der Fluß die Brücken weg, wieder und wieder wurden sie neu errichtet. Vier Jahrhunderte hindurch wurden Dämme und Absteifungen aus Stein erbaut, um den Fluß zu zähmen. Nach einer erneuten Raserei der Wassermassen begann man im Jahre 1891 den bisher größten Eindämmungsplan auszuführen. Zweihundert Arbeiter wurden eingesetzt. Lange Reihen von Ochsenkarren schleppten aus einem nahegelegenen Steinbruch die großen Felsenblöcke zum Fluß. Es dauerte neunzehn Jahre, die drei Kilometer langen Dämme aufzuführen. Und noch immer ist die Maggia nicht endgültig besiegt. Erst vor wenigen Jahren noch fand der Fluß während eines Unwetters neue schwache Stellen und brach aus, richtete unermeßlichen Schaden an.
Jetzt schäumt sein grünweißes Bergwasser tief unten in der Schlucht, in dem von der Eiszeit geschaffenen Flußbett. Üppig grün und fruchtbar dehnt sich das Tal mit seinen vielen Akazienbäumen und bunten Blumenwiesen, mit Obstbäumen und Kornfeldern. Hektisch blühen Rosen und Iris.
Es geht höher und höher hinauf, das Tal verengt sich, die Bergwände rücken dichter zusammen. Und dort, wo sich das Dorf Cevio gemütlich mitten im Tal breitmacht, beginnt die steile Bergstraße nach Bosco-Gurin. Wir verlassen das Maggiatal mit seinen reifenden Früchten, mit seinen Feigenbäumen, an denen die Feigen sich schon daumendick und saftgrün runden.
Die dunstige Hitze des Tales liegt bereits tief unter uns. Kühle Luft streift die Haut. Die Sonne scheint klar und kräftig und wirkt trotzdem ein wenig eisgekühlt. Noch sind [216; Foto: Bosco-Gurin mit dem Sonnenhorn]

vereinzelte Kastanienbäume zu erblicken, dann nur Tannen, die sich senkrecht an den schrägen Bergwänden zu behaupten versuchen. Dann sind es Birken, die immer kleiner und immer verwitterter aussehen, je höher wir kommen. Und schließlich geben auch sie auf. Ganz oben halten nur die riesigen, starken Lärchenbäume der Witterung stand. Ab und zu zeichnen sich jetzt weiße Flächen von dem dunklen Steingrund ab – das ist Schnee. Wir haben die Schneegrenze erreicht. In der äußersten Ecke des Boscotales, von eisigen Bergzinnen umgeben, liegt Bosco-Gurin in einer Höhe von 1504 Metern. Es ist das höchstgelegene Dorf im Tessin. Und es ist das einzige Dorf in dem italienisch sprechenden Tessin, in dem eine deutschsprechende Bevölkerung lebt.
Es muß ein harter und zäher Menschenschlag gewesen sein, der einst dieser Namr zu trotzen wagte und sich hier ansiedelte. Diese Leute sind nicht italienischer Abstammung. Es sind Alemannen, die vormals ihre Wohnplätze im Oberwallis hatten, im Berner Oberland, wo man ihre Spuren bis ins sechste Jahrhundert zurückverfolgen kann. Es waren arme Menschen, die von Hunger und Not getrieben im 13. Jahrhundert über unwegsame Pässe gezogen kamen und sich in Bosco niederließen. Auf ihrem Hungermarsch nach der fremden südlichen Gegend brachten sie nicht viel mehr als ihre uralte Sprache mit, das Höchstalemannisch. Und diese Sprache sprechen sie heute noch. Das besagt viel über Bosco-Gurins Zurückgezogenheit vom übrigen Tessin.
Es berührt eigenartig, bei ihnen Worte zu hören, die anderswo schon seit Jahrhunderten verklungen und vergessen sind, die es in keinem lebenden deutschsprachigen Dialekt mehr gibt. »Tiiful«, sagen sie, wenn sie den Teufel [217] meinen. »D'Wybar« heißen die Frauen immer noch, und die alten Frauen sind »di altu Wiptschi«. Oder »Z'Chryz ufum Acher tarfmu öw net vergasse, d'Ahne hedisch as eistar gseit«, was bedeutet: >>Das Kreuzzeichen über dem Acker darf man nicht vergessen, die Großmutter hat es schon so gehalten.« So sprechen sie, so leben sie ihr Dasein, halb verborgen in den Wolken, fern von der übrigen menschlichen Gesellschaft.
Hilf dir selbst, so hilft dir Gott – das ist ihre Lebensbedingung in dieser unsagbar harten Bergwelt. Sie haben keine Reichtümer. Was unten in den Tälern wächst und reift, das keimt nicht mal hier oben. Kein Mais, kein Wein, keine Kastanien können hier gedeihen. Und keine Fruchtbäume – ausgenommen einige wenige Kirschbäume, die sie in besonders geschützten Ecken hegen und pflegen. Sie tragen kleine, unansehnliche Früchte, einmal spät im August. Von der Regierung bekommen die Dorfbewohner besonders billige Pipfel zugestellt, damit sie den Vitaminbedarf der Kinder decken können. Kartoffeln haben sie und einige Kühe und Schweine, und sonst das ganze Jahr hindurch Ziegenfleisch, wenn sie etwas Fleisch zum Essen haben wollen. Kurz, all zu kurz nur ist die Zeit des Grünens und Blühens, dann ist es schon wieder Winter. Sieben Monate lang hält sich der Winter im Dorf. Über drei Monate lang wird Bosco-Gurin von keinem Sonnenstrahl getroffen. Dann streift die Sonne nur gerade die höchsten Gipfel des riesigen Berges, der sich westlich des Dorfes erhebt. Darum tauften sie ihn Sonnenberg – das Sonnenhorn.
Aber heute ist der Tag blau und golden, die Höhensonne blitzt klar und warm, und der Himmel ist wie leuchtendes Kristall, von einer unwahrscheinlichen Reinheit. Auf den [218] Wiesen blüht der Enzian mit seinen tiefblauen Glocken. Das Gras ist intensiv lichtgrün, und ein paar Kirschbäume haben gerade angefangen zu blühen. Die Luft ist von dem scharfen Geruch der Alpenkräuter gewürzt. Rund herum erheben sich die Felsenwände und strahlen in rostroten, veilchenblauen und kupfervitriolgrünen Farbenschattierungen. Und das Dasein erscheint so großzügig herrlich, wie die hohen alten Lärchenbäume mit ihrer hellgrünen Spitzenpracht.
Unten in den Tälern, da ist es jetzt heißer Hochsommer, die Kastanien sind schon lange verblüht und setzen bereits kräftige Früchte an. Hier oben in Bosco beginnt der Frühling sich eben erst zart zu entfalten. Ein Frühling, so frisch wie ihn kaum die nordischen Länder kennen. So unglaublich lebenskräftig, wie es nur eine kurzstengelige, wilde Feuernelke zu demonstrieren vermag, die – oh Wunder! – auf einem kahlen Felsblock erblüht. Und hier singen wahrhaftig Vögel, hier singen Vögel. Das Herz wird so leicht und die Sinne werden so froh gestimmt. Nirgends auf der Welt kann der Frühling ergreifender sein als in Bosco-Gurin.
Vor einem Haus sitzt eine alte Frau auf einer Bank in der Sonne. Sie sitzt da mit dem Spinnrocken und spinnt Wolle. Ihr Fuß tritt sachte und regelmäßig, das Rad schnurrt. Ihre rechte Hand hält den Wollbausch, ihre linke zupft von dem Bausch, zwirbelt den Faden mit den Fingern. Das Rad läuft, die Spindel dreht sich. Ich setze mich zu der alten Frau auf die Bank und höre sie erzählen. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt. Ja, das Leben ist zäh hier. Man hört nicht auf zu arbeiten, zu schaffen. Wenn man aufhört, ist man fertig. Und so lange es eben geht, gibt man doch nicht auf, [219] nicht wahr Sie hat Generationen kommen und gehen sehen. Meist gehen! Hier werden nur wenig Kinder geboren. Und zum Unglück wurden in den letzten Generationen viel mehr Burschen als Mädchen geboren, ungefähr dreimal so viel Burschen wie Mädchen. Und die Burschen, die kein Mädchen im Dorfe finden konnten, die wanderten aus, verließen Heim und Heimat. Viele zogen bis nach Australien. In diesem Jahre nun beispielsweise ist nur eine einzige Ehe im Dorfe geschlossen worden. Und im vergangenen Jahr war auch nur eine Hochzeit hier. Und gleich nachher ist das Ehepaar dann von hier fortgezogen. Und die alten Leute sterben. So verlassen sie nach und nach alle das Dorf. In diesem Jahr ist bis jetzt auch nur ein einziges Kind hier geboren und – man weiß ja alles voneinander – eins wird noch erwartet.
Der eine Enkel der alten Frau ist Postautochauffeur in Lugano. Der andere ist Grenzwächter. Und da das Gesetz bestimmt, daß ein Grenzwächter nie in der heimatlichen Gegend seinen Dienst ausüben darf, um bei seinen eigenen Leuten nicht durch die Finger zu sehen oder in Verlegenheit zu geraten, seine Eigenen zu verhaften oder auf sie schießen zu müssen bei Schmuggelgeschichten – darum wird er in eine ihm gänzlich fremde Gegend versetzt. Nun ist er auch weg. Und die Enkelin der alten Frau heiratete den Mann, der hierher kam, um den Bau des neuen Hauses für die Grenzgendarmerie dort oben zu leiten. Als er mit der Arbeit fertig war, nahm er die Enkelin mit in einen anderen Teil der Schweiz. So geht es zu, auf diese Art. Jetzt sind sie hier nur noch hundertsiebzig Seelen. Davon sind zwanzig alte Leute und fünfzig Kinder. Aber zum erstenmal seit langen Zeiten sind mehr Mädchen als Knaben in der Schule. [220]
Vielleicht ist das eine Hoffnung.
Diese zähe Hoffnung, die sie alle besitzen, hält sie aufrecht. Und dieses: niemals aufgeben. Sie sind gesunde, robuste, kräftige Menschen. Aber wenn Krankheit oder das Alter sie beschwert, auch dann wollen sie nicht nachgeben. Sie weigern sich, die Schwäche anzuerkennen, sie wollen sich nicht hinlegen, sie sind nicht ins Bett zu bekommen, so krank und schwach sie auch sein mögen. Sie setzen sich auf die Bank bei dem großen viereckigen Kachelofen in der Stube, und dort bleiben sie sitzen. Bis zum Ende wollen sie stärker als die Natur sein. So sind sie es gewöhnt, das ganze Leben hindurch den Naturkräften zu trotzen. Und wenn es ihnen klar wird, daß es zu Ende geht, daß es ernst mit dem Tode ist, dann verlangen sie ihr Bett neben den Ofen in die Stube gestellt Dann legen sie sich hin und sterben. Ihr Tod pflegt leicht zu sein, müde gleiten sie in das Dunkel hinüber – wie ihr kurzer Sommer in den ewiglangen, dunklen Winter.
Unten in den Tälern ernten sie nun bald die ersten neuen Kartoffeln. In Bosco-Gurin gehen sie jetzt erst zu den weit außerhalb des Dorfes an den Bergabhängen der Steinwüste verstreut liegenden kleinen Feldern, um die ersten Kartoffeln in die Erde zu legen, die gerade frostfrei geworden ist. In den Ecken und Winkeln, wo die Sonne noch nicht hingelangte, liegt immer noch Schnee. Harte, vereiste Schneeflächen, die nicht tauen wollen, die nur ganz langsam einschrumpfen und verschwinden. Und die klare Sonne hat immer noch nicht die gewaltigen weißglitzernden Schneemassen bewältigen können, die sich von den Berggipfeln bis zum Tal herunter ziehen. Die Schneeflächen sehen wie riesige Laken aus, die nach der Frühjahrswäsche auf den [221] Klippen zum Trocknen ausgespannt sind. Denn das Frühjahr ist zeitiger als sonst gekommen, mit unerwarteter und darum doppelt wunderbarer Sonnenwärme.
Trotzdem kann keiner den Schnee vergessen. Der Sommer ist zu kurz, um sich an ihn zu gewöhnen. Der Winter ist ihnen zur Gewohnheit geworden, ist immer in ihrem Bewußtsein. Mitten in einem Gespräch, mitten in diesem leuchtenden Frühling, können sie plötzlich auf einen Pfahl starren und zu einem mennigroten Strich hinweisen, der sich in über drei Meter Höhe befindet: »Bis dahin lag der Schnee im Winter.« Oder ihr Blick gleitet über die Fassade eines zweistöckigen Hauses, und sie sagen leise: »Bis zu dem obersten Dachfenster lag der Schnee, dort oben gingen wir, auf der Schneedecke, und gerade zum Fenster hinein.« Drei Meter Schnee, vier Meter Schnee, das ist das Normale. Oft hält sich der Schnee im Dorf bis lange in den Juni hinein. Am schlimmsten ist es, wenn die Bergstraße zwei oder auch drei Monate hindurch vom Schnee gesperrt wird und des Dorfes einzige Verbindung mit der Umwelt abgeschnitten ist.
Was dann mit der Verpflegung?
»Kartoffeln und Ziegenfleisch haben wir ja immer«, antworten sie.
Und keinen Arzt?
»Wenn der Arzt nicht durchkommen kann, telefonieren wir, und dann werfen sie vom Flugzeug Medizin für uns ab. Und wenn es ganz schlimm ist, stirbt man wohl auch ohne Doktor.«
Und dann kommt das, was immer wieder in den Gesprächen auftaucht, das was für sie schrecklicher als Hunger und Tod ist, dieses schicksalsschwere Wort »d'Löwwana«, wie [222] sie es in ihrer Sprache nennen. So bezeichnen sie die Lawinen, oder auch: der weiße Tod.
Bosco-Gurin ist jeden Winter so hart von Lawinen bedroht und heimgesucht, wie kein anderes Dorf im Tessin. Zu hoch, zu steil und zu dicht umgeben die Bergmassive das Dorf.
In früheren Zeiten stand Bosco-Gurin an einer anderen Stelle des Bergkessels. Aber die Lawinen ließen es nicht dort stehen. Erst rissen sie einen Teil des Dorfes weg. Das kostete vierunddreißig Menschenleben. Danach verschwand der Rest des Dorfes – einundvierzig Tote. Nun flüchtete die Bevölkerung auf einen höher gelegenen Klippenabsatz und baute sich dort wieder ein neues Dorf auf. Stetig donnern jeden Winter die Schneemassen herunter. Das letzte Mal wurden alle Stallbauten knapp außerhalb des Dorfes zertrümmert. Jetzt sind sie wieder aufgebaut, aber nun stehen sie in einer langen Reihe, wie ein Keil gegen das Lawinenfeld gerichtet. Man rechnet damit, daß zukünftige Lawinen sicher die ersten Stallbauten vernichten werden, die Lawine dann aber gespalten wird und an Kraft verliert.
Gibt es noch eine Möglichkeit zur Flucht, wenn man eine Lawine kommen hört?
»Nein, wenn man sie hört ist es schon zu spät. Die Gefahr liegt ja nicht nur in der reißenden Kraft und in der Schwere der Schneemassen, sondern in dem gewaltigen Luftdruck, der von der Lawine ausgeht und alles umreißt und wegfegt. Und dann wälzen sich die Schneemassen darüber hin und begraben alles.«
Hör Bosco-Gurins Kirchenglocken, sie klingen so zart und leise, wie in keinem anderen Dorf des Tessin. Seit alten Zeiten, ob Sommer oder Winter, läuten sie hier so vorsich-[223]tig. Es ist ihnen zur Gewohnheit geworden. Denn oft genügt schon ein scharfer Laut oder ein Schuß, ein Echo, eine geringe Erschütterung, um die Lawine zu lösen und den weißen Tod von den Höhen herabzurufen.
Ein Stückchen außerhalb des Dorfes stürzt der Rovanafluß dröhnend und wie Silber glitzernd von den Bergen herab. Das Wasser ist glasklar und verlockt zu einem Bad. Ich tauche nur den einen Fuß etwas ein und ziehe ihn mit überraschender Geschwindigkeit wieder heraus. Das Eiswasser von den Bergen läßt den Fuß umgehend erstarren und den nahen Krampf fühlen. Mit der Natur ist hier oben nicht zu spaßen. Es ist weder zu begreifen noch zu erklären, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen: die Dorfkinder waten mit dem größten Vergnügen bis zu den Knien in diesem Wasser herum. Das Wort »abgehärtet« erscheint mir in diesem Zusammenhang völlig unzureichend.
Da liegt das Dorf mit den hübschen Häusern, deren Stil und Bauart sich kraß von den Tessiner Bauten unterscheidet und sofort an das Berner Oberland erinnert. Alles ruht im tiefsten Frieden. Man ist aufrichtig davon überzeugt, daß sie hier, in dieser himmelhohen Zurückgezogenheit, niemals etwas von all dem Jammer und Krach der übrigen Welt verspürt haben.
Und dann muß man erfahren, das Phantastische und Unglaubliche ist wirklich einmal geschehen, die Welt dort unten erschien in Bosco-Gurin. Wie es fast immer geht, wenn die große Welt sich in versteckten und vergessenen Gegenden meldet, brachte sie auch hier nichts Gutes mit sich: In Bosco-Gurins Gemeindearchiv hat der Gemeindeschreiber Johan Anton Tomamichel sauber und gewissenhaft am 17. August 1799 eingetragen: [225]
»Es sind hier 5.000 Mann kaiserliche Truppen, von Pommat her kommend, angelangt. Sie hielten sich in unserem Dorf einen Tag und eine Nacht auf. Die Gemeinde mußte ihnen folgendes liefern: 6 Kühe, 500 Laib Roggenbrot, 12 Pfund Käse und 1 Kalb. Die Zahl der Ziegen und Schafe kennen wir nicht, denn die haben sie sich selbst genommen. Der in jedem Haus und auf dem Felde angerichtete Schaden ist unermeßlich.«
Die kaiserlichen Diebe ließen außerdem ansehnliche Mengen an Heu, Holz, Brettern und Balken von Bosco-Gurin mitgehen. Mit den »kaiserlichenTruppen« waren die Österreicher gemeint, die mit 6000 Mann unter dem Befehl des Oberst Gottfried Strauch das Oberwallis und den Grimselpaß besetzt hielten, dann aber von dem französischen General Gudin angegriffen und verdrängt wurden.
Das war Bosco-Gurins einzige, aber darum nicht weniger traurige Begegnung mit der Weltgeschichte. Auch damals schon war es nicht leicht, in Frieden zu leben – nicht einmal auf abseits gelegenen Bergen.
Es wurde ihnen nicht leichter gemacht im Laufe der Zeit.
Jetzt kommen zwar keine raubenden Krieger mehr nach Bosco-Gurin, aber die Bewohner beklagen sich über die harte und verrückte Welt dort unten, weil sie sich von ihr ausgeraubt fühlen durch die hohen Steuern, die der Kanton und der Staat ihnen auferlegen.
Der Gemeindepräsident des Dorfes ist erbittert über die unhaltbaren Zustände. Alle dem Dorfe zugestandene öffentliche Hilfe sei bisher nur immer eine Flickerei gewesen, meint er, keine Hilfe, die wirklich die vorhandenen Schwierigkeiten aus dem Wege räumen könnte. Eine Delegation von der Bundeshauptstadt Bern sei vor langer Zeit hier ge-[225]wesen, um sich alles anzusehen. Sie wurden gut aufgenommen, die Herren, aber man hätte dann leider nie mehr etwas von ihnen vernommen. »Ja, die Herren kommen im Sommer her, wenn es angenehm ist. Ich wünsche mir, sie würden einmal mitten im Winter kommen, da sieht es hier anders aus, da könnten sie was erleben.« Und der Gemeindepräsident schließt: »Wissen Sie, es ist hart hier, aber es ginge, es wäre was zu machen, wenn es richtig angefaßt werden würde, wenn wir von Grund auf mal richtig anfangen könnten. Aber so, wie es ist – wir leben hier alle zusammen nur von Schulden.«
Er ist ein ruhiger, besonnener Mann, der Gemeindepräsident, er weiß, was er sagt. Er ist der Bäcker des Dorfes, und davon kann er auch nicht existieren.
Eines Abends geschieht etwas Ungewöhnliches im Dorf, es ist halb neun Uhr und eigentlich Schlafenszeit hier. Dunkelheit und Stille haben sich über die Häuser gesenkt. Die Luft ist rein und frisch, und der Himmel sternenklar. Auf dem hochgelegenen Felsenvorsprung, auf dem die Kirche steht, flammt Licht auf. Und im Lichtschein stehen Bosco-Gurins Schulkinder mit ihrer Lehrerin vor dem Kirchenportal. Auf der breiten Mauer, die den Kirchplatz umschließt und gegen den Abgrund abschirmt, sitzt die Bevölkerung des Dorfes. Rechts die Frauen, links die Männer, und mitten zwischen ihnen der katholische Pfarrer in seinem langen, schwarzen Priestergewand.
Vor der Kirche stehen die Kinder und singen Lieder, sagen Gedichte auf, sowohl in deutscher als auch in italienischer Sprache. Sie haben sich mit kleinen Fähnchen, mit selbstgefertigten Papiergirlanden und mit bunten Papierkronen auf dem Kopf geschmückt. Es soll recht festlich sein, [226] denn es ist der Gedenktag der Befreiung des Tessins, den sie feiern. Es ist über hundertfünfzig Jahre her, seitdem das Volk die Macht der Landesvögte brach und die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Volkes proklamierte.
Und dann klingt der Chor der klaren Kinderstimmen in die schweigende Bergnacht hinaus, als sie den Freiheitseid aufsagen:
»Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaff leben,
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.«
Wie unwirkliche Kulissen ragen hinter ihnen die nackten, steilen Bergwände im matten Mondlicht auf.
Am folgenden Morgen ist der Himmel mit leichtem Dunst überzogen. Weißgraue Nebelschwaden folgen, breiten sich wie Dampf, werden dichter und dunkler, löschen die Sonne aus, schieben sich schwerfällig über die gezackten Bergkämme, wälzen sich von den Höhen abwärts, tiefer und tiefer. Wie bleicher Rauch decken die Wolken nun das Dorf zu, hüllen es gänzlich ein. Die Häuser stehen nur noch als schwarze Klumpen im Wolkenmeer. Und dann ist auf einmal nichts mehr übrig. Ihre Welt ist in einem grauen und klammen Chaos versunken.
Die Geschichte des märchenhaften Frühlings in Bosco-Gurin ist aus. [228]
»Leider können Sie keine Fahrkarte nach Mergoscia bekommen«, sagt man mir am Schalter des Postautodienstes. »Es ist gerade ein Bergrutsch geschehen, und die Straße ist teilweise unbefahrbar. Aber Sie können fast bis zur Unglücksstelle fahren. Wenn Sie von dort zu Fuß weiter wollen?«
Natürlich will ich das.
Wir fahren in dieses eigensinnige Tal hinein, das fast von den Bergen rundum erdrückt wird. Wo das Postauto nicht mehr weiter kann, bei dem letzten Wendeplatz vor dem Steinschlag, beginne ich meine Wanderung. Bald gelange ich an die gefährliche Stelle. Da hat es ordentlich gehaust, dieses plötzlich herabpolternde Ungeheuer. Der Anblick stimmt ziemlich nachdenklich. Außergewöhnlich starke Regengüsse hatten in der letzten Zeit den Rest besorgt, die bindenden Erdschichten fortgespült, sich in die Spalten des Gesteins eingefressen, es unterminiert. Die immer noch überall arbeitende Bergmasse war in Bewegung geraten, – eine geringe Verschiebung, ein unmerkliches Gleiten, und dann der große Rutsch, wie eine Explosion. Eine ganze Strecke der schmal am lotrechten Felsen klebenden Straße hatte es wie einen Porzellanrand glatt weggeschlagen und in den mehrere hundert Meter tiefen Abgrund gerissen. Schon waren Stra-[204]ßenarbeiter dabei die gefährliche Stelle wieder in Ordnung zu bringen. Die Strecke ist bereits kunstgerecht mit Balken abgesteift und provisorisch überbrückt. Jetzt sind sie dabei, an Seilen hängend, gewissenhaft die ganze Bergwand nach unsicherem Gestein zu überprüfen. Sie hören es am Klang ihrer Hämmer, wo der Stein nochbrüchigundunzuverlässig ist. Mit Brecheisen setzen sie ein, spalten immer noch ganze Flächen auf, die krachend herunterkommen. Sie lotsen mich durch die Gefahrenstelle.
Jetzt bin ich drüben, auf der anderen Seite, in Sicherheit, und drehe mich noch einmal um. Sie haben ihre schwere und gefahrvolle Arbeit wieder aufgenommen. Eine grausige Geschichte, so ein Bergrutsch, man weiß nie, wann und wo es loshaut. Und das Verzascatal ist berüchtigt, übel berüchtigt, als ein Tal des Todes, wie kein anderes. Man sagt, in keinem anderen Tal ständen am Rande der Bergpfade so viele Kreuze, die den Tod eines verunglückten Menschen bezeichnen. Nirgends ist der Fels so gefährlich und heimtückisch, nirgends lauert die Gefahr so allgegenwärtig, nirgends gehört das Unglück so zum täglichen Dasein wie hier.
»Vardér dal maa!« lautet ihr Zuruf, der eine Begrüßung sein soll, »hüte dich vor dem Übel!« Es könnte über dem Eingang zum Verzascatal geschrieben stehen: Hüte dich!
Doch drüben, hoch oben, breit hingelagert in siebenhundert Meter Höhe, erblicke ich jetzt Mergoscia. Es ist weithin sichtbar. Und sicher ist es das Dorf im Tessin, dessen Anblick am frohesten und heitersten stimmt. Es ruht so großartig am Berghang hingelagert, es scheint so beneidenswert zu träumen, so vollendet glücklich.
Atemberaubend kühn ist die Bergstraße, die sich zu Mergoscia hinaufschlängelt. Eine Straße, die in ihrer wilden [205] Schroffheit an diese abenteuerlich kitschigen Gebirgsbilder erinnert, die man als Kind bestaunte. Eine Straße, einzig und allein nur für Mergoscia. Dort endet diese Straße, im Herzen des Tessin.
Lange bevor man das Dorf erreicht, führt der Weg noch durch die Terrassen der Weinberge. Und mittendrin thront Mergoscia auf seinem Felsensitz, den Ausblickfreiundoffen nach Süden gerichtet. Überraschend weitet sich der malerisch schöneKirchplatz mit den schattigen alten Bäumen vormir. Bis vor kurzem war die Kirche noch mit dem Schweizerkreuz und dem Sternenbanner der Vereinigten Staaten zugleich geschmückt. Viele, allzu viele Bewohner Mergoscias hatte die ewige Not bis nach Kalifornien getrieben. Zwar zog es sie wieder zurück zu der zauberhaften Schönheit ihrer Heimat, aber sie konnten nicht bleiben. Wie früher, so sind sie auch heute noch immer wieder gezwungen, fast das ganze Jahr hindurch in der Fremde zu verweilen. Sie verlassen ihre Heimstätten und ziehen zu den Hängen und Ebenen des Lago Maggiore, ja bis zum Monte Ceneri, um gegen Weihnachten zurückzukehren. Viele aber sind auch der immerwährenden Flucht vor dem Elend müde geworden. Sie haben sich in der Fremde angesiedelt, haben ihre Familie bei sich und nun nur noch die unerfüllbar bleibende Sehnsucht nach Heimkehr im Herzen. Die Armut hatte sie stets zu einem lebenslangen Nomadendasein verurteilt. Die eigenartige Schönheit des Tales zog sie zurück. Keines der Täler ist so einzigartig leuchtend wie das Verzasca.
Nirgends ist das Licht so kristallklar und funkelnd wie in Mergoscia. Seine gegen Süden gerichtete Lage läßt die Sonne voll einfallen. Und wo das Tal sich bei Tenero weitet, da eröffnet es sich dem Lago Maggiore. Es ist, als ob die [206; Zeichnung]

blendende Fläche des Sees goldene Lichtmassen emporwerfe und sie von Süden her wie ein riesiger Spiegel in das Tal hineinstrahle. Jedes Blatt, jeder Stein, steht hart umrissen [207]im scharfen Licht. Und – nirgends ist die Armut so grell beleuchtet.
Idyllisch und sonnendurchflutet offenbart sich Mergoscia dem Fremden, umfängt ihn mit all seinem Liebreiz. Vor der Kirche ragt die hohe, schlanke Steinsäule mit dem Filigrankreuz in den klaren Himmel. Da ist der malerische Bogengang der Kirche, von dem der Blick in die Weite schweifen kann, um gerade zwischen den Bergen noch einen Ausschnitt des Lago Maggiore zu erwischen und die fernen Konturen des Gambarogno. Diese lächelnde Landschaft ist so weit, so offen, so einnehmend, so von Lichtfülle durchdrungen, von inniger Wärme und intensiv leuchtenden Farben gesättigt. Hier ist nichts von der Düsterkeit anderer Bergdörfer, nichts Zusammengepreßtes, nichts Enges und nichts Abweisendes.
Hell und einladend wirkt der Anblick des Friedhofes hinter der Kirche. So einen bezaubernden Friedhof habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Er ist ein paradiesischer Dachgarten am Rande des jäh abfallenden Felsens. Hier scheint der Tod nur eine mildtätige Erleichterung zu sein. In dieser Herrlichkeit von Blumen und Lichtklarheit ist jeglicher unbehagliche Gedanke ausgeschlossen. Im Leben wie im Tode kann man sich keinen besseren Platz vorstellen. Tiefer, sonnenwarmer Frieden durchdringt mich. Und über allem, über Friedhof und Kirche, über Dorf und Berg und Tal, von überall sichtbar, unverrückbar, beständig und unveränderlich, und in dem klaren Licht greifbar nah, ragt die nackte Steinfigur des Pizzo Vogorno auf, wis ein riesengroßer meditierender Buddha, zweitausendvierhundertachtundvierzig Meter hoch in das Himmelblau hinein. Wie der Mittelpunkt der Welt, der Schwerpunkt des Daseins, ge-[208] krönt von einer luftigleichten, strahlendweißen Sommerwolke. Phantastisch!
Wo könnte Leben und Tod lichter und heiterer sein?
Aber dann hallt mein Schritt in Mergoscias Gäßchen – einsam. Und auf einmal ist es da, das Gefühl, das in all dem Zauberhaften schlummerte: Einsamkeit. Aber eine besondere, eine leblose Einsamkeit. Mergoscia liegt wie ausgestorben da, in dieser sonnenglänzenden Heiterkeit. Wo sind Mergoscias Menschen?
Der Kirchplatz, die Gassen, die Wege sind menschenleer. Ich habe niemanden getroffen. Und jetzt, als es mir richtig bewußt wird, und ich mich umblicke, lausche, und keinen Laut vernehme, da berührt es mich auf einmal unheimlich.
Über Mergoscia liegt der tragische Frieden der Verlassenheit.
Mergoscias Bewohner können nicht in Mergoscia wohnen. Das ist der bitterste Preis, den ein Dorf von seinen Einwohnern fordern kann.
Verriegelt und verschlossen stehen die kleinen Steinhäuser, lieblich umrankt von lichtgrünen Weinblättern, umgeben von bunten Sommerblumen, – unbewohnt, leer, tot.
Gleichzeitig erinnere ich mich: man sagt, daß sie dort unten, tief unter Mergoscia, wo sich der Talgrund verengt und die Straße am Schlund eines fürchterlichen Abgrundes entlangwindet, einst ein großes Tor hatten, das sie schlossen, wenn Pest oder Kriegsvolk das Tal bedrohten. Keiner durfte dann hinaus oder herein. Das Tal lag verriegelt zwischen seinen hohen Felswänden.
Es ist abgeschlossen geblieben, abseits und abwegig.
Auf einsamen Pfaden steige ich zum Tal hinab. Unterhalb Mergoscias treffe ich zwischen Weinterrassen eine Weg-[209]kapelle an. Sie trägt die Jahreszahl 1738. Und dort haben sie über vielen anderen schönen Malereien schwebend den lieben Gott abgebildet, als einen alten, weise und gütig aussehenden Herrn, mit langem, weißem Bart und Haar. Er breitet die Arme aus und scheint zu sagen: »Willkommen, setz dich, nun hole ich das Brot und den Wein!«
Überrascht bleibe ich stehen und sehe mir das Bild an, während mir diese gastfreien Worte im Kopfe summen. Wo habe ich das gehört? Und dann kann ich es sehen: Der liebe Gott von Mergoscia gleicht in seinem Äußeren, in jedern seiner Züge, in seiner Armbewegung, verblüffend – dem lieben Carlo Vester vom Monte Verità!
Wer hätte das gedacht? Jetzt weiß ich es also.
Und beglückt mache ich mich auf den Weg durch das lange Verzascatal. Das Dorf Vogorno wird als das romantischste Dorf des Tales bezeichnet. Bei glühender Sonne klettere ich im Schweiße meines Angesichtes rauf und sehe nach. Die unverputzten, winzigen Steinhütten ducken sich schräg am Berghang. Sie bilden eine steinerne Kaskade, eine Kaskade der Armut.
Romantisch?
Na, ich weiß nicht, – ich habe nicht den Mut, diese bedürfnislos und entsagungsvoll lebenden Menschen in den engen Steinkäfigen der Hütten zu fragen, ob sie ihr Leben romantisch finden. Vielleicht ist das mein Fehler.
In S. Bartholomeo sehe ich mir die kleine Kirche an, deren Decke über dem Altar ganz besonders hübsch mit Weinblättern, Weintrauben und weißen Tauben bemalt ist.
In Lavertezzo tritt der Fluß aus der Tiefe der Schluchten zutage und strömt nun offen in seinem Bett aus nacktem Fels, der ausgeschliffen ist und phantastische Formen ange-[210; Foto: Lavertezzo im Verzascatal]

nommen hat. Die Kirchhofmauer in Lavertezzo haben sie mit großen Eisenkreuzen bepflanzt, die eiserne Totenschädel und gekreuzte Knochen tragen. Es sieht schauerlich aus. Man traut sich kaum in die Nähe zu kommen.
Die Nacht verbringe ich dann in dem netten Zimmer eines kleinen Gasthauses, in einem ganz vorzüglichen Bett, während ein dunkeläugiges Mädchen auf mich aufpaßt. Sie ist bildschön, denn sie ist ein Wunder von einem Bild, in strahlenden Farben. Die zahlreichen Gewänder sind mit Glimmer bestreut und mit Pailetten besetzt. Ganz groß. Dazu steht in gestickten Buchstaben oben drüber: SANTA TERESA. Sie ist wirklich sehr hübsch. Und da sie gerade neben meinem Bett hängt, muß ich sie immerzu ansehen, und sie sieht mich immer an. Leider erinnert mich ihr Gesicht an meine Jugendfreundin Margot, die so gern Pfannkuchen aß und sehr streitsüchtig war. Und weil ich außerdem sehr neugierig bin und alles näher untersuchen muß, da stehe ich auf und nehme das Bild ab und sehe nach, ob auf der Rückseite vielleicht eine Gebrauchsanweisung zu finden ist. Und meine Vermutung bekräftigt sich. Auf der Rückseite steht: »Gegen Husten, Katarrh, Heiserkeit...«, eine Reklame für Alpenkräuterbonbons!
Das Mädchen blickt mich aus dunklen Augen tief und innig an. Ich habe, so viel ich weiß, weder Husten noch Heiserkeit. Ich hänge das Bild wieder an die Wand, steige ins Bett, ziehe mir die Decke über die Ohren und brumme: »Nein, Margot, also ausgeschlossen, weder Pfannkuchen noch Alpenkräuterbonbons, nicht bei mir, und schon gar nicht bei nachtschlafender Zeit. Ich will mich nicht mit dir darüber streiten. Keinen Ton will ich hören. Pfannkuchen machen dick, und Bonbons geben bloß Zahnschmerzen. Und [211] überhaupt, das könnte dir passen, mir hier was vorzulutschen, wenn ich schlafen will. Gute Nacht!
Am Morgen pruste ich über dem Waschfaß, blicke zum Fenster hinaus, probiere meinen besten Tabakhusten, gurgele, räuspere mich und sage: »Wissen Sie, gnädiges Fräulein, ich hasse Alpenkräuterbonbons und die Leute, die aus dem Munde lang weg nach Alpenkräuterbonbons riechen. Das mag ich nicht. Mögen Sie das? Sehen Sie, Sie schweigen, Sie können das für sich behalten, Sie sind eine Dame. Mir ahnt etwas, daß Margot vielleicht doch keine richtige Dame war. Margot war so vorlaut, sie plapperte einem immer über die Zehen. Das ist eine unangenehme Angewohnheit, finden Sie nicht auch?«
Die Heilige der Alpenkräuterbonbonlutscher ist so bescheiden und äußert sich nicht dazu. »Aha«, sage ich darauf, »die Dame zieht vielleicht Alpenkräutertee vor? Jeder hat seinen Geschmack. Margot liebte es, Pfannkuchen zu schmausen und ohne Büstenhalter zu gehen. Ich liebe starken, schwarzen Kaffee und gehe ohne Sockenhalter, wie Sie vielleicht bemerkt haben. So verschieden ist das nun. Und Sie, Madame, Sie gehen immer mit diesen Blumen da im Arm. Was sind das eigentlich für Blumen? Darf ich mal sehen? Ah, sehr schön, Päonien, rosarote Päonien, die passen zu Ihrem Heiligenschein wirklich ganz ausgezeichnet! Haben Sie gehört, jetzt ist der Kaffee serviert. Madame Teresa, darf ich mich verabschieden?«
Dann gehe ich. Sie blickt mir nach, aus tiefen, dunklen Augen, wie hübsch und lieb. Kein grollendes Wort, keine Abschiedsszene. Wir kamen eigentlich gut miteinander aus.
Ich tummle mich weiter das Tal hinauf. In Brione steht ein riesiger Christophorus auf die Kirchenwand gemalt, [212] draußen, neben dem Portal. Er reicht vom Boden bis unter das Dach, breitet sich mächtig über die ganze Fassade. Einen prima Hermelinmantel hat er sich um die Schultern geschlagen. Seine brennenden Augen starren mir von weitem entgegen. Er sieht ernst und grimmig aus. Das kann man verstehen. Er steht nämlich schon sechshundert Jahre hier. Das muß kein Vergnügen sein. Sechshundert Jahre hat er hier auf mich gewartet, und endlich komme ich. »Guten Tag, mein Freund«, sage ich höflich, »gut, daß du nicht vergebens zu warten brauchtest.« Vor Rührung fängt er sachte an zu weinen. Zu einer mehr weltlichen und weniger poetischen Sprache übersetzt will das bedeuten: es fängt an zu nieseln. Schwere graue Wolken haben den Himmel überzogen, ein weicher Regen weht.
Im Regen schwanke ich über eine schaukelnde Hängebrücke, die von den Talbewohnern erbaut worden ist. Im Regen sehe ich ein Dorf, von dem nicht viel mehr als ein Trümmerhaufen übrig ist. Eine Lawine hat es im zeitigen Frühjahr vernichtet, nur die Kirchturmspitze ragte noch aus dem Schnee hervor, erzählt man mir.
Und im prasselnden Regen erreiche ich Sonogno, das oberste Dorf am Ende des Tales. Ich sehe gerade noch ihren rauchgeschwärzten Gemeindebackofen, der mitten im Dorf an der Dorfstraße steht. Dann flüchte ich in das nächste Gasthaus. Der Regen rauscht herab. Jetzt hat es sich richtig eingeregnet, die Wolken hängen wie aufgespießt an den Bergen fest. Jetzt hört es hier vorläufig nicht mehr auf.
Erst wird mein Zeug am Ofen getrocknet. Dann eine solide Mahlzeit mit einem wärmenden Schlückchen. Und dann kommt die Nachspeise. Ich sehe, schnüffle, schmecke. Was ist das? Großartig, wie ein Gedicht, himmlisch! [213]
Draußen rauscht der Regen. Laß ihn rauschen. Ich löffle und lasse die süße Speise auf der Zunge schmelzen. Dabei habe ich neben mir ein Buch aufgeschlagen, um zu sehen, was der kluge Bonstetten eigentlich über das Verzascatal zu berichten hat. Ich vergesse das Löffeln, mir sträubt sich das Fell Und ich muß es nochmals lesen. Da steht unter dem 5. September 1797:
»Morgen reise ich ins Valle Verzasca, wo noch nie kein Fremder gewesen. Die Bewohner sehen aus wie Wilde; in keinem Tal ist das Morden gemeiner.«
Mir entsinkt der Löffel, und ich bitte die wilden Mörder um die Erfüllung meines letztenWunsches: mir Namen und Zubereitung dieser edlen Nachspeise zu verraten. Der Wunsch wird mir gewährt.
Liebe Freunde, wenn ich nie von hier zurückkehren sollte, ich sende euch dieses Rezept, benutzt es fleißig. Hier ist es:
Zabaglione a la Sonogno – für eine – ziemlich gefräßige – Person: Drei Eigelb, drei Löffel Zucker, eine halbe Eierschale gestrichen voll Marsala (Weißwein oder auch Rum), wird in einem Gefäß, das in warmem Wasser steht, gut gerührt, danach die Hälffe vom Eiweiß geschlagen und beigegeben.
Guten Appetit, ihr Glücklichen ! [214]
... und Verliebten
Liebe, liebe Ditte, nun bist du weg, und die Glyzinien auf unserem Balkon, die zu deiner Ehre anfingen zum zweitenmal zu blühen, sie blühen immer noch und duften mir etwas vor – das nicht mehr da ist. Sie standen dir so gut, besonders... na, du weißt!
Es war wunderschön, als du hier warst, ganz dicht bei mir. Und ich bin dir dankbar. Wie mag es dir jetzt gehen? Lach nicht so ungehobelt, danach hat man in Briefen zu fragen. Und du hast zu antworten: danke, auch einsam. Und ich habe dir das ausnahmsweise zu glauben.
Warum mußtest du schon fahren? Die Pflicht, die Arbeit... ach, wir sind alle neunmal verpflichtete Häuser, in uns wohnt so viel, Schönes und weniger Schönes. Was ich alles hätte schreiben sollen in der Zeit, als du hier warst. Und es wurde nichts draus, nichts wurde getan. Alles wurde getan! Wir taten alles, was uns einfiel. Ist das etwa keine volle Anerkennung deiner – reizenden Vorzüge oder vorzüglichen Reize? Wie gewöhnlich, du darfst wählen. Und nun sitze ich hier mit meiner Arbeit und schinde und schwitze und muß sehr viel Wein trinken, um das wieder gutzumachen.
Du kannst lachen, du läßt andere für dich arbeiten. So schön möchte ich es auch mal haben. Du stehst jetzt in [188] deinem Gymnastiksaal und läßt deine Schülerinnen schwitzen. Ich höre dich kommandieren: Kopf hoch, Brust raus, Becken vor, auf die Zehenspitzen – streckt! Na, deine Schülerinnen hätten dich mal hier sehen müssen, als wir beide den Pizzo Leone bezwangen, und du wie eine in Sherry getauchte und etwas angenieselte Weinbergschnecke den Berg raufgekrochen bist. Was hast du dazu zu bemerken? Nicht wahr: »Es ist nicht alles Spaß, was glänzt«, und »im Schweiße deines Angesichts sollst du deine Schokolade essen!«
Erinnerst du dich, wie das mit dem Pizzo Leone eigentlich kam? Natürlich waren wir neugierig, wie immer. Und schließlich türmt sich der Berg auch ziemlich herausfordernd gleich hinter unserem Hause als so eine Art Bruder des Ghiridone auf. Wer kann denn so etwas auf die Dauer aushalten? Na, was denn, immerhin sechzehnhundertfünfundsechzig Meter himmelwärts, ich bitte. Danke sehr, so etwas sieht man sich doch erst mal eine Weile an, bevor man die Hand aufs Herz legt und gelobt: jetzt oder nie!
»Also jetzt«, sagtest du, denn ein guter Kamerad, das bist du immer gewesen und ganz besonders, wenn unsere Touren wie üblich weit von Gottes und der Menschen Wege abwichen, und wir lachend und fluchend dort herumstolperten, wo es am allerbeschwerlichsten ist. Dann pflegst du zu sagen: »Na, der richtige Weg ist das wohl nicht, und ein Weg ist es auch nicht, aber es ist spannend, wo wir landen werden?.« Wir hutteln uns so durch dick und dünn weiter und kommen immer irgendwohin, zu dem einen oder anderen Ort, von dem wir vorher nichts ahnten. Und dann sprichst du die anerkennenden Worte: »Du, Dichter, das haben wir aber wieder mal fein gemacht, das hier hätten wir [189] sonst nie gesehen, und wir haben es doch gefunden.« Wahrlich: Findet, und ihr braucht nicht zu suchen.
Seitdem mein guter Onkel Theodor, der examengeprüfte Raubtierwärter, tief enttäuscht brummte: »Du bist mir schon ein schöner Dichter«, weil ich noch nie einen Reim zustande brachte und er von mir einen Schlachtgesang zu seinem Raubtierjubiläum vermißte, da glaubst du mich »Dichter« nennen zu müssen.
Und als Begründung führst du unschuldsvoll an: »Denn schließlich hast du mich gefunden, und wir reimen uns so gut.« Das tun wir.
So, und jetzt setz dich mal hin, halte deinen sündigen Mund und hör gut zu. Ich weiß schon, du willst mich nur von der Geschichte mit dem Pizzo Leone abbringen, aber das soll dir nicht gelingen, das laß ich mir nicht bieten. Schließlich schreibe ich hier was mir paßt, auch ungereimtes Zeug.
Also, liebes Fräulein Sylvia – denn so heißt du immer noch bei mir, wenn ich sinnig mit dir spreche – also versuch doch mal, so ehrlich zu sein, wie es dir mitunter wirklich gelingt. Schön. Dann mußt du zugeben, daß du niemals dieses »also jetzt!« ausgesprochen hättest, das uns auf den Pizzo Leone trieb, wenn du geahnt hättest, was uns blühte?
Das Holz des Anstoßes war jenes verwitterte Brett, das wir bei Ronco entdeckten, und auf dem geschrieben stand: Pizzo Leone 1 1/2 Stunden. Was solche infamen Hinweisungen schon alles auf dem Gewissen haben: Freundschaftsbrüche, Aufhebungen von Verlobungen, gegenseitige Bitterkeit für den Rest des Lebens, Ehescheidungen. Es ist gar nicht abzusehen. Denn diese Angaben stimmen nie, und die auf den Weg Gelockten entdecken es erst, wenn es zu spät [190] ist. Wir zwei haben das überstanden und reimen uns immer noch. Das will was besagen. Und darum komme ich darauf zurück, um dir, Fräulein Sylvia, diesen Kranz leidenschaftlicher Bewunderungsblumen flechten zu können.
Nun setz mal dein einnehmendes Verführerinlächeln auf deine schmeichelhaften Züge – nicht das Berufslächeln, das du hast, wenn du deine armen Gymnastikschülerinnen auf dem Parkettboden mit der Rückenschaukel schindest, bei der sie immer umkippen und sich blaue Knie und Ellbogen holen – nein, das andere, du weißt, jawohl! und dann entsinne dich an jenen Morgen. Die Wolken zerteilen sich, es trippelte noch ein bißchen, ein paar Regentropfen, die nicht richtig wußten, ob sie rauf oder runter wollten, und die Sonne kam hervor.
Wir befanden uns nicht ohne zwingenden Grund auf dem Wege nach Ronco. Unsere beiden Zweiliterflaschen waren leer und mußten zum Dorf geführt werden, wo sie den Roten vom Faß zapfen. Oh, feierliche Handlung! Die Sonne... das sagte ich schon, und dann kam uns jenes verdammte Brett mit den anderthalb Stunden in den Sinn, und ich hörte dich sagen: »Also jetzt! Du, Dichter, also jetzt wollen wir den Schopf bei der Gelegenheit fassen, wir lassen die Flaschen hier stehen, sehen uns das Pizzo-Löwchen an, und auf dem Heimweg holen wir den Wein ab. Was fehlt uns denn sonst noch daheim zum Frühstück?«
»Geehrtes Fräulein Sylvia«, antwortete ich ernst und gemessen, »bist du eigentlich darüber im klaren, wenn auf so einem dämlichen Brett anderthalb Stunden steht, dann rechne ich für meinen Teil drei Stunden.«
»Wann hast du denn angefangen, berechnend zu werden?« fragtest du Wunderholde und rechnetest mir mit un-[191]faßbarem weiblichem Elan vor: »Na, wenn schon, drei Stunden rauf und drei Stunden runterchen, also sagen wir fünf Stunden, dann sind wir gerade zurück um Ronco aus dem Mittagsschlaf zu wecken.«
Ach, du geliebter Engel des Leichtsinns, du weißt, wie es uns erging. Wir bekamen an diesem Tage keine Weinflaschen, kein Frühstück und kein Ronco mehr zu sehen.
Wir steckten uns eine Tafel Schokolade in die Tasche und pilgerten los, kletterten lotrecht über Ronco empor, keck und heiter, höher und höher. Es wollte kein Ende nehmen. Die Birken um uns wurden nach und nach zu Zwergbirken, und dann gab es dichtes Knieholz, das uns allerdings bis über die Ohren ging und schlimm riß und kratzte. Und du immer eifrig dabei. Ich sehe dich noch tapfer steigen und schwitzen, die eine Gymnastikstunde nach der andern, welches herrliche, welches unbezahlbare Training. Der Berg sonnte sich in fünfzig Grad schattenloser Hitze, und die Aussicht war einfach hinreißend. Wir blickten den Abgrund an. Der Abgrund blickte uns an. Wir blickten uns an: Nur nicht hinreißen lassen! Kein Wind, kein Luftzug, keine Menschenseele. Der Berg dampfte vor Wärme und wir mit. Aufwärts, immer schräg aufwärts...
Siehst du, und da fing es langsam an in uns zu dämmern. Man kann auch knurren dazu sagen, es fing an in uns zu knurren. Das Wort Frühstück wurde zaghaft erwähnt. Und jetzt hätten fünfundneunzig von hundert angefangen, sich gegenseitig zu beknurren. Das hast du nicht getan. Du gibst in solchen Fällen nicht auf, du bist auch im Ernst kein Spielverderber. Und dafür liebe ich dich. Wir fanden Bergquellen, kosteten, tranken, bedankten uns bei dem Berg, klopften dem Felsen auf die Schulter und stiegen weiter. [192]
Weißt du noch, wie festlich das war, als wir uns zwischen gewaltigen Felsenbrocken endlich eine halbe Tafel Schokolade genehmigten? Die andere Hälfte blieb unsere Notration. Aus tausend Meter Tiefe blickte das blaue Seeauge des Lago Maggiore zu uns auf und sah zu, wie du einen langen Kuß zum Nachtisch bekamst. Dann tranken wir nochmal Bergquell-Extra, und dann ging es weiter.
Einmal begegneten wir einem massiven, mannshohen Holzkreuz. Es stand am Rande des schmalen Pfades. Ein von Wetter, Sonne und Frost gebräuntes Holzkreuz. Was fühltest du da? Wir sagten weiter nichts, standen ein Weilchen still: da hatte es also einen erwischt, das Abgrundstier, der schlummernde Drache. Auf dem schmalen, bröckelnden Saum zwischen dem Pfad und dem Nichts stand das Kreuz. Hatte dort jemand seinen Fuß einen halben Schritt zu weit vorgesetzt, oder ist ausgeglitten, im feuchten Moos oder im Schnee, oder – ?
Die Luft wurde empfindlich dünner und klarer und schärfer, und merklich kühl trotz der Sonne. Die der Sonne abgewandte Seite des Körpers fühlte sich eisig an. Wir holten unsere Pullover aus der Schultertasche und legten sie um den Hals, über den eiskalten Nacken. Der Berg steilte sich, wie das ein richtiger Berg zu tun hat. Und da bekamst du einen deiner neckischen Einfälle und meintest: rauf müssen wir doch, so oder so, also dann lieber schon die Geschichte kurz machen und quer durch.
»Hochverehrtes Fräulein Sylvia, du mußt wissen, in den wilden Bergen den letzten Pfad verlassen, das ist genau so, wie auf hoher See aus dem Schiff aussteigen. Nämlich, nicht besonders zu empfehlen.«
»Du, Dichter, laß uns mal probieren, hm?« [193]
Wir probierten. Du liebes Himmelchen, wir versanken in einem Dickicht von stachligen Schlingpflanzen, messerscharfem Gras und hohen Farnkräutern. Nie zuvor habe ich so hohes Farnkraut erlebt. Es reichte uns bis über die Köpfe und wir sahen nichts mehr. Wie Elefanten brachen wir uns einen Weg durch diese Wildnis.
»Gibt es hier Schlangen?« hörte ich dich rufen.
Was soll man darauf antworten? Natürlich gibt es hier Schlangen, und mit der Bergviper ist nicht zu spaßen. Aber die Viper ist sehr scheu, und so wie wir herumtrampelten, da wäre selbst ein Tiger geflüchtet. Außerdem war das hier kein guter Ort, sich lange über Schlangen zu unterhalten.
»Nein«, rief ich zurück, »hier hat es nie Schlangen gegeben.«
Fast gleichzeitig hörte ich dich schreien: »Eine Schlange, eine Schlange! Paß auf!« Und zwischen uns glitt sie hindurch, abwärts, ein schönes, fettes Exemplar.
Das war nicht nett von der Schlange. Da ist man nun immer in den Bergen herumgekrochen und nie einer Schlange begegnet, und ausgerechnet jetzt... Aber wir bekamen anderes zu tun, als uns über Schlangen aufzuregen. Wir kämpften uns verzweifelt irrsinnig schräg empor. Wir glitten und rutschten, es schrammte und kratzte uns. Dann wurde es lichter, der Pflanzenwuchs wurde spärlicher, hörte bald ganz auf.
Prustend standen wir wieder auf einem Bergrücken. Und was sagtest du? Du sagtest innig: »Das hier, das war schlimm, du meine Güte, ich wäre beinah gestorben vor Angst – nie wieder, das verspreche ich dir, nie mehr in den Bergen von einem Pfad abgehen, mir wurde ganz blaßrot vor Augen und ich kriegte keine Luft mehr unter dem Farnkraut.« [194]
Um uns war nun nur noch heiteres Himmelblau. Aber vor uns reckte sich ein neuer, breiter, hoher Buckel. Der letzte. Mittendrin in der überwältigenden Masse Blau stand dieser letzte Felsenrücken. Hart und nackt und grau, mit eingesprenkelten grünen Tupfen. Eine wüste Angelegenheit von kolossal in Unordnung geratenen pittoresken Steinblöcken. So sahen wir es, als wir Hand in Hand da standen und den schmalen Ziegenpfad entdeckten, der zur Alpe di Naccio hinführt.
Ein paar kleine Häuschen standen dort, und eine herrlich hohe Schaukel. Eine Riesenschaukel, als ob das noch nicht hoch genug wäre hier oben. Und da schaukelte ein Kind, ein kleines Mädchen, schwang sich in all dem Himmelblau – vierzehnhundertunddreißig Meter über dem Meer. Das konnten wir auf der Karte lesen, und auch, daß uns immer noch gut zweihundert Meter bis ganz oben fehlten.
»Hier wäre ich gern ein Weilchen Kind gewesen«, dachte ich laut.
»In jedem Männchen schluchzt ein verrotztes Kindchen«, bemerktest du mütterlich und lehntest deine weichen, warmen Formen an meinen Körper und hängtest dich mit beiden Armen über meine Schultern – wie müde mußt du gewesen sein. Du sagtest nicht mal mehr einen deiner weisen Sprüche, wie: Mit mürben Schenkeln ist nicht gut Kirschen pflücken! Du sagtest nichts mehr. Wir ließen uns stumm in das bescheidene Gras plumpsen, und das war hart, denn es war kein Wiesenboden, sondern Stein.
Dann kam die Mutter des schaukelnden Mädchens und erzählte uns schonungslos, daß es immerhin noch eine kleine Stunde bis zum Gipfel des Pizzo Leone sei. Und während [195] wir da saßen und mit der Katze des Hauses spielten, entdeckte uns eine Horde Gänse, die sich mächtig über uns aufregten und gräßlich anfingen zu schreien. Da kam die Frau dicht zu uns hin, weil sonst bei dem verrückten Lärm nichts zu verstehen war, und fragte: »Wissen Sie, warum die Gänse so aufgeregt schreien?«
»Nein«, sagte ich, »weil wir fremd sind?«
»Nein«, antwortete die Frau und lächelte wissend. »So schreien die Gänse jedesmal, wenn sich jemand mit der Katze abgibt – dann werden sie eifersüchtig.«
Das hatte ich noch nie gehört. Es machte mir einen tiefen Eindruck. Es klang so unheimlich symbolisch: Eine Schar eifersüchtig schnatternde Gänse, wenn jemand mit der Katze spielt!
Denk mal an, was hätte der gute Professor Sigmund alles daraus schließen können, wenn er jemals auf der Alpe di Naccio gewesen wäre? Aber er war nicht. Und darum durfte das hier so hübsch unkompliziert verbleiben. Die Frau blickte mich nicht bedeutsam an und flüsterte auch nicht ehrerbietig: Sehen Sie, das war hier, wo der gelehrte Herr aus Wien die Idee für seine berühmte Abhandlung über die neurotischen Bedingungen des Eifersuchtskomplexes bekam, die dann zu der klassischen Theorie im fünften Band auf Seite siebenhundertundsiebzehn führte, daß... Nein, dem blauen Himmel sei gedankt, so was sagte die Frau nicht. Sie lächelte nur unergründlich wie die Mona Lisa und schwieg. Und ich erfahre es niemals, ob sie auf die Katze eifersüchtig war oder... Oder was meint das um anzügliche Bemerkungen nicht verlegene Fräulein Sylvia dazu?
Soll ich es sagen? Ich höre dich murmeln: »Mach dich nicht madig, mit deinen Pflaumereien!« [196]
Dabei verziehst du den Mund ein wenig zu der einen Seite, weil du glaubst, dann sähest du besonders pfiffig aus, und rollst eine halbe Umdrehung gymnastisch geschult mit den Augen – und schuldbewußt setze ich momentan und sehr sachlich fort.
Also, wir sagten zu der Frau: »Von hier aus können Sie weit nach Italien hineinsehen.« Wir taten das auch, wir sahen – die aus einer tiefen Schlucht aufragenden schwarzgrauen Steintürme, die ihre Spitzen in das Himmelsblau bohren.
»Ja«, sagte die Frau, »sehen schon, aber da kommt keiner rüber.«
Wir glaubten es ihr gern. Die gezackten Felsennadeln des Ghiridone wirken sehr eindeutig abweisend. Ein Adler kreiste um die steilen Zinnen und schien die atemberaubende Regungslosigkeit nur noch zu unterstreichen. Und hier leben sie nun, ein paar Menschen, wie in einer überirdischen Kathedrale, gesponnen aus dem Licht des blauen Nichts und Alls – sie leben schon halb im Himmel.
Wir verabschiedeten uns und tapsten höher hinauf, zur Dachetage. Wir waren schon zu weit weg, es war zu spät, als es uns einfiel, wir hätten doch fragen können, ob die Frau nicht etwas Eßbares verkaufen möchte.
Du sagtest: »Dichter, an was denkst du eigentlich?«
Ich sagte: »An dich, Donna Sylviana.«
Du: »Das merke ich, darum läßt du mich verhungern und verderben, und so was nennt sich Erholung in den Ferien, und überhaupt – nimm erst mal die Pfeife aus dem Maule, wenn du an mich denkst, also Männer heutzutage, meine Großmama sagt auch: es hat keinen Zweck sich mit Männern abzugeben, sie sind irritierender als ein zu stramm sitzender [197] Büstenhalter, und wenn man sie wirklich mal braucht, dann rauchen sie Pfeife und denken. Sag mal, an was denken Männer eigentlich immer, wenn sie nichts denken?«
Ich hätte antworten sollen: sie denken wohl an dasselbe, worüber Frauen viel und lange reden können, ohne etwas damit zu sagen. Aber ich schwieg und wanderte stumm auf dem Rückgrat des Pizzo Leone weiter. Denn hungrige Menschen und ähnliche Raubtiere soll man nicht reizen.
Und weißt du, woran ich dachte? An dasselbe, woran auch du sicher dachtest: an die halbe Tafel Schokolade, die wir noch besaßen. Ich dachte: auf die fünfzig Gramm müssen wir nun unseren ganzen Abstieg bauen! Diese wenig erhebende Erklärung wagte ich gar nicht laut zu äußern.
Dann standen wir endlich oben, sozusagen auf dem Dach unserer Welt. Wir waren mächtig stolz und ein klein wenig beklommen, wie von zu Haus ausgerissene Kinder. Tief, tief drunten ruhte der Lago Maggiore im bläulichen Dunst und zwinkerte uns anerkennend zu: Donnerwetter, da seid ihr ja, Kinder! Es war berauschend schön. Und wir brauchten nur die Hand auszustrecken, um den Himmel anzufühlen. Wie fühlte er sich an? »Wie Frühlingsseide, sagen die Chinesen.«
Und du sagtest: »Ach, denk mal an, wohnen auch Chinesen auf dem Pizzo Leone?«
Um dich zur Ordnung zu rufen, drehte ich mich still herum, streckte den Zeigefinger schräg nach unten und zeigte dir in sechzehnhundert Meter Tiefe einen dunklen Flecken am Rande des Sees, kaum so groß wie eine Streichholzschachtel. Das war Brissago, unser nächstes Ziel. Und dazu bemerkte ich leise: »Weißt du, meine Liebe, was die Mona Lisa von der Alpe di Naccio sagte? Sie sagte: nach Brissago? [198]
Vier bis fünf Stunden Weg. Du – und das vermochte diese Bergdame mit einem Lächeln zu sagen.«
Worauf du mich anblicktest und freundlich lächelnd meintest: »Wenn ich mir nun hier den Fuß verstauchen würde?«
Ich wollte dir beibringen, wie ich dich dann allein unter Adlern und Schlangen in Nacht und Grauen liegen lassen müßte, um abzusteigen und Hilfe zu alarmieren. Und am folgenden Tage würden sie dann kommen, um Donna Sylvias Reste auf ein Maultier zu binden und... Aber ich kam nicht dazu, dir das zu erzählen, denn so müde wie du warst, so furchtbar müde, – fingst du auf einmal an zu lächeln, du lächeltest mir zu, und wir verstanden uns wie immer, wenn es darauf ankommt.
Wir teilten unser letztes Stück Schokolade und sprachen davon, was wir alles essen wollten, wenn wir wieder in zivilisierte Gegenden kämen. Und dann ging es abwärts, stundenlang, mit matten Knien. Erst bei einbrechender Dunkelheit erreichten wir Brissago und stärkten uns, um uns dann auf das letzte Stück Heimweg zu machen.
»Irren ist menschlich«, seufzte ich, »aber der Hunger auch.«
»Und folgt gratis mit«, fügtest du mit einem müden aber unbezwinglichen Lächeln hinzu. Immer wenn ich liebevoll an dich denke, wird dieses Lächeln mitgedacht werden.
Und jetzt brauchst du bloß noch zu sagen: »Du alter Heuchler, du warst doch schon dabei, mich den Adlern vorzuwerfen und mein Skelett auf ein Maultier zu binden. Aber mein Lächeln rettete mich davor. Nun bilde dir bloß nicht ein, – ich lächelte nur aus Notwehr!«
Wirst du das sagen können und meinen Lorbeerkranz der [199] Bergbesteigung, den ich auf dein kluges Haupt drücken will, unter deinen Füßen zertrampeln?
Ach, Donna Sylviana, ich weiß, du kannst es nicht über dein blondes Herz bringen, wenn du wieder daran denkst, was wir beide hier alles anstellten. Von dem Augenblick an, als du kamst, als ich dich in Bellinzona abholte. Der Zug lief ein, und da warst du – mit einem mühlradgroßen, ultramarinblauen Strohhut flott über das goldene Haar gedrückt. Und als wir mit der Wiedersehensfreude und der langen Umarmung fertig waren, da sammelten wir atemlos deinen Strohhut vom Bahnsteig auf, bestiegen den Zug nach Locarno und fühlten, es war alles, alles gut und richtig mit uns beiden. Wir hatten uns so viel zu erzählen, wir mußten gleich mal in Locarno erst Station machen, in einem kleinen Hotel. Wir sehnten uns beide... Nein, hier überspringen wir siebzehn Zeilen. Und draußen vor der grünen Doppeltür unseres Zimmers, unter der Terrasse, da lag der alte erfahrene See und schmunzelte gerührt über so viel Verliebtheit.
Und als du dann deinen Einzug in meiner Wohnung hieltest, auf meinem Balkon, – da wurde es unsere Wohnung und unser Balkon. Dein Dasein schmückte die kahlen Räume, dein Duft breitete sich und belebte alles auf eine neue Art. Du hast sogar meine Hausspinne anerkannt. Denn so etwas hat man im Tessin, ein paar mächtig große Spinnen, die Hausrecht genießen und dafür alles Kribbelkrabbel im Hause vertilgen. Wir alten Tessiner wollen unsere Sitten und Gebräuche respektiert wissen. Du lerntest alle die Tierchen beim Vornamen kennen, die bei uns ein und aus gingen, die Eidechsen und Käfer, die Tausendfüßler und Nachtfalter, die Fledermäuse, die uns jeden Abend ihren Besuch im Zimmer abstatteten, alles, alles. [200; Zeichnung]

Alles lerntest du kennen, immer warst du dabei.
Wir kletterten in den Bergen, wir ruderten auf dem See und schwammen in ihm. Wir streiften schönheits- und auch [1201] anders trunken durch das lange Maggiatal. Wir fühlten uns heimisch in Brissago, wo sie die herrlichsten Speisen des Tessin zu bereiten verstehen. Wir drangen hier und dort über die Grenze ins Italienische ein und schwelgten in Luinos Südfrüchten, in Cannobios Sahneneis und im Lindenblütenduft von Cannero. Wir reisten bis ans Ende des Centovalli, wir kletterten bis nach Palagnedra hinauf, um die Grenzwächterstation zu beschnüffeln, die von Schmugglern belagert und ein paar Tage von der Umwelt abgeschnitten worden war. Wir konnten uns beinahe nie mehr von Camedo losreißen, wo wir fünfzehn Schritte von der Grenzbrücke entfernt wohnten und unsere Morgenbrötchen aus Italien bezogen. Wir wandelten verliebt auf den Brissago-Inseln durch Bambuswälder, schlenderten vorbei an duftenden Blumenbuntheiten und bizarren Agavenhecken. Wir saßen auf einer Bank unter Palmen und...
Und dann – stand ich auf dem Bahnsteig und du standest im Zug am offenen Fenster, reichtest mir Hand und Mund zum Abschied und sagtest mit schwacher Stimme, als sich der Zug schon in Bewegung setzte: »Wenn du traurig bist, siehst du also wirklich traurig aus.«
Und zu diesen goldenen Worten hätte ich beinah gesagt: »Bleibst du hier, wenn ich mitfahre?«
So etwas Schönes sagt man nur bei abfahrenden Zügen. Dann warst du weg, und da stand ich, erwischte gerade noch das letzte Postauto nach Porto Ronco, krabbelte in totaler Finsternis die achthundert Stufen empor und wandelte wie ein Mondsüchtiger über den Bergweg zu unserem Haus.
Auf einmal war es so einsam. Die Glyzinien, alle Nachtfalter und Fledermäuse weinten, als ich nun ohne dich heimkam. [202]
Bald steigt der Mond über dem Gambarogno auf – und wo bist du, Donna Sylvia?
Der Duft deines Körpers verweht aus meinem Zimmer, der Duft deines Haares auf meinem Kopfkissen ist nur noch schwach, und ich schreibe das hier, um den flüchtigen Duft der Erinnerung festzuhalten, das Gefühl der Rundung deiner Brust gegen meine Brust, die Wärme deiner Lippen, die weiche Berührung deiner Haut, das Spiel deiner Zärtlichkeit, wenn du... Du bist so weit weg, liebe Ditte, – und wir sehnen uns so sehr nach dir, wir alle, der See, die Tierchen, die Glyzinien, die Mondnächte, der Balkon und dein –
dein Dichter [203]
Bei der Postauto-Station in Locarno treffe ich jemand, der mir bekümmert mitteilt: »Sie wollen ins Onsernonetal? Das sollten Sie lieber sein lassen.«
Ich lache herzlich.
»Da ist gar nichts zu lachen. Sie wissen das nicht, nirgends ist es so düster und abgeschlossen wie dort, nirgends ist man so unfreundlich gegen alle Fremden eingestellt. Und mit Fremden meine ich auch uns andere Tessiner, die nicht aus dem Onsernone stammen. Wir scheinen dort recht unwillkommen zu sein, jedenfalls läßt man uns das deutlich fühlen.«
Ich winke ab, setze mich ins Postauto und los geht es.
Im Tessin mit Postautos herumzufahren, kann zu einem spannenden und zugleich schicksalergebenen Sport werden. Man kann es kaum unterlassen, man muß alle Routen probieren, die halsbrecherischsten Bergstraßen, die abseitigsten Linien. Man legt sein Leben in die Hand des einen oder anderen Chauffeurs, sieht sich den mörderisch schmalen Bergweg an und die teuflischen Abgründe, und hofft darüber hinaus das beste. Klar, der Traum aller Dorfjungen des Tessin ist es, Postchauffeur zu werden.
Wir fahren durch das fruchtbare Maggiatal und biegen ein Stück hinter Cavigliano in nördlicher Richtung ab, in [180; Zeichnung]

die steile Bergwelt hinein. Das hochgelegene Dorf Intragna, dessen stolzer Glockenturm im ganzen Maggiatal sichtbar ist, entschwindet nun. Wir fahren am Lauf des Isornoflusses aufwärts. Ein seltsamer Fluß, der fast nie sichtbar wird. Er rauscht tief unten, begraben in düsteren Felsenschluchten. Das Onsernonetal liegt zwischen zwei fast zusammenstoßenden Bergketten, die sich in ost-westlicher Richtung hinziehen. Die nördliche Seite des Tales weist gegen Mittag [181] und liegt im hellen Sonnenschein. Die südliche Seite liegt fast immer im Schatten der Berge, sie ist düster und völlig unbewohnt. Nur am Nordhang liegen die kleinen, einsamen Bergdörfer. Es ist ein wildes und zerklüftetes Tal, mit wilden und gewagten Brücken. Schon der Name der größten genügt und besagt alles: Ponte Oscuro, heißt sie, die Dunkle Brücke. Sie legt sich zwischen hohen, düsteren Bergwänden über eine schaurige Schlucht. Es ist so eine Brücke, die einen in bösen Träumen verfolgen kann.
In dem Dörfchen Russo steht die Kirche auf einem Felsensockel. Und gerade unter der Kirche, rechts neben der Treppe, die zum Portal hinaufführt, da haben sie einen großen Blechschirm hingesetzt, so ein nützliches öffentliches Häuschen, das absolut nicht zu übersehen ist. Hier können sie das Wasser lassen und eine Etage höher die Sünden. So praktisch ist es mitunter im Leben eingerichtet.
Alle diese Dörfchen des Onsernonetales erhalten ihre besondere Prägung durch die laubenartigen Holzbalkone, die oft in mehreren Stockwerken die Häuser umgeben. Wie riesige Vogelkäfige sehen die Häuser aus. Diese geräumigen Holzveranden wurden zum Trocknen des Strohs gebraucht. Das gesamte Talgebiet des Onsernone war berühmt wegen seiner feinen Strohflechtarbeiten. Die besten Körbe, die ausgesuchtesten Strohhüte kamen von hier und wurden nach Südfrankreich, Italien und sogar bis nach Mittel- und Südamerika exportiert. Doch als die Maschinen sich auch dieser Industrie bemächtigten, konnten die Strohflechter des Onsernonetales nicht mehr folgen. Einst flochten sie alle hier, Männer, Frauen und Kinder, überall und Zu jeder Zeit. Und dennoch reichte es kaum dazu aus, sie zu ernähren. Noch einmal rafften sie sich auf und machten den Versuch, [182] mit Maschinenkraft fortzusetzen. Da trat die japanische Konkurrenz auf den Weltmarkt. Selbst die anspruchslosen Onsernoner konnten die japanischen Preise nicht unterbieten. Sie mußten aufgeben. Im ganzen Tal trocknet niemand mehr Stroh. Die mächtigen Holzveranden stehen nackt und leer.
Die Bevölkerung verarmte mehr und mehr, geriet in einen apathischen, schwermütigen Zustand. Die Männer suchten sich Arbeit in der Fremde, die große Auswanderung begann. Die verarmten Dörfer leerten sich, vereinsamten, verfielen.
Im Tessin sagt man, allerdings nicht laut, die drei Merkwürdigkeiten des Landes seien: Der Campanile von Intragna, der höchste Glockenturm. Der Melide-Damm, die imposante Überbrückung des Luganersees. Und -- der Hunger des Onsernonetales. Das letztere wandelte sich nach und nach im Volksmunde zu dem Wort: Mut. Denn die Onsernonen hielten zäh aus, sie behaupteten sich stolz durch die Zeiten arger Not und Armut. Und wer kann es ihnen verdenken, daß sie sich in ihrem Kummer gern mit Wein trösteten. Den Wein hatten sie doch jedenfalls, wenn sie weiter nichts bekommen konnten. Der Wein wuchs bei ihnen. Doch nun wurde eine andere boshafte Redensart über die Onsernonen geprägt: So lange man im Onsernonetal noch einen Brotkanten in der Schublade hat, ist man großschnäuzig und rührt keine Arbeit an. Natürlich verbittern solche Worte die Bewohner des Tales. Und das mag viel dazu beigetragen haben, daß sie in Opposition zu den übrigen Tessinern gerieten und sich nur noch mehr in ihren entlegenen Talwinkeln abschlossen.
In Spruga endet die Fahrt des Postautos, in elfhundert [183] Meter Höhe. Wo das Dorf zu Ende ist, steht das Haus der Grenzgendarmerie. Drüben, hinter den Bergmauern, liegt Italien.
Und nun fangen meine Überraschungen an. Die Gasthäuser in Spruga, ein paar Hotelbauten, wirken merkwürdig tot mit ihren geschlossenen Fensterläden, alles so verrammelt. Ich trete in die Gaststube ein, trinke ein Glas Wein und stelle die übliche Frage nach einem Zimmer, einem Bett für die Nacht. Eine Mauer kalter Luft merke ich um mich herum aufwachsen. Und dann die Antwort, die Art, in der die Antwort kommt: der Gastwirt wendet kaum den Kopf, blickt über die Schulter hinweg zu mir hin. Dann wendet er sich wieder seiner Beschäftigung zu. Und ohne sich weiter um mich zu kümmern, schüttelt er nur den Kopf. Ich frage, ob er weiß, wo man ein Bett bekommen könnte? Kopfschütteln. Fertig. Und da ziehe ich los, zum nächsten Gasthaus und zum nächsten. Und dann zum nächsten Dorf, das weit entfernt liegt. Dasselbe. Überall das düstere Schweigen, die gleichgültige Haltung, der spürbare Unwillen, die frostige Kälte gegen den Fremden, den sie damit hinausfrieren.
In Vergeletto ist das Gefühl des Ausgestorbenseins noch fröstelnder. Da steht ein mächtiger Kasten, ein mehrstöckiger Hotelbau, der völlig tot anmutet. Ich gehe rein. Nur der Klang meiner Schritte durch die leeren Hallen. Leere Treppen und Gänge, unbenützt, verstaubt. Ich klatsche in die Hände und rufe. Nur das hohle Echo meiner Bemühungen ist hörbar. Ich steige eine Treppe hinauf. Ein Gang mündet in einen hallenartigen, düsteren Raum. Fast pralle ich erschrocken zurück. Dort sitzen zwei alte Frauen vor einem Kaminfeuer, ganz allein, unbeweglich, [184] finster schweigend. Ich grüße höflich, wiederhole meine ewige Frage. Erbittertes Schweigen ist die Antwort. Ein mächtiger Hotelbau steht leer und tot. Und die eine der alten Frauen schüttelt endlich den Kopf: nein, sie hat kein Zimmer für mich. Darauf blickt sie zu einer Uhr hin und sagt leise: »In zehn Minuten fährt das letzte Postauto von hier, damit können Sie nach Locarno gelangen, und dort bekommen Sie sicher ein Zimmer.« Das ist alles. Sie wendet sich ab. Der Fall ist für sie erledigt.
Im Halbdunkel sehe ich die beiden alten Frauen sitzen, in ihren dunklen, altertümlichen Kleidern. Der Schein des Kaminfeuers flackert über ihre zerfurchten Gesichter. Sie unterhalten sich miteinander, flüsternd, als ob ich gar nicht mehr anwesend wäre. Für sie bin ich nicht mehr da. Und während ich mich abwende und gehe, da ist es auf einmal, als ob sich das alles vor langer, langer Zeit abgespielt hätte. Als ob die Frauen und ich schon lange gestorben wären in diesem großen, dunklen, toten Haus, und alles nur eine unwirkliche Erscheinung sei, ein Spiegelbild auf der Netzhaut eines Toten. Mir wird unheimlich zumute und ich beeile mich, das Haus zu verlassen.
Auf einmal kann ich verstehen, wie es Karl Viktor von Bonstetten zumute gewesen sein muß, ihm, dem hohen Herrn Syndikator, dem Gesandten von Bern, was er hier gefühlt haben muß, um über seinen Besuch im Onsernonetal im September 1796 zu berichten:
»Das Dorf Loco war wie die ganze umliegende Gegend in zwei Fraktionen zerrissen, welches schon zu mancher Mordtat Anlaß gegeben hatte. Alle Einwohner gingen bewaffnet, und es war zu besorgen, daß der Bürgerkrieg ausbrechen würde. Das Syndikat hatte mir den Auftrag ge-[185]geben, die Ruhe in diesem Lande wo möglich wiederherzustellen und den erbitterten Parteien gewisse Friedensvorschläge zu machen.«
Und dann geht es los:
»Wir langten beim Pfarrer Broggini an. Er zeigte mir die Stube, in welcher man in der Nacht auf ihn geschossen hatte. Seine Leute waren bewaffnet; das Dorf, das Tal, jede Familie war in Parteien geteilt.«
Es ist eine tolle Geschichte:
»Ich ließ die Gemeinde versammeln. Die Ursach der Zwietracht, die 2387 Talbewohner zu Feinden machte und dieses paradiesische Land zur Hölle umschuf, war eine Mahlzeit, die der Pfarrer auf Kosten der Gemeinde dem Bischof gegeben hatte. Broggini, der das größte Haus besitzt, hatte die Mahlzeit für einen Taler auf die Person übernommen; nun war die Frage, ob für einen Verwandten von ihm auch ein Taler hätte angerechnet werden können. Aus diesem Taler entstand ein Prozeß, der in seinen ersten Vorfragen (denn die Hauptsache war bald verschwunden) nach gehaltener Rechnung schon 40 000 Lire gekostet hatte. Ein paar wohlabgerichtete Menschen hatten sich zur Betreibung des Prozesses eine unbegrenzte Vollmacht geben lassen, die ihnen ein Recht über das sämtliche Vermögen des ganzen Tales gab, wovon sie jahrelang mit ihren Spießgesellen zu Locarno schmausten, welches sie vermutlich noch jetzt tun.«
Aber Bonstetten hatte ja den Auftrag, Frieden zu stiften im Onsernonetal. Und das gestaltete sich folgendermaßen:
»Das Volk war nun versammelt. Ich ging auf das Rathaus. Die Männer waren jeder, so wie er anlangte, zu seiner Partei getreten, so daß die einen zu meiner Rechten, die an-[186]dern zu meiner Linken wie feindliche Heere standen. Ich saß in der Mitte, alle Ermahnungen, alle Vorschläge zum Frieden waren fruchtlos, nur Gewalt hätte da gegen Gewalt helfen können. Ich war aber ohne Mittel dazu und hatte nur zu Ermahnungen und Friedensvorschlägen Vollmacht. Bald wurden diese Menschen hitzig, ich fühlte mich von wütenden Wilden umringt, von Jugend an gewohnt, auf das erste beleidigende Wort das Messer zu zücken. Ich suchte bald eine Gelegenheit, mit Anstand zu entkommen.«
Prost Mahlzeit, so ging es also hier zu.
Und trotz allem, ich kann es nicht lassen, ich weiß nicht, aber irgendwie hat es mich gepackt. Ich kann den Leuten nicht mal böse sein. Ich achte sie, ich verstehe ihren verbitterten Trotz, ich fühle mit ihnen, sie beschäftigen mich und lassen mich nicht ruhen.
Da nehme ich das letzte Postauto und fahre zurück, weit zurück, bis dahin, wo ich sicher bin, eine Bleibe für die Nacht zu bekommen. Und am nächsten Morgen fahre ich wieder nach Spruga, bin wieder da – der Abgewiesene, der Verwiesene, der Ausgefrorene – und gehe ins Gasthaus hinein, in dasselbe Gasthaus, dessen Wirt mir über die Schulter hinweg seinen vernichtenden Blick sandte, bevor er den Kopf schüttelte. Ich will mir bei ihm einen Morgenschoppen Wein bestellen.
Aber da ist es auf einmal seine Tour, überrascht zu sein.
Als ich eintrete, wendet er den Kopf und sieht mich an, als wäre ein Gespenst zur Tür hereingekommen.
Und jetzt bin ich es, der sachte den Kopf schüttelt. [187]
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