27.08.2004 - freitag - Tina Veihelmann: Sing der Kundschaft ein Lied
ALLTAG Wenn die soziale Sicherung gefährdet ist, steht der Berufsstand der Bettler vor neuen Herausforderungen. Über das Schnorren als Dienstleistung
Ein mageres Mädchen mit Schäferhund spricht vor einem Berliner Kaufhaus einen Kunden an: "Hast du mal einen Euro?" Kunde: "Ich vergebe nur einen Euro am Tag, dem ersten der mich fragt. Du kommst zu spät." Bettlerin: "Was kann ich dafür, dass die andern so früh anfangen? Ich komme immer erst um drei. Du benachteiligst die Spätschicht." Kunde: "Was kann ich dafür, dass ihr immer mehr werdet? Schichtsystem! Ich vergebe einen Euro, fertig." Besinnt sich. Gibt der Bettlerin 50 Cent. Geht davon. Keine Statistik gibt Aufschluss darüber, wie viele Bettler täglich in der Stadt tätig sind. Doch sie sind zahlreich. Schon früh am Morgen werden die ersten freiwilligen Beiträge zur informellen Sozialsicherung eingetrieben. Und mancher Passant ist genervt. Nicht von allen Schnorrern, aber von denen, die für ihr Geld nichts tun. Sitzbettler mit Pappschildern stehen nicht hoch im Kurs, zumal, wenn sie bei der Arbeit schlafen, ausnüchtern oder von drogenbedingten Grenzerfahrungen in Anspruch genommen sind. Ein Bettler im klassischen Sinne bezieht seinen "Lebensunterhalt ohne dingliche Gegenleistung aus seiner Umwelt", heißt es. Doch das bedeutet keineswegs, dass der Bettler nichts zu leisten oder zu geben hätte, will er in der Welt bestehen. Betteln ist ein Handwerk. Es wird der geschätzt, der seinen Job gut erledigt.
Im Mittelalter beispielsweise erbrachte der Stand der Bettler eine unverzichtbare Dienstleistung - und wurde deshalb gesellschaftlich anerkannt. Er verhalf den sündigen Reichen zur Rettung ihrer Seelen, indem er sich zur Verfügung stellte, bei Bedarf Barmherzigkeit an ihm zu üben. Deshalb lungerten die Bettler jederzeit griffbereit vor der Kirche herum - in professionell leidender Pose. Und der Reiche konnte im Vorbeireiten gute Taten vollführen. Zwar untergrub die Armenpolitik der Neuzeit diese Stellung der Bettler, denn sein Almosen entrichtete man nun mit der Steuer. Doch wenn die Zeiten schwerer werden und die staatlichen Sicherungen versagen, sind die Bettler wieder gefordert. Schnorren ist erlaubt, doch bei wachsender Zahl der Geldeintreiber steigen die Ansprüche der Kunden. Gegenleistungen werden erwartet. Heute wie damals bestehen sie in kleinen Dienstleistungen, gerne auch im ideellen Bereich. Die Leidensnummer ist passé, entbehrt die Leistung "Seele retten" doch mittlerweile der Nachfrage. Frauen mit Kopftüchern, die unter Klagen die hole Hand ausstrecken, rufen Widerwillen hervor. Innovative Bettler wenden der Zeit angepasste Methoden an. Sie müssen es verstehen, den Passanten ein gutes Gefühl zu geben, ihnen helfen, trotz der Krise den Glauben an sich und die Welt nicht zu verlieren. Auf einem Spaziergang durch die Hauptstadt begegnen uns oft erfolgreiche Bettler.
Ein verschwitzter junger Mann, in einem fast weißen Hemd mit verstrubbelten Haaren steht mitten auf einem Radweg und breitet weit seine Arme aus. Er strahlt: "Anhalten, ein Euro." Fuß vom Pedal. "Wofür willst du einen Euro?" "Siehst du das Bild?" Vor dem Eingang der Post lehnt ein Gemälde. Es stellt in gelb die kindlich gemalten Umrisse einer Blumenvase dar, daneben drei blaue Böller. Pflaumen vielleicht. Ein Stillleben. "Dafür soll ich dich bezahlen?" "Nein", sagt er freundlich. "Du sollst dafür bezahlen, dass ich besser werde. Ich habe, glaube ich, meinen Stil noch nicht gefunden. An der Technik muss ich auch noch arbeiten." Daniel ist ein 26-jähriger Gelegenheitsbettler, der täglich drei bis vier Stunden arbeitet. Er ist erfolgreich. Den hetzenden Menschen, die in ständiger Angst leben, nicht zu genügen, zeigt er ein sympathisches Bild von Unzulänglichkeit und Bescheidenheit. Daniel lächelt tröstend und versichert: Unvollkommenheit ist möglich. Entscheidend für Daniels Auftritt ist das strahlende Lächeln und das Tragen des fast weißen Hemdes. Der Passant sieht, auch wenn ein Mensch den hohen Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann, ist es ihm dennoch möglich, regelmäßig sein Hemd zu wechseln.
Auch weniger gut gekleidete Euro-Sammler haben ihre ideelle Funktion in der Stadtgesellschaft. Der 28-jährige Piotr setzt im Gegensatz zu Daniel nicht auf eine gepflegte äußere Erscheinung. Im Gegenteil. Das schwarze verwaschene T-Shirt ist schon zerschlissen, auch die Hosen sind nicht mehr intakt. Die Füße stecken in Militärstiefeln. Er ist braun gebrannt vom Arbeiten an der frischen Luft, der Kopf ist kahlrasiert bis auf einige Rastasträhnen, die ihm ins Gesicht baumeln. In diesem Aufzug putzt er Autofahrern, die an der Ampel anhalten ihre Windschutzscheiben. Wer will, bezahlt. Sie sind zu fünft und wechseln sich ab. Piotr ist in diesem Sinne nicht Bettler, sondern arbeitet in einem selbst geschaffenen Dienstleistungsjob. Doch auf die Frage hin, wofür die Fahrer ihn bezahlen, sagt er: "Sie bezahlen, weil sie sich freuen, dass deutsche Punks arbeiten." Piotr ermöglicht den Glauben daran, dass die Ausgegrenzten, die Verlorenen, die Aussteiger und Müßiggänger in die Arbeitsgesellschaft zurückkehren könnten. Piotr sagt: "Es ist wichtig, dass die Autofahrer glauben, wir seien deutsche Punks." Deutschlands verlorene Söhne, die nach Hause kommen. Weil die meisten von der Putztruppe aber aus Polen, Estland, Lettland und Litauen kommen, vermeiden sie beim Arbeiten Gespräche in der Landessprache.
Speedy ist ein sehr junger Bettler, der den Standort U-Bahneingang Rosenthaler Tor besetzt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er sanftmütig zu jedem Passanten, der vorübergeht. Viele sehen ihn dafür wütend an. Speedy, der 19 Jahre alt ist und aus Essen stammt, beeindruckt das überhaupt nicht. Weshalb er nicht einfach stillsitzt und abwartet, was er bekommt? "Man muss die Leute gut ansprechen", sagt er und es hört sich ein bisschen so an, als hätte er das in einer Schulung für Versicherungsverkäufer gelernt. "Bleibt alle schön gesund", sagt er wieder. Man darf Speedy nicht allzu viel von seiner Zeit stehlen. Zeit ist Geld. Eine Frau mit Einkaufstasche bleibt vor dem blassgesichtigen Speedys stehen und erklärt, sie habe "das hier schon vorbereitet". Sie bückt sich und wirft einen Euro in den Bettelplastikbecher. "Ich habe mir das hier lange aufgebaut", sagt Speedy. In vier Jahren am gleichen Ort hat er das Vertrauen der Leute gewonnen. Wieder eine Frau, die grüßt und spendet. Speedy nickt gnädig. "Viele haben keine Kinder", sagt er. "Die sehen in mir ihren Sohn oder sowas." - "Bleibt alle schön gesund." Pling, wieder 50 Cent. Speedy profitiert davon, dass immer mehr Frauen Kinder und Karriere nicht mehr verbinden können. Oder dass Frauen zwar Kinder haben, diese aber aus dem Haus gegangen sind und nun, einsam ihr Leben meisternd, ihnen ihre einst verausgabte Mutterliebe in keiner Weise zurückbezahlen. Der Generationenvertrag: gebrochen. Speedy hat für die enttäuschten Frauen ein gutes Wort: Bleib gesund, Mutti.
Kazimir ist ein Mann schwer schätzbaren Alters, der in einem roten Kaisergewand durch Berliner Gaststätten zieht. Der Kneipengast erkennt ihn am Ton einer Fahrradhupe, die er betätigt, wenn er ein Lokal betritt. Er führt ein Zepter mit sich, schreitet souverän durch den Raum und lächelt gütig, aber unnahbar. Meist spricht er nicht viel. Kazimir ist keineswegs verrückt, sondern ein höchst talentierter Bettler. Er selbst versteht sich als Künstler und seinen Auftritt als Dienst an der Gesellschaft. Vor einigen Jahren tauchte der kleine Mann mit hellen, wachen Augen als Verkäufer einer Obdachlosenzeitung auf. Er überraschte seine Kollegen und Kunden, indem er plötzlich begann, die Zeitung im sackleinernen Bettlerkostüm an den Mann zu bringen. Andere obdachlose Verkäufer versuchten den professionellen Verkäufer zu mimen und scheiterten: Die Sprache verrät den, der sie nicht spricht, sofort: "Guten Tag die Damen und Herren, ich verkaufe die neueste Ausgabe der hochinteressanten ..." Sofort wird die Selbstverleugnung des Verkäufers spürbar. Niemand mag das. Kazimir hingegen stand selbstbewusst im Bettlerkittel vor seiner Kundschaft, hielt seine Zeitung hoch und schwieg. Er strahlte nicht weniger, sondern mehr Würde aus als die anderen. Dass er schließlich das Bettlergewand gegen das kaiserliche austauschte, war folgerichtig: Er verlieh sich selbst einen Würdegrad. Kazimir verkauft Zeitungen, verteilt Blumen an die Damen oder sammelt einfach Spenden. Er steht dafür, dass ein Mensch, der aus der arbeitenden Gesellschaft heraus gefallen ist, stur auf Respekt besteht. Die Leute goutieren dies. Kazimir ist sehr beliebt und sehr erfolgreich. Er soll, so erzählen Kneipengäste, einer der reichsten Obdachlosenzeitungsverkäufer und Bettler von Berlin sein.
Michalina singt für ihre Kundschaft ein Lied. Sie singt es am Ausgang einer Unterführung am Alexanderplatz. Wer den schlecht beleuchteten Gang mit der zu niedrigen Decke passiert, dem dringt ihr Lied ans Ohr, das mit reiner, hoher Stimme vorgetragen wird. Wo es schon heller wird, steht Michalina, eine kleine, schmale, blondgelockte Erscheinung im kurzen Rock. Sie steht kerzengerade auf Plateausandalen. Ein elektronisches Klavier hängt ihrem Gesang etwa einen halben Ton hinterher. Die 20-jährige Michalina und der 44-jährige Jacek musizieren gerade eine Endlosschleife. Als sie nach einer halben Stunde eine Pause machen, erzählt Michalina, Jacek allein habe einen ganzen Tag gebraucht, um 30 Euro einzuspielen. Zusammen haben sie den selben Betrag bereits in zwei Stunden eingspielt. Michalina ist gerade aus Polen gekommen. Gestern. Jetzt sucht sie Arbeit in Deutschland. Vielleicht als Sängerin, sie habe Talent, sagt sie. Sie sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Instrumentenkoffer, als wäre das ihr Reisegepäck und schlägt ihre Sterntaleraugen auf. Man überlegt einen Moment, ob man sich nicht dringend Sorgen um sie machen soll. Gleich wird sie sich wieder hinstellen und unbeirrt weitersingen, in das widerhallende Dunkel hinein: "Dream a little dream of me." Michalina symbolisiert Hoffnung. Stellvertretend für alle Passanten glaubt sie fest an ihre Chance in einer rauen Wirklichkeit, allem zum Trotz. Ein kleiner Traum. Den bezahlen die Leute. Und Michalina wird auf diese Weise in kurzer Zeit ein hübsches Startkapital für ihre Karriere beisammen haben.
http://www.freitag.de/2004/36/04361901.php
04.07.2004 - rp online: Köhler verschenkt seine Suppe an Obdachlose
Botschaft: Obdachlose gehören zu unserer Gesellschaft
Berlin (rpo). Zahlreiche Obdachlose haben am Sonntag ihr warmes Essen vom neuen Bundespräsidenten selbst bekommen. Horst Köhler verteilte am Zoo Reste seiner Suppe vom Vorabend.
Horst Köhler meint es ernst: "Ich bin Bundespräsident aller Menschen in Deutschland - und auch sie gehören dazu. Das will ich zeigen", sagt Köhler, als er am Sonntag Berliner Obdach- und Arbeitslosen, sozial Schwachen und Straßenkinder in der Bahnhofsmission am Zoo eine warme Mahlzeit auftut. Nach einem Lächeln für die Bedürftigen fügt er dann ernst hinzu: "Wir müssen uns auch um sie kümmern."
Für Moritz Siegmar ist es kaum fassbar - ein "leibhaftiger" Bundespräsident zum Anfassen, zum Nöte erzählen. Einer, der zwar nur 20 Minuten da ist, aber der konzentriert zuhört. "Ich finde es toll, was der macht", sagt der 53-Jährige, der Köhler gerade seine Sorge mit dem Sozialamt um einen neuen Rollstuhl geschildert hat. Und er glaubt daran, dass dieses Suppenverteilen "keine demonstrative Geste" von Köhler sei.
Die Idee entstand am Samstagabend, als der gerade zwei Tage im Amt befindliche Bundespräsident am Brandenburger Tor an der "Tafel der Demokratie" saß. Zusammen mit 1500 Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft plauderte er über die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. "Ich denke, jeder kann dazu beitragen, dass Deutschland seine Schwierigkeiten überwindet", betont Köhler. Und diese Probleme seien eben nicht nur verkrustete Strukturen oder ein fehlender wirtschaftlicher Neuanfang. Die Probleme seien auch am Rand der Gesellschaft zu finden.
Einer der "Stammgäste" der Bahnhofsmission ist Michael Braun. Er verkauft normalerweise die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger", die er dem Bundespräsidenten aber kostenlos überreicht. "40 Cent bezahle ich für die Zeitung, für 1,20 Euro verkaufe ich sie dann. Von der Spanne kann ich einen Teil meines Lebens bestreiten", erzählt der 45-Jährige. Und er wünscht sich, dass Köhler "im Auto oder so mal Zeit findet, in der Zeitung zu blättern. Dann sieht er, wo uns auf der Straße der Schuh drückt."
Zunächst reicht Köhler erst einmal Kelle um Kelle "Gaisburger Marsch" aus - ein Eintopf, der am Samstag von der "Tafel der Demokratie" übrig geblieben ist. Frank Zander, einer der Mitorganisatoren des Hilfsprojektes "Berliner Tafel", hatte den Bundespräsidenten gefragt, ob er mithelfen würde, die Suppe an Bedürftige zu verteilen - quasi "als Einladung des Volkes". Für Köhler war eine Zusage nach eigenen Worten selbstverständlich: "Gute Suppe, gute Idee!"
Url: http://www.rp-online.de/public/article/aktuelles/politik/deutschland/53312
21.06.2004 - Das Parlament - Oliver Heilwagen: Big Nudes oder die Schönheit der Körpers
Davon kann man sich nun im neuen Museum für Fotografie in Berlin überzeugen, das zwei Tage nach Newtons Beisetzung eröffnet wurde. Mit den sterblichen Überresten kehrte auch sein Bilderschatz in seine Geburtsstadt zurück. Im September 2003, vier Monate vor seinem überraschenden Tod, hatte er der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mehr als 1000 seiner Werke als Dauerleihgabe vermacht. Der restliche Nachlass soll später folgen.
Wie Newtons Werk selbst ist auch das neue Museum von scharfen Kontrasten geprägt. Untergebracht wurde es im ehemaligen Casino der Preußischen Landwehr, einem 1909 gegenüber dem Bahnhof Zoo im wilhelminischen Stil errichteten Prunkbau. Für Newton hatte er symbolische Bedeutung: Dieses Gebäude war das letzte, was er von Berlin sah, als er 1938 mit dem Zug aus dem Dritten Reich floh. Besucher, die heute vom Bahnhof aus die Straße überqueren, werden gleich auf die Schattenseiten des Daseins aufmerksam gemacht. Direkt vor dem Museumseingang steht die in einem Wohnmobil untergebrachte Vertriebszentrale einer Obdachlosenzeitung.
Im Treppenhaus des Museums wartet der nächste Effekt: Wo früher preußische Offiziere in Öl hingen, blicken nun fünf monumentale "Big Nudes" den Betrachter frontal an. Damit wird er auf die Aktdarstellungen eingestimmt, die den Fotografen sein Leben lang beschäftigt haben. Auch die Doppelausstellung zur Eröffnung, die bis Jahresende gezeigt wird, setzt auf diesen Schlüsselreiz. Die Abteilung "Sex and Landscapes" kontrastiert Models in extrem freizügigen Posen mit atmosphärischen Landschaftsaufnahmen, die für Newtons Verhältnisse seltsam beiläufig und verwaschen wirken. Da kommt eine lyrische Seite zum Vorschein, die man bisher von ihm nicht kannte.
Die Abteilung "Us and them" ist dagegen dem Personenkult gewidmet. Zu sehen sind Porträts, die Helmut und June Newton in allen Lebensaltern und -lagen voneinander gemacht haben. Sie schonten einander nicht: Am eindrucksvollsten sind Bilder von ihm, während ihn Instrumente der modernen Medizin auf das Krankenbett fesseln. Der Fotograf, der die Schönheit des Körpers feierte wie kaum ein anderer, scheute sich nicht, auch seine eigene Hinfälligkeit zur Schau zu stellen. Aufschlussreicher ist jedoch die Perspektive des Ehepaars auf Dritte: Beide haben jeder für sich dieselben Prominenten fotografiert. Dabei wählte Helmut meist ein repräsentatives Arrangement, June eher einen intimen Moment - gerne mit Kindern. Die Rede vom spezifisch männlichen beziehungsweise weiblichen Blick bekommt hier schlagartig einen Sinn.
Noch ist aber die künftige Gestalt des Museums kaum zu erahnen. Die Helmut-Newton-Stiftung wird dauerhaft die beiden unteren Etagen des Gebäudes belegen, die sie auch auf eigene Kosten renoviert hat. Für andere Ausstellungen bleiben nur zwei Dachgeschosse übrig. Mit dem so genannten Kaisersaal enthalten sie zwar einen riesigen Raum im Berlin-typischen Ruinen-Look. Doch für Fotoschauen ist er wenig geeignet: Angekündigt ist bislang nur eine Großinstallation des Bildhauers Raimund Kummer. So macht das Ganze vorerst einen reichlich improvisierten Eindruck. Die neue Einrichtung muss noch beweisen, dass sie halten kann, was sie in ihrem Namen verspricht: Ein nationales Museum für die gesamte Geschichte der Fotografie zu sein.
http://www.bundestag.de/dasparlament/2004/26/Panorama/003.html
28.03.2004 - Welt am Sonntag - Maria Voigt - Der Berg ruft!
Kaum ein Stadtteil ist über die Grenzen Berlins hinaus so bekannt wie Prenzlauer Berg. Zu Recht: Hier vermählen sich Ost und West, Gründerzeit und Plattenbau, Kunst und Kommerz zu einem Ort der Lebenslust
von Maria Voigt
Der Prenzlauer Berg ist sehr elastisch. Er nimmt alles auf, was er kriegen kann: Studentinnen, die in den Cafés lernen. Russen, die Spezialitätenläden eröffnen. Furiose Zigeunerkapellen, die des Nachts durch die Lokale ziehen. Alle möglichen Arten von Einsamen. Jede Menge Anwälte und Zahnärzte mit goldenen Türschildern. Erfolgreiche und noch mehr erfolglose Künstler. Inder, Araber, Polen, Chinesen, Türken. Swingbands, Szenefriseure und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, betuchten Mittelstand und sogar Bundestagspräsident Thierse, der hier nie weggezogen ist.
Jeder nur denkbare Menschentypus scheint im Prenzlauer Berg zu verkehren. Irgendwie findet jeder einen Platz. Vom Obdachlosen, der auf den Treppen am U-Bahnhof um Fahrscheine bettelt. Bis zum Manager im feinen Zwirn, der nicht abschalten kann und beim Nachtmahl im "Pasternak" lange, lange einen Untergebenen zutextet. Vor dem Café verkauft einer die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger". Drinnen am weißen Tischtuch kriegen sich zwei in die Haare über die Frage, wer daheim in Westdeutschland auf dem feineren Gymnasium war.
Gehobene Blumen- und Weinläden, Ökoparadiese und Designerlampengeschäfte sind mit geradezu verzweifeltem Schick eingerichtet. Daneben "Rudis Resterampe", "Connys Container" und die "Knüllerkiste". Darüber Lofts, die mehrere Etagen einnehmen. Vielleicht ist es diese komplexe Mischung aus Leuten und Schicksalen, die diesen Prenzlauer-Berg-Strudel fabriziert, in dem alles immer in Bewegung ist.
Keiner weiß übrigens, wo der Berg ist.
Die größte Geschäftsstraße des ehemaligen Ostberliner Bezirks Prenzlauer Berg ist die Schönhauser Allee. So schief und hässlich liegt sie rechts und links der U-Bahn-Brücke, so lärmend tobt der Verkehr, dass die Passanten Zahnschmerzen kriegen. Die U-Bahn rast hier nicht im Untergrund, sondern auf Stelzen zwischen Gründerzeitkulissen, die auch vierzehn Jahre nach der Wende noch keine frische Farbe gesehen haben. Im Einkaufszentrum "Schönhauser Allee Arcaden" sprechen die hin und her Hetzenden kein Wort, man hört nur das Trappeln der schnellen Füße. Trotzdem wird die Schönhauser Allee geliebt wie eine uralte Freundin. Besonders im Sommer. Seine wahre Schönheit zeigt der Prenzlauer Berg, wenn die Kastanien und Pappeln blühen, wenn so viele junge Menschen wie in einem Studentendorf ihr Leben auf die Straßen verlagern, wenn der Himmel blau und das Leben leicht ist, wenn mehr Fahrräder als Autos unterwegs sind.
Der Prenzlauer Berg würde nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen, denn er zeigt sich ungeschminkt. Vielen wird er regelrecht hässlich vorkommen mit seinen Mietskasernen, Hinterhöfen, seinem Grau. Die Farbe bringen die Menschen rein, die Kulturangebote, die bunte Ost-West-Mischung und die sich in rasender Eile fortpflanzenden Cafés. Schön nennt den Prenzlauer Berg nur der, der das Leben schön nennt.
Weil er lebendig ist, ist der Prenzlauer Berg schön. Seine Straßen sind breit, die Wolken jagen über die Dächer, überall siehst du Himmel. Alte Bäume mit rauschenden Kronen, die schon Mauern fallen gesehen haben. Du läufst auf den alten Granitplatten aus der Kaiserzeit deinen Slalom um den Hundekot. Du wähnst dich im Prenzlauer Berg auf der Höhe der Zeit. Die Kastanienallee musst du regelrecht erklimmen wegen des holprigen Bürgersteig-Pflasters. Sie ist die Flaniermeile mit den flippigsten Läden dieser Gegend. Im Sommer blüht hier der Prater, der größte innerstädtische Biergarten Berlins. Mitten im Kiez. Die Volksbühne, das beste Theater Berlins, unterhält im Prater eine Tochterbühne. Wer von der Kastanienallee abbiegt und die Schwedter Straße runterläuft, kann ein paar Ecken weiter die Reste vom Stacheldraht der Berliner Mauer sehen. Geschichte weht dem Besucher im Prenzlauer Berg wie Frostluft um die Nase.
Vertreter des Savoir-vivre sollten in die mondäne Gegend rund um den Kollwitzplatz eintauchen. Hier ist fast jedes Haus herausgeputzt, vor den stuckverzierten Fassaden parken Cabrios und Luxuslimousinen, edle Shops und teure Boutiquen verbreiten Großstadt-Glamour. Jeden Samstag findet auf dem Kollwitzplatz ein Markt statt, auf dem es Bio-Brote gibt, klein und teuer wie Mauersplitter. Und einen riesigen Stand mit orientalischen Keksen und Honigkerzen. Und Milchkaffee aus dem Designer-Pappbecher. Und einen Bundesaußenminister beim Gemüsekauf. Keiner guckt hin. Man ist am Kollwitzplatz Politprominenz gewöhnt. Schließlich hat Gerhard Schröder hier, gleich an der Ecke, im "Gugelhof" gesessen - mit Bill Clinton! Und da, der Breitschultrige mit dem Heiligenschein! Ist das nicht der Umweltminister? Wir blinzeln höchstens mal über unsere Vollkornwaffel mit Holunderaufstrich. Aber wir drehen uns nicht um, wir haben Kultur! Das Umdrehen überlassen wir den Touristen, die am Kollwitzplatz aus den Reisebussen steigen, einmal ums Karree laufen und vergeblich nach der im Reiseprospekt versprochenen Schönheit des Kollwitzplatzes suchen. Die bemerkt man erst, wenn man eine Weile bleibt.
Verlässt man die wohlhabende Oase, gelangt man nach wenigen Schritten zum Jüdischen Friedhof neben dem ehemaligen Polizeirevier, in dem zu DDR-Zeiten die Volkspolizei residierte. Oder es treibt Sie auf die Torstraße, die Sie aber nicht überqueren dürfen, sonst verlassen Sie den Prenzlauer Berg. Auf der anderen Straßenseite beginnt der verführerische Nachbarbezirk Mitte - der Bezirk der Kunst, der Mode, des Tourismus, der Prostitution und des Nachtlebens. Sie können in der Torstraße nach Mitte rübergucken wie über die Meerenge von Gibraltar nach Afrika. Sie sehen drüben das berühmte "Kaffee Burger", in dem die berühmte Russendisko braust. Sie sehen auf der anderen Straßenseite Petersburger Musiker sich schwankend aneinander festhalten. Und deutsche Dichter in schwarzem Leder. Wenn Sie gute Augen haben, sehen Sie auch katholische Künstler aus Polen in ihrem "Club der polnischen Versager" sitzen, Männer unter sich.
Wem nach einer Zeitreise in die DDR zu Mute ist, dem sei empfohlen, im Ernst-Thälmann-Park spazieren zu gehen, wo sich die wenigen Bäume zwischen Plattenbauten und wuchtigem Thälmann-Monument fast verlieren. Anschließend vielleicht ein Abstecher ins Cantian-Stadion, wo seit eh und je der BFC-Dynamo trainiert. Hier befindet sich auch die meistfrequentierte Jogging-Bahn der Stadt, wenn nicht der ganzen Welt. Besser vorher reservieren! Hinter der angrenzenden Max-Schmeling-Halle (wo schon Madonna und David Bowie auftraten) liegt der Mauerpark - früher gut bewachter Grenzstreifen, heute eine Installation aus Kronkorken, Granit und Liegewiese mit Blick auf die Kehrseite des früheren Westberlin, den etwas niedergeschlagenen Arbeiterbezirk Wedding. Wer Fernweh aufkommen lassen will, dreht den Kopf nach rechts und sieht die Flieger über dem Norden der Stadt vom Flughafen Tegel aufsteigen. Oben auf dem Mauerpark-Hügel stehen Schaukeln. Wer darauf sitzt, schaukelt wie im Himmel über Berlin. Eine Reise in den Sonnenuntergang.
Unterkunft: "Myers Hotel", Metzer Str. 26 gemütliches 41-Zimmer-Haus mit Dachterrasse, restaurierter Altbau aus dem 19. Jahrhundert, DZ ab 115 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/44 01 40, www.myershotel.de; "Ackselhaus", Belforter Str. 21 nahe Kollwitzplatz, Zimmer und Apartments in stilvollem Gründerzeithaus, 66 bis 200 Euro, Tel. 030/44 33 76 33, www.ackselhaus.de; "Transit Loft", Greifswalder Str. 219, hell und funktional, junges Publikum, in ehemaligem Fabrikgebäude, DZ ab 69 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/48 49 37 73, www.transit-loft.de
Artikel erschienen am 28. März 2004
Artikel drucken © WAMS.de 1995 - 200606.01.2004 - Frankfurter Rundschau - Helmut Höge: "Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld"
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/medien/?cnt=366130
"Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld"
Die Geschichte hinter den Obdachlosen-Zeitungen: Ein Insider berichtet aus der Szene in der Hauptstadt
VON HELMUT HÖGE
Obdachlosigkeit (dpa)
Obdachlosigkeit interessiert keine Sau mehr - die Leute haben sich daran gewöhnt. Dazu haben auch die vielen Obdachlosen-Zeitungen beigetragen mit ihrem ewigen Gejammer. Ich meine jetzt nicht die Verkäufer, die haben schon immer geklagt ("Ich bin 29, lebe seit vier Jahren auf der Straße und bin gerade auf Entzug …"), sondern die Redakteure, weil sie ewig die gleichen langweiligen Artikel bringen und weil sie Etikettenschwindel betreiben: Sie suggerieren den Lesern, dass die Zeitung von und für Obdachlose gemacht wird. Tatsächlich sind das aber alles Premiumpenner, das heißt extrem schlechte Journalisten, die da ihre Spielwiese haben, während sich die Herausgeber, also die jeweiligen Obdachlosen-Vereinsvorstände, damit vermutlich eine goldene Nase verdient haben. Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld ist das.
Wirklich entsetzt bin ich aber über eine Obdachlosenzeitung, die über Jahre hinweg Spenden gesammelt hat für ihr Haus in Berlin, das sogar vom Staat gefördert wurde - mit damals 3,4 Millionen Mark - aber letzten Endes wohnt dort nicht ein Obdachloser, kein Verkäufer, nischt. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins hat sich dort stattdessen wohl eine Wohnung genehmigt.
Das Grundproblem bei diesen ganzen Zeitungen ist die Heuchelei: Kauft uns! Wir sind die Guten! Sogar Harry Potter unterstützt uns. In Wirklichkeit wird dort aber übelster Manchester-Kapitalismus praktiziert. Diese armen Verkäufer, das sind genau genommen Drückerkolonnen. In einem normalen Unternehmen haben die Mitarbeiter bestimmte Rechte. Sie können nicht einfach gefeuert werden, es gibt einen Betriebsrat usw. Bei den so genannten Obdachlosenzeitungen werden dagegen die primitivsten Regeln innerbetrieblicher Demokratie missachtet. Sie haben zwar so etwas wie Verkäufersprecher, in der Regel kann der aber nicht mal für sich selbst sprechen, geschweige denn für andere. Für die obdachlosen Verkäufer ist es sowieso ungewohnt, sich zu organisieren, ihre Interessen durchzusetzen, die hauen lieber ab. Das sieht man daran, dass sich die Auflagen inzwischen nahezu halbiert haben. Um die Straßenblätter wäre es auch nicht schade.
Eine Chance wurde verspielt
Nur ist der Begriff "Selbsthilfe" damit in Berlin auf lange Zeit diskreditiert. Und leider werden auch seriöse Obdachlosenprojekte davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Spendenbereitschaft für Wärmestuben und Notübernachtungen ist insgesamt merklich zurückgegangen. Schlimmer noch wiegt die Tatsache, dass die Chance auf politische Veränderungen dabei verspielt wurde. Noch vor drei Jahren waren die Leute sensibilisiert für das Thema. Als wir 1999 das Hotel Adlon besetzt haben und 2000 das Kempinski, mit Transparenten, auf denen draufstand "Es sind noch Betten frei!", gab es einen enormen Zuspruch, auch von der Politik.
Damals entstanden republikweit die "Tafeln": Wohlhabende und pfiffige Frauen taten sich zusammen, um von den Partys der Reichen die übrig gebliebenen Kaviarbrötchen einzusammeln, um sie an die Obdachlosen in ihren Sammelstätten zu verteilen. Zu Weihnachten, wenn die Presse die ersten Kältetoten vermeldete, wurden diese "Tafeln", die oftmals auf ABM-Basis arbeiteten, mit Spenden geradezu überschüttet. Das Problem ist aber nicht der Winter und auch nicht der Hunger. An Obdachlosigkeit sterben Menschen das ganze Jahr über: Hautkrankheiten, Alkohol, Hitze, die zunehmende Gewalt auf der Straße - sie sind genauso schlimm. Auf Platte erreicht man selten das Rentenalter.
Dabei passiert es gar nicht so selten, dass das Sozialamt einem Obdachlosen zu einer Wohnung verhilft. Oft kann man jedoch die Uhr danach stellen, wann derjenige wieder auf der Straße oder in Notübernachtungen pennt. Die Obdachlosigkeit ist vor allem ein seelisches Problem. Ihre ganzen sozialen Kontakte haben diese Menschen auf der Straße und in den Suppenküchen. Anfangs werden die Kumpel und Kumpelinnen noch in die neue Wohnung eingeladen - wo sie sich gemeinsam die Kante geben. Nachdem sie die ganze Stütze versoffen haben, beginnt die Einsamkeit, die Bude verkommt, der Müll türmt sich. Und irgendwann ziehen sie wieder los.
Die meisten Obdachlosen sind Männer. Frauen verlieren zwar schneller ihren Job, kommen aber besser damit klar, auch mit der Einsamkeit. Männer verwahrlosen zudem leichter. Sie suchen verzweifelt Kontakte, treffen sich mit anderen am Kiosk oder im Bahnhof, pennen mal hier mal dort und irgendwann sagen sie sich: "Ich brauch meine Wohnung, diesen Saustall, doch eigentlich gar nicht." Man gibt einem Menschen noch kein Zuhause, wenn man ihm eine Wohnung zuweist. Deswegen brauchen Obdachlose eher eine Wohngemeinschaft mit Betreuung. Die gibt es zwar, aber meistens nur für Jugendliche. Wer als Unbehauster in Berlin über 18 ist, hat schlechte Karten.
Natürlich gibt es auch Obdachlose, eine kleine radikale Minderheit, die gerne "Platte macht", das heißt: die obdachlos leben wollen. Und dann gibt es welche, die es aus eigener Kraft schaffen könnten, sich wieder aufzurappeln. Vielen gelingt das auch. Aber mehr und mehr Leute, die auf der Straße leben, kommen aus der Psychiatrie, sind schizophren oder paranoisch, und brauchen einfach qualifizierte Hilfe, die sie aber nirgends mehr finden.
Nicht wenige Obdachlose sind einfach sterbende Menschen. Da ist zu viel kaputtgegangen. Das ist kein Leben mehr. Erschwert wird es ihnen auch noch durch immer mehr Schikanen. Sie werden aus den Bahnhöfen und Einkaufscentern entfernt, wenn sie dreimal beim Schwarzfahren erwischt werden, dann geht das an die Staatsanwaltschaft, und dann trauen sie sich nicht mehr aufs Sozialamt. Dabei müssen sie immer öfter die BVG benutzen:
Die Sozialämter zahlen hier keinen Tagessatz mehr aus - immerhin neun Euro. Wenn sie Stütze haben wollen, müssen Obdachlose in Berlin polizeilich gemeldet sein, in Männerwohnheimen etwa. Viele haben darauf keinen Bock, deswegen fahren sie täglich raus nach Brandenburg, um sich dort ihre Sozialhilfe abzuholen. Da können sie aber dann nirgends pennen, deswegen fahren sie anschließend wieder in die Stadt zurück.
Für die meisten sind die Berliner Sozialämter sowieso ein Horror. Sie sehen sich gar nicht in der Lage, deren Kriterien zu erfüllen. Sie müssten genaue Angaben über ihre Angehörigen machen, damit die sie gegebenenfalls unterstützen. So mancher lebt getrennt von seiner Frau und hat sich bei der Trennung nicht gerade mit Ruhm bekleckert: sie zum Beispiel geschlagen. Folglich will er nicht, dass sich das Sozialamt an die Ehefrau wendet, auch nicht, dass seine Eltern angeschrieben werden.
Bei uns im Nacht-Café sind regelmäßig etwa zwölf Männer und zwei bis drei Frauen. Der einen ist die Wohnung abgebrannt und sie will keine neue haben, weil sie einfach nicht noch einmal wieder von vorne anfangen mag. In ein Frauenhaus will sie aber auch nicht. Ich denke, dass sie an dem Punkt einfach nicht geschäftsfähig ist, denn da führt ja kein Weg dran vorbei. Andere Frauen sind nur deswegen nicht richtig obdachlos, weil sie immer bei jemandem anderen schlafen. Das ist so eine Art Wohnungsprostitution. Für Frauen gibt es an sich jedoch mehr und bessere Hilfsangebote als für Männer. Außerdem sprechen die Gerichte zu Recht im Trennungsfall, wenn ein Kind da ist, meistens der Frau die Wohnung zu.
Und dann sind hier in den letzten Jahren rund 500 000 Männerarbeitsplätze weggefallen, aber 700 000 Frauenarbeitsplätze neu entstanden. Für Männer sieht es also immer schlechter aus - besonders von einem bestimmten Alter an und bei bestimmten Berufen. Es gibt inzwischen eine regelrechte Partnerlosigkeit aus Armut. Die Männer sind einsam, weil sie arm sind und umgekehrt.
Jetzt werden auch noch viele Notunterkünfte geschlossen, aus Spargründen - unsere will man ja auch dicht machen. Das letzte Wort ist dabei aber noch nicht gesprochen. Ich bin sogar optimistisch. Obwohl man eigentlich schon mürbe werden könnte: Es hat sich in all den Jahren nichts geändert. Die zunehmende Armut und Obdachlosigkeit wird bloß verwaltet, es fehlen Ideen und Konzepte. Und dann werden noch laufend ohne Sinn und Verstand die Mittel gekürzt. Sogar die medizinische Grundversorgung wird immer schlechter: Die eine Obdachlosen-Ärztin, Jenny de la Torre, im Ostbahnhof hat entnervt nach neun Jahren gekündigt, der anderen, Lisa Rasch, im Bahnhof Zoo ist gekündigt worden. Eine psychologische Betreuung gibt es überhaupt nicht. Und in den wenigen Wärmestuben und Nacht-Cafés, die es gibt, kann man inzwischen nichts mehr kürzen. Bei uns in der "Arche" decken wir den Personalbedarf teilweise durch die Jugendgerichtshilfe ab. Straffällig gewordene Jugendliche leisten bei uns in der Küche ihre gemeinnützigen Stunden ab. Und das Essen beziehen wir schon seit Jahren aus dem Abschiebeknast Grünau - 30 Mahlzeiten täglich, kostenlos und tiefgefroren. Dort treten immer wieder Insassen in einen Hungerstreik, so dass sie da anscheinend immer genug Portionen übrig haben.
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Der Experte
Karsten Krampitz, geboren 1969 in Rüdersdorf, studiert Geschichte im 13. Semester. Im Jahre 1996 veröffentliche er einen Roman über Obdachlosigkeit: "Rattenherz", und 2000 einen über Obdachlosen-Zeitungen: "Affentöter". Er war sechs Jahre Redakteur bei den Berliner Obdachlosenzeitungen "Mob", "Haz", "Moz", "Straßenfeger" und "Straßenzeitung". Seit nunmehr zwölf Jahren arbeitet er in der Treptower Wärmestube "Arche", die mit ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung zugleich ein Nacht-Café ist. Die "Arche" soll nach dem Willen der PDS-Stadträtin geschlossen werden. Was Krampitz über Obdachlosigkeit zu sagen hat, wurde von Helmut Höge aufgezeichnet.
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Erscheinungsdatum 06.01.2004
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- 2003.12.10. - Berliner Morgenpost - Anemi Wick: Der Traum von einer Wohnung
- 2003.10.31. - Die Welt - wick - Mitternachtsstart: Harry Potter und der Straßenfeger
- 2003.10.25. - Berliner Zeitung - Marin Majica: Ein zauberhaftes Geschenk