14.05.2006 - C6-Magazin - Brigitta Bosotin & Dana Praski: Hinter den Kulissen des "Strassenfegers"
Hinter den Kulissen des "Strassenfegers"
„Jetzt bloß nicht hinschauen!“, denke ich, als plötzlich ein junger Mann die U- Bahn betritt. Ich höre, wie er tief durchatmet und dann sagt „Entschuldigen Sie bitte die Störung…“. Er sieht müde aus und er spielt seine Leier ab, hofft darauf, dass ihm einer der Fahrgäste eine Zeitung abkauft oder zumindest eine kleine Spende dabei raus springt. Ich beobachte die anderen Fahrgäste. Viele schauen, wie ich, verlegen weg.
Die Not der anderen verursacht ein unglaublich schlechtes Gewissen. Manche versuchen die Ansprache des Verkäufers zu ignorieren, schließlich wollen sie bei der täglichen Lektüre der Tageszeitung nicht gestört werden. Einige Stationen weiter, fällt ein offenbar zu gedröhnter Obdachloser auf: Er liegt quer auf der Sitzbank und schläft. Einige Leute starren ihn an und schütteln den Kopf. Man kann den skeptischen und abweisenden Gesichtern der U-Bahnfahrgäste ansehen, was sie jetzt gerade denken: „Kann man sich denn sicher sein, dass man mit seinen Spenden nicht auch die Sucht solcher Menschen mitfinanziert?“ Und jetzt, wo der Euro nicht mehr so locker sitzt, wie noch vor wenigen Jahren die Mark, zögert man eher, einfach etwas zu verschenken. Ich bin mit meiner Freundin am U-Bahnhof Prenzlauer Allee angekommen. Wir steigen gemeinsam aus und machen uns auf den Weg zur Strassenfeger Redaktion.
Hinter den Kulissen
Am Vereinsgebäude des Strassenfegers angekommen, durchquert man erstmal einen Hinterhof. Dahinter folgt ein baustellenartiger Raum, der sehr unruhig auf einen wirkt. Überall Gerümpel. Der Geruch von frischer Farbe steigt einem in die Nase. Werkstoffe und Rigips-Platten stehen rum und warten auf ihre Verarbeitung. Die Umgebung scheint wenig einladend, doch viele Leute sitzen im "Kaffe-Bankrott" und schlürfen ihren täglichen Kaffee. In der kleinen, engen Küche bereitet der Koch das Essen vor, das günstig an die Obdachlosen verkauft wird. Das freundlich gelb gestrichene Café ist der soziale Treffpunkt für die Obdachlosen. Dort tauschen sie sich aus und holen sich ihre Zeitung ab, die sie dann im Straßenverkauf an Interessierte veräußern. Im Vorraum an einem weißen länglichen Tisch, sitzt Dr. Stefan Schneider. In der einen Hand eine Tasse schwarzen Kaffee und in der anderen eine glimmende Zigarette.
Als Herausgeber des Strassenfegers und Diplom Sozialpädagoge ist Stefan Schneider schon seit fast 20 Jahren im Bereich der Obdachlosenarbeit tätig. Mit einem Blick erfasst er das Wesen einer Person sofort, ihm entgeht nichts. Grenzen sind ihm zwar unlieb, müssen aber sein, meint er auf einmal im Gespräch: "Kein Alkohol, keine Drogen und keine Gewalt. Das ist das Mindestmaß an Regeln, das wir fordern." Er erkennt genau, wer aus seinem Leben etwas machen möchte, ausnutzen lässt er sich nicht. "Wenn jemand sein Bier auf den Tisch stellt, geht er nach Hause." Zwei Kollegen laufen am Tisch vorbei und stimmen ihm grüßend zu.
Unabhängigkeit gewährleisten
Insgesamt beträgt die Auflage des Strassenfegers knapp 23.000 Exemplare. Um den Obdachlosen eine gewisse Unabhängigkeit zu bieten, wird der "Strassenfeger" nur mit Vorkasse, also gegen 40 Cent pro Exemplar an die Verkäufer ausgeben. "Das hat was mit der Situation der Zeitungsverkäufer zu tun. Die Obdachlosen bekämen ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Zeitungen, die man ihnen bereits vorher überlassen hat, nicht alle verkaufen könnten. Das wäre kontraproduktiv", entgegnet er. Die sozialen Hintergründe der Menschen, die zum "Strassenfeger" kommen, sind Schneider gut bekannt. Dennoch kann er keine Einzelbetreuung leisten. "Das will und kann ich nicht, ich bin eher geschäftsführend tätig", sagt er mit einem bestimmenden Unterton.
"Hilfe bekommt hier jeder", dabei deutet er auf die Notunterküfte. Die einfach eingerichteten und fast kasernenartig anmutenden Zimmer wirken nüchtern und kahl. Hier können Menschen in Not vorübergehend Unterschlupf finden. "Die Notübernachtenden zahlen auch einen Eigenanteil. Wenn die Leute die Räume nutzen, müssen sie sich auch beteiligen." Im gleichen Moment erkundigt sich Stefan Schneider danach, wie es der einen Bewohnerin geht. "Manche fühlen sich nach acht Wochen beinahe wie zu Hause und meinen, eine Bleibe gefunden zu haben. Aber das haben wir vorher geklärt, dass die Unterkunft keine Dauerlösung ist, sondern Menschen in akuten Notsituationen zur Verfügung stehen soll. In den drei Monaten muss man sich dann um was Neues kümmern. Nach einer bestimmten Zeit muss jeder gehen", drückt er mitfühlend aus.
Obdachlosigkeit ist eine Grauzone
Studien zum Thema Obdachlosigkeit grenzen die Betroffenen (345.000) in Deutschland stark ein. Ihre Chancen aus der Situation raus zu kommen, sinken nach dem ersten halben Jahr stetig. "Was Obdachlosigkeit ist, müssen wir erst definieren. Das ist nicht so "schwarz-weiß", sondern Obdachlosigkeit verläuft im Prinzip wie eine große Kurve!" Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaut nachdenklich. "Einige haben finanzielle Probleme, leben von Sozialhilfe, andere haben keinen Mietvertrag oder leiden unter einer Sucht. Und die Leute, die völlig auf der Straße sind, sind nur die Spitze des Eisbergs und dann gibt es die Hardcore Leute, die wirklich verlumpt, verdreckt und alkoholisiert an der Straße liegen. Die machen natürlich das Klischee aus", er greift nach der Zigarette und nimmt einen Zug.
Sucht finanzieren: Nein, danke!
Viele Leute verweigern den Obdachlosen ihre Unterstützung mit dem Argument, ihnen nicht die Süchte finanzieren zu wollen. Darauf reagiert Schneider gereizt, fast schon wütend. "Das ist eine ganz unehrliche Denkweise! Es ist nicht in Ordnung Unterstützung an ein bestimmtes Verhalten zu binden. Man kommt nicht weiter, wenn man von außen reglementiert. Eigenverantwortung muss von Innen kommen!" Er spricht schnell, und wenn er sein Gegenüber mit seinen blaugrauen Augen, die hinter einer roten Brille verborgen liegen, fixiert, merkt man, dass er diese Argumente nicht zum ersten Mal gehört hat. Noch bevor er seine Worte beenden kann, wird er abermals unterbrochen. Der Maler fragt ihn nach den Farben für die Wand und ob er das Fahrrad, das an der Wand lehnt, entfernen soll.
Von der Unterbrechung unbeirrt, fährt er mit erhobener Stimme fort: "Als Macher nehmen wir bewusst in Kauf, dass sich Leute, mit dem Erlös des Verkaufs des Strassenfegers, tot drücken und tot saufen könnten, aber die Hoffnung ist, dass die Leute ihre Chance nutzen, um aus dieser Situation raus zu kommen", mittendrin macht er eine korrigierende Bewegung, um seine runde, rote Brille wieder in Position zu bringen. Natürlich gibt es auch Erfolgsstorys, von denen weiß Schneider auch zu berichten. Einige von ihnen sitzen sogar hier im Café. Für die wenigen lohnt sich die ganze Arbeit – sie leben nicht mehr auf der Straße, sondern sind auf dem Weg zurück in ein Leben, das durch die erhaltene Unterstützung für sie wieder kalkulierbarer geworden ist.
Brigita Bosotin, Dana Praski
Artikel vom 14. Mai 2006
www.c6-magazin.de/magazin/themen_texte/2006/05/1147626093.php
02.03.2006 - Berliner Morgenpost - Thomas Fülling: Kehraus im Traditionshotel
Investoren verschenken Inventar des Hauses "Unter den Linden" vor dem Abriß an wohltätige Einrichtungen
"Vieles vom Inventar ist noch in gutem Zustand und sollte nicht einfach so auf den Müll fliegen", begründet Tobias Krause-Mirus, Projektleiter des Münchener Investors "MEAG" die großzügige Aktion.
Und so packten Mitarbeiter und freiwillige Helfer von insgesamt zehn gemeinnützigen Vereinen gestern kräftig mit an. Tische und Stühle, Stehlampen und Teppiche, ja selbst Rohre und technisches Gerät wurde auf die vielen kleinen Fahrzeuge vor dem Haupteingang des Hotels verladen. "Eine wirklich gute Idee, auf die viel mehr Bauherren kommen sollten", wünscht sich Lothar Markwart von "mob e. V." Der durch seine Zeitung "Straßenfeger" bekannte Verein betreibt an der Prenzlauer Allee 87 ein Betreuungszentrum für Obdachlose. "Wir platzen aus allen Nähten, da ist jede Hilfe willkommen", sagt Markwart. Teil der Einrichtung ist der Treff "Kaffee Bankrott", der wegen großen Andrangs gerade erweitert wird. Dringend dafür benötigte Technik fanden die "mob"-Leute nun in der einstigen Hotel-Küche.
Auch Nöck Gail vom Verein "Zirkus Internationale" hatte eine Einladung zum Hotel-Kehraus bekommen. "Soziale Projekte sind leider oft sehr schlecht ausgestattet, da ist so etwas schon eine große Hilfe", sagt er. Der "Zirkus" engagiert sich seit zehn Jahren in der Kinder- und Jugendarbeit und wurde mehrfach für seine Anti-Gewalt-Projekte ausgezeichnet. Seit kurzem hat der Verein in Wedding ein festes Domizil bezogen. "Für die Ausstattung können wir heute Tische und Stühle mitnehmen", freut sich der Projektkoordinator.
"Ein Auto ist schon beladen, ein zweites ist unterwegs", berichtet ganz aufgeregt Anke Clausen des Zehlendorfer Vereins "Weg der Mitte". 40 ehrenamtliche Helfer waren gestern im Einsatz, um Betten, Matratzen und Lampen einzupacken. Damit soll eine Einrichtung für Gesundheitsurlaub von Familien mit Kindern in Thüringen ausgestattet werden.
Ein Inventarstück wird aber einen ganz anderen Weg nehmen: Das Wandbild "Berlin 1912" aus der einstigen Hotelbar wechselt nur einige hundert Meter weiter in das Deutsche Historische Museum. Das Gemälde des 2002 verstorbenen Künstlers Manfred Kandt zeigt eine Szene auf dem Linden-Boulevard vor knapp 100 Jahren, als Frauen noch um ihr Wahlrecht kämpfen mußten. Nach der Restaurierung soll es im Restaurant im Zeughaus hängen. "Eine Entscheidung ganz im Sinne des Malers", freut sich dessen Neffe Cassen Harms.
Aus der Berliner Morgenpost vom 2. März 200606.01.2006 - Deutschlandradio Kultur: Thilo Schmidt: Hottes Welt
Eine Kreuzberger Geschichte
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/laenderreport/454342/
Ein Abend wie viele in einer Kreuzberger Szenekneipe - bis Hotte hereinkommt und den "Straßenfeger" feilbietet und dazu seine Lebensgeschichte gleich mit: Wie er bei der Besetzung des Rauch-Hauses, der ersten Berliner Hausbesetzung, mitmachte, wie er dabei Rio Reiser kennen lernte und Schlagzeuger von "Ton Steine Scherben" wurde.
Wie er dann nach kurzem Intermezzo als bürgerliche Existenz vor 25 Jahren auf der Straße landete. Dass er nunmehr an Magenkrebs leidet und bald sterben wird. Aber vorher noch, sagt er, gibt es den großen Knall: Dieses ganze Leben wird bald bei einem renommierten Verlag als Buch erscheinen. Sein Buch. "Hottes Leben" soll es heißen. Und der Traum ist noch nicht aus: Hotte träumt von einem Haus für alle Obdachlosen Kreuzbergs. Gekauft vom Bucherlös.
… Ich hol uns nochmal zwei Becks …
Mit Freund Sebastian in einer Szenekneipe in Berlin-Kreuzberg. Ein Abend wie viele, bis ein Obdachlosenzeitungs-Verkäufer die Runde macht.
Hallo Ihr beiden. Der Strassenfeger. Das is ne Obdachlosenzeitung. Kennt Ihr die?
Er verwickelt uns in ein Gespräch. Oder wir ihn, das spielt keine Rolle. Erzählt, dass er seit 25 Jahren obachlos ist. Er möchte sich zu uns an den Tisch setzen, wir bestellen ihm ein Bier.
Ich hab ein Buch geschrieben, "Hottes Leben", und ich werde Menschen erklären, um was es eigentlich geht. Die 25 Jahre, die ick jelebt habe auf die Straße, wo ick heute noch lebe. Lang auf die Straße zu leben. Und der Mensch… ist der Mensch.
Hotte hat graue, lange Haare, einen grauen, langen Bart und eine Nickelbrille. Stinkt nicht und macht einen relativ gepflegten Eindruck. Hat verblüffende Ähnlichkeit mit Harry Rowohlt. Und will ein Buch schreiben? Wir wollen mehr wissen.
Ich will darüber nich so groß Reklame machen. Weil ick denke, wenn das Buch rausgekommen is, am 29. Dezember, um zehn Uhr, vor Dussmann, dann sollen die Menschen erst mal kapieren, was das fürn Buch ist. Und da werden sehr viele Schlange stehen.
Bei einem renommierten Verlag werde das Buch erscheinen. Welcher Verlag, das dürfe er noch nicht sagen. Wir wollen wissen, wie er auf die Straße kam.
Die Geschichte war, dass ich n Kopiergeschäft hatte, Ernst-Reuter-Platz, mit Offsetdruck, mit meiner Frau zusammen, mit'm Kind zusammen. Und da waren die Bullen mal vor mir, die habem mir jesagt: "Wir müssen Sie eine Mitteilung machen, Ihre Frau und Ihr Kind ist tot". Da war denn die Story, die steht auch im Buch, warum ick auf die Straße gegangen bin. Die Stroy war: Der Typ war stinkbesoffen, is meine Frau reinjefahren, in die Seite, der Wagen hat sich drei mal überschlagen: Waren tot. War ick dann bei den Prozess bei. Und der Typ hat Geldstrafe bekommen, Bewährung bekommen, und lebt heute noch. Draußen. Und ich find's traurig, wenn man so'n Schicksal erleben tut. Wenn man sein eigenes Kind verliert. Und dann hab ick mir Gedanken gemacht, und das waren 25 Jahre jetzt.
Hotte holt am Tresen das zweite Bier auf unsere Kosten. Hottes Geschichte berührt uns, aber sie wirft Fragen auf…
Sebastian: …ja, wie so ne ganz persönliche Sache einen so aus der Bahn wirft. Nichts Materielles oder so…
Thilo: Ich dachte immer, obdachlos wird man immer durch Job weg, Wohnung weg, Frau weg oder so Sachen irgendwie, ne?
Sebastian: Ich bin im Pfarrhaus aufgewachsen, und da hatten wir ständig auch Obdachlose an der Haustür: Also das waren häufig die Geschichten. Chefärzte, Juristen, die halt irgendwie in den absolut in den besten Verhältnissen gelebt haben und wo dann immer wieder so persönliche Krisen aufgekommen sind. Also Todesfälle im engsten Familienkreis.
Thilo: Und dann sind die auf die Straße?
Sebastian: Die dann auf die Straße gegangen sind so. Und das waren am meisten die Fälle.
Thilo: Könnte das jetzt theoretisch jedem von uns so passieren oder wie?
Sebastian: Ich glaub schon. Ich glaub, dass Obdachlosigkeit was ist, was weniger mit materiellen Umständen zu tun hat, weil: Wir haben ein soziales Sicherungsnetz, wo eigentlich jeder abgefangen werden könnte. Wenn er sich auf bestimmte Spielregeln einlässt. Aber wenn man dann wirklich halt auf die Straße geht, hat das auch immer was mit nem persönlichen Schritt zu tun, dass man halt diese gewissen Spielregeln auch nicht mehr mitmachen will. Sich bestimmten Dingen nicht unterwerfen möchte. Insofern glaub ich das is was, was unterhalb ner bestimmten Grenze sich abspielt. Und es kann auch eigentlich jeden treffen.
Hotte erzählt, dass er Kreuzberger ist, schon immer. Und dass er bei der Besetzung des Rauch-Hauses mitgemacht hat, der ersten Hausbesetzung in Kreuzberg, 1971.
…und da war noch Brandt Bürgermeister. Und sein Sohn war mit besetzen. Der war mit bei uns, der Peter. Peter Brandt. Und seine Mutter ist öfters jekommen und hat uns Kuchen gebracht…
Sebastian: Rut Brandt?
Rut Brandt. Die kam öfters zu uns. Hat uns Kaffe und Kuchen jebracht und hat gesagt: Leute, ich hab Kaffe und Kuchen dabei, esst mal!
Wir sind neugierig und doch ein wenig skeptisch, aber die Geschichte geht ja noch weiter.
Die Geschichte ist lang. Mit Ton Steine Scherben Zeit…
Thilo: Ton Steine Scherben ?!?
Ton Steine Scherben. Is im Rauch-Haus mit aufjewachsen. Rio Reiser kannt ick, und alle. Die sind im Rauch-Haus bekannt jeworden.
Zwei alte Scherben-Fans werden richtig neugierig. Sebastian und Hotte streiten sich über das Cover-Layout der alten Scherben-Platten. Wir wollen mehr Geschichten hören, aber Hotte bremst ein wenig.
Das kann ich gar nicht erzählen. Sonst verkauft sich das Buch nicht. Wenn du zum Beispiel von mir unheimlich viel hören tust, dann kann ick mein Buch verschenken.
Thilo: Ja, aber wenn die Leute das im Radio hören, dann kaufen sie doch Dein Buch erst recht…
Na gut. Ich erzähle 'n Teil: Wir haben vor 20 Leute jespielt. Im Rauch-Haus. Haben wir jesagt, wir probieren's mal. Hatten wir auch keine Platten. Haben wir einfach gesagt: OK, wir machen Musik. Unsere Texte, unser Leben. Und da waren dann unheimlich viele jekommen auf einmal. Da ham wir nicht vor 20 Leuten mehr jespielt, da haben wir vor hundert gespielt, vor 500 Leute, vor Tausend Leute. Standen wir da. Hinter die Bühne. Trauen wir uns zu? Solln wir spielen? Und Rio Reiser hat immer gesagt, "Hotte, jetzt reiß Dir zusamm. Wir spieln. Und hau dir paar Bier rein, dann geht's dir besser. Und denn spielste.
(singt) Das ist unser Haus / Schmeißt doch erstmal Brech den Schmidt und Bosch aus Kreuzberg raus…
Sebastian: Dann haste ja die ganz heiße Zeit mit Ton Steine Scherben hier mitgekriegt…
Hotte: Rio Reiser war für mich mein bester Freund. Ick hab ihn ma jetroffen noch, bevor er jestorben is, an der Oranienstraße, in Kreuzberg. Da saß er im Café. Bin ick vorbeigelaufen, hat er mir hinterhergeschrien: Hotte, komm mal her. Hab ich mit ihm jeredet. Stundenlang. Hat er zu mir jesagt: Hotte, es geht langsam zu Ende mit mir. Hat er mich noch eingeladen, wo er das letzte Mal aufgetreten war. Und ich fand det so unheimlich fürcherlich. Weil er hat ein paar Auftritte jemacht, und dann is er immer mehr abjesackt. Und da wusst ick: Es geht zu Ende.
Hotte spricht von "Connections", die er auf der Straße hat. Selbstverständlich zu Rio Reisers Mutter, seinem Bruder, aber auch zu anderen Trebern, Gönnern und Sozialarbeitern wie Gabi. Gabi hat für ihn das Buchmanuskript eingetippt, sagt er.
Ick wünsche mir, dass mein Buch rauskommt, nicht nur Kohle reinbringt, ich wünsche mir, dass ich n Haus kaufen kann, wo die Leute auch betreut werden, und wieder weiter leben können, ich wünsche mir noch ne Partei, Pennerpartei, nennt man die dann. Um zu sagen: So, jetzt wolln wer mal aus die Scheiße rauskommen.
Hotte trinkt sein letztes Bier für heute, will ins Bett. Sein Bett ist ein Schlafsack, den hat er dabei, immer. Schläft mal hier, mal da. Es ist bitterkalt draußen.
Im Winter werden mehrere Leute sterben müssen. Ich hab zum Beispiel den Fritz bei mir sterben sehen, der neben mir im Zelt jeschlafen hat, und ick hab auch im Winter Menschen sterben sehen, die blau waren, und wo Polizisten manchmal jeweint haben und gesagt haben: Kann doch nicht wahr sein…
Hotte verschwindet ebenso unversehens, wie er gekommen war. Ruft uns noch zu, er sei vormittags immer am Bahnhof Berlin-Lichterfelde, da könnten wir ihn treffen. Und lässt uns ratlos zurück.
Thilo: Er hat erzählt, dass er 25 Jahre auf der Straße ist und n Buch schreibt und diese ganze Geschichte mit Rio Reiser und Rauch-Haus besetzt. Komisch irgendwie. Kann man sich doch nicht ausdenken, so was, oder?
Sebastian: Klar, wenn man 25 Jahre auf der Platte ist, dann kann man natürlich enorm viel an Ideen spinnen, an Visionen entwickeln, an Geschichten, was wäre wenn, und so, und Träume entwickeln…
Thilo: Ja, aber er weiß doch jedes Detail. Er weiß doch, wie die Platten aussehen, von den Scherben, kennt die Covers und so…
Sebastian: Wahrscheinlich kommt da auch so ein persönlicher Teil dazu, wo er was mitgekriegt hat, wo er Scherben gern gehört hat, wo er hier in dem Umfeld ja auch lebt, wo die Scherben aktiv waren, und der andere Teil ist dann halt das dazudichten und das dazu spinnen so ein bisschen.
Thilo: Glaubst Du dran? War er wirklich bei den Scherben?
Sebastian: Ich weiß nicht, er erzählt es halt total glaubwürdig, aber es hört sich auf der anderen Seite, wenn man drüber nachdenkt, total irre an. Er bringts unglaublich rüber. Er steht voll hinter dem, was er erzählt. Das ist unglaublich.
Thilo: So'n Typ, so ein Leben ist doch echt in Kreuzberg völlig denkbar, oder?
Sebastian: Das macht die Sache ja auch so, dass man hoffen würde, dass es so ne Geschichte von Hotte auch mal gibt, die man mal nachlesen kann. Weil er einfach ein Kreuzberger Typ ist Und für vieles steht, was in Kreuzberg mit Sicherheit abgeht.
Berlin, Bahnhof Lichterfelde West, bürgerliche Wohngegend, Hottes zweite Heimat. Er sitzt am Tresen der Bahnhofskneipe. Wirtin Mary hat ihn gern.
Mary: Hotte ist einmal vorbeigekommen, er wollte nur einen Drink haben, und dann hat er sich in meinen Garten gesetzt, ganz alleine, und ich hab ihn gefragt, warum er immer alleine sitzen will…(lacht)
Hotte: Mary hat manchmal gesagt: Warum sitzt Du da draußen, warum kommst Du nicht rein? Stimmts Mary?
Mary: Ja, das stimmt, Hotte…(lacht)
Mary fährt ihn zum Obdachlosenarzt, geht mit ihm zum Friseur. Andere Lichterfelder waschen ihm Wäsche oder lassen ihn duschen, sagt er.
Thilo: Und alle freuen sich hier auf das Buch von Hotte?
Mary: Jaa. Die sind alle gespannt. Die freuen sich, auch für Hotte. Und das alles vorwärts gehen konnte. Und dass er wieder Fuß fassen kann… würd ich mich auch freuen.
Thilo: Was weißt Du über dieses Buch, was hat Hotte erzählt?
Mary: Na, nicht viel. Hat er mir nicht viel erzählt. Hat er nur einen Teil von seinem Leben und seiner Familie erzählt. Und so… am 29.Dezember wollen wir ein großes Fest haben…
Hotte: Wir wollen hier ein großes Fest machen, du bist auch eingeladen, Frank Zander kommt, und das wird ein wahnsinnig großes Fest, weil auch mein Geburtstag dabei ist, an dem Tag. Und jeder, der Lust hat, kommt her.
Von Hottes Buchprojekt hat hier jeder schon mal gehört. Auch die anderen Gäste am Tresen.
Das is'n Buch aus Hotte sein Leben. Und warum er diesen Weg damals gegangen is, dass er das ist, was er heute ist. So ein erschütterndes Drama, und was der Mann halt in all seinen Jahren durchlebt hat. Find ich gut. Sehr gut, sogar. Und ihr freut Euch drauf? Ja sehr, weil wir Hotte auch sehr schätzen.
Na ich bin jespannt auf das Buch, ja. Weil wir ihn ja gut kennen, ne? Und freuen kann ich noch nich sagen, ich muss ja erstmal sehen, was für'n Inhalt drin ist, ne? Aber interessieren tut es mich schon.
Gleich neben dem Bahnhof verkauft Uwe Obst und Gemüse. Vor seinem Stand steht Hotte jeden Vormittag mit dem Straßenfeger.
Uwe, ick möchte Dich grüßen!
In der Gegend um den Bahnhof mögen ihn die Menschen. Uwe sagt, wenn Hotte eines Morgens mal nicht da steht, wo er sonst immer steht, dann macht er sich Sorgen.
Er kriegt von uns Obst und Gemüse, also das ist ganz toll. Muss ich wirklich sagen. Wenn alle so wären, ja? Und viele wollen gar nicht den Strassen… die motz oder so kaufen, sondern geben ihm einfach was und freuen sich, dass er hier steht. Keiner hat was gegen ihn, ne? Mach weiter so!
Und auch Uwe ist gespannt auf Hottes Buch, wie alle hier.
Ja natürlich werd ich das kaufen und lesen, natürlich. Hotte: Kriegst Du geschenkt von mir
Uwe: Nein, ich… ja, aber mit Autogramm! Okay!
Hotte: Machs Jut, wir sehen uns morgen, ja?
Uwe: Machs jut, Hotte, und bleib uns erhalten…
Hotte sagt noch, dass er meine Telefonnummer Gabi geben wird, der Sozialarbeiterin, die sein Buch abgetippt hat. Die werde mich dann anrufen.
Wochen später. Wieder mit Freund Sebastian in der Kreuzberger Szenekneipe. Wieder kommt Hotte herein und macht die Runde mit der Obdachlosenzeitung.
So, Leutchen. Eins zwei drei - ich bin dabei. Der Straßenfeger…
Frau: Nee, danke…
Wir freuen uns, Hotte wiederzusehen, wir laden ihn erneut auf ein Bier ein.
Hotte: Hallo Ihr beiden…
Als erstes erzählt er von seiner Sozialarbeiterin Gabi. Die sein Buch abgetippt hat. Die mich ja anrufen wollte, was sie nie getan hat. Die mich aber jetzt nicht mehr anrufen kann. Denn sie hat sich umgebracht, sagt Hotte.
Gabi hat Selbstmord begangen. War mit ihre Sache nicht klar gekommen. Hat sich selber umgebracht.
Gerne hätten wir sie kennen gelernt. Aber immerhin: Mit dem Abtippen des Buches war sie ja bereits fertig.
Thilo: Wie geht's denn jetzt weiter mit deinem Buch eigentlich?
Hotte: Das Buch ist fertig. Und das ist jetzt in der Druckerei. Der Verlag, und den darf ich jetzt auch bekannt geben: Der Rowohlt-Verlag ist es diesmal, und der ist total begeistert. Und die stehen hinter uns.
Hotte sagt, dass er krank ist und das neue Jahr wohl nicht mehr überleben wird.
Ick hab schon mehrere Chemo… Chemitier… Chemie…therapien hinter mir und habe auch schon unheimlich viel jedacht: Irgendwann isses weg - is nicht weggegangen. Hat sich wieder ausjebrochen. Und jetz geb ich auf. Jetzt sag ich nur noch: Ich kämpfe. Und glaube, dass ich gut überleben werde, bis zum 29. Dezember, wenn mein Buch draußen ist.
Es ist der 29. Dezember, zehn Uhr, Berlin Friedrichstraße, vor Dussmann. Die Stadt ist tief eingeschneit. Viele Menschen auf der Straße, aber kein Hotte weit und breit und schon gar keine Buchvorstellung.
Die Buchvorstellung fällt aus, sagt Hotte, der Verlag sei im Clinch mit der Druckerei, weil die mit dem Buchdruck nicht fertig geworden wäre.
Ja, das war mit die Druckerei und mit dem Verlag. Druckerei hat das alles verpennt. Für den Neununzwandzwigsten. Aber am siebten wird det jemacht und alles wird jut. Hundertprozentig.
01.09.2005 - Die Zeit - Harald Martenstein - Es sind zu viele
Harald Martenstein kann nicht alle Obdachlosenzeitungen lesen
In Berlin gibt es mehrere Obdachlosenzeitungen, die von den Obdachlosen in der U-Bahn verkauft werden. Eine heißt Straßenfeger, eine andere Motz. Am Anfang habe ich fast immer eine gekauft. Man gibt einen Euro, fünfzig Cent davon kriegt der Verkäufer. Pro Monat habe ich zwischen zwei und vier Obdachlosenzeitungen erworben.
Es sind zu viele geworden. Eigentlich könnte ich immer noch jede Zeitung kaufen, die mir angeboten wird, dann würde ich im Monat vielleicht 40 Euro für Obdachlosenzeitungen ausgeben, das könnte ich mir leisten. Aber es gibt bei den meisten eine innere Investitionsgrenze. Ich kaufe auch nie zwei Zeitungen hintereinander. Im Grunde verhalte ich mich so, als ob die Fiktion – die Obdachlosenzeitung ist eine echte Ware – der Wahrheit entspräche. Denn wenn ich am Kiosk die Süddeutsche gekauft habe, um sie in der U-Bahn zu lesen, kaufe ich auch nicht gleich am nächsten Kiosk die Welt.
01.08.2005 - die zeit - Henning Sussebach: Arm trifft arm
Ein heißer Morgen in Berlin, Bahnhof Zoo, deutsche Elendskulisse seit Christiane F., durchgewischt und aufgemöbelt in den letzten Jahren, die Wartehalle umstellt von Espressobars, Krawattenläden, Bodyshops - Rucksackreisende und Rollkoffer-Eilende unterwegs nach Hamburg, Stuttgart, München, jeder geschäftig, jeder unverzichtbar, Handelsblatt, Spiegel, FAZ unterm Arm und darin das große Thema: Was wird aus diesem Land? Wie kurbeln wir die Wirtschaft wieder an? Spitzensteuersatz rauf oder runter? Sorglose, in deren Leben Armut bislang nur Medienschauder ist, mag der Mann in den Sandalen denken, der ihnen eine kurze Frage in den Weg legt: Interesse am Straßenfeger, der Obdachlosenzeitung? - Keine Zeit ... keine Zeit ... keine Zeit. Sie lassen ihn an ihrer Geschäftigkeit abperlen. Wer heute Zeit hat, ist verloren!
Der Verkäufer sucht einen Ruhepol in all dem Streben. Sieht den Mann am Nordsee-Tresen, gemächlich einen Kaffee schlürfend. Interesse am Straßenfeger, der Obdachlosenzeitung? Der Kaffeetrinker sagt: Nein.
Tschuldigung. - Wenigstens eine Spende? - Der Mann mit Kaffee sagt sehr leise: Mann ey, ich bin selber arm.