08.03.2007 - Tagesspiegel Berlin - Axel Vornbäumen: Die Hutprobe
Sie werden sich unwohl fühlen, hatte Gideon Joffe gesagt. „Sie werden eine defensive Haltung einnehmen. Und irgendwann werden Sie beginnen, instinktiv auf den Boden zu sehen, um nicht zu provozieren.“
Wir hatten uns in einem Cafe in Mitte verabredet. Joffe war ein paar Minuten verspätet gekommen, in Begleitung von zwei Leibwächtern. Binnen Sekunden hatten sie die Situation im Cafe gescannt und dann einen anderen Tisch vorgeschlagen, einen, der von draußen nicht einsehbar war, in einer Nische. Aus Gewohnheit, hatte Joffe gesagt. Er ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Berlin.
Es hatte einen Anschlag gegeben auf einen jüdischen Kindergarten in Berlin, eine Brandflasche war nicht explodiert, doch der Sprengsatz hatte die Diskussion über Antisemitismus in Deutschland neu entzündet, über eine mutmaßlich neue Intensität des Schreckens. Eine zaghafte Debatte über Wahrheit und Wahrnehmung hatte eingesetzt, über objektive Sicherheit und subjektives Bedrohungsgefühl. Joffe hatte von einem „permanenten Gefühl der Unsicherheit“ der in Deutschland lebenden Juden gesprochen, von neuen Ängsten und davon, dass diese Ängste offenkundig nicht mehr ernst genug genommen würden von der breiten Mehrheit in Deutschland. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde hatte den „Kippa-Test“ vorgeschlagen. „Nicht-Juden sollten sich einfach mal eine Kippa auf den Kopf setzen oder einen Davidstern an die Kette hängen“, hatte er gesagt, „es wird nicht lange dauern, und Sie werden Erfahrungen gemacht haben mit Antisemitismus.“ Das sei keine Aufforderung gewesen, hatte Joffe gesagt, auch kein direkter Hilferuf, eher ein Ruf nach Verständnis.
„Sie wollen den Kippa-Test machen?“, hatte er am Telefon gefragt, und in seiner Stimme lag Erstaunen, „gut, dann treffen wir uns.“
Es war bei dem Gespräch um Grundsätzliches gegangen, um Persönliches auch und um ganz Praktisches. „Die Entwicklungsstufe einer Demokratie erkennt man am Umgang mit den Minderheiten“, hatte Joffe gesagt, und: „Ändern Sie Ihren Alltag nicht, leben Sie normal weiter. Gut, Sie sollten im Restaurant nicht gerade Eisbein bestellen, das würde auffallen.“ Es war um Ängste gegangen, um die Grenzen der Wahrnehmung, um konstruierte Realität. Joffe hatte davon berichtet, dass Mitglieder seiner Gemeinde die Kippa nur noch aufsetzten, wenn sie sich hinter der Sicherheitsschleuse der Synagoge befänden, dass der Davidstern vielfach nur noch unter dem Pullover getragen werde. Die Insignien des Glaubens würden bewusst verborgen, eine Art anonymes Judentum entstehe. Ein Verdrängungsprozess, unbemerkt. Am Ende des Gesprächs hatte Joffe seine eigene Kippa aus der Innentasche des Jacketts geholt und gesagt: „Das wäre natürlich die Härte.“ Auf die Kippa waren hebräische Schriftzeichen gehäkelt, der Anfang des Glaubensbekenntnisses. „Dann wären Sie sofort erkennbar.“
Bin ich das jetzt denn nicht?
Ich sitze in der S-Bahn auf dem Weg zum Tagesspiegel. Meine Kippa ist schwarz, schlicht, vorhin, auf dem Weg zu S-Bahn, war sie mir einmal vom Kopf geflogen, der Wind. Für einen Moment hatte ich gedacht, ob das wohl lächerlich ausgesehen haben muss, unbeholfen. Nun aber spüre ich sie nicht, und unwohl fühle ich mich auch nicht, ganz ehrlich, jedenfalls noch nicht. Unsicher aber schon. Die ersten drei Stationen meiner morgendlichen Fahrt sind unspektakulär verlaufen, aber die Grenzen des Experimentes beginnen mir bereits bewusst zu werden. Normalerweise habe ich im öffentlichen Nahverkehr ein stabiles Desinteresse an meiner Umgebung, Alltagsstudien liegen mir fern. In der Regel lese ich, schaue allenfalls mal kurz hoch. Oft passiert das nicht. Nun frage ich mich, ob ich weiter lesen kann oder ob ich dadurch möglicherweise Signale des Antisemitismus verpasse. Ich packe die Zeitung weg. Ganz normal im Joffe’schen Sinne fahre ich damit nicht weiter.
Diverse Studien ermitteln regelmäßig einen antisemitischen Bodensatz, der in Deutschland irgendwo zwischen zehn und 15 Prozent liegt. Es ist eine Art Arschlochquote, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eine besondere Bedeutung hat. Sie liegt im europäischen Mittel. Viele Ewiggestrige sind dabei, seit geraumer Zeit wird die Gruppe aufgefrischt – auch durch Zuzügler aus dem Nahen Osten, das ist eine andere Form von Antisemitismus.
Die S-Bahn-Waggons auf meiner Linie sind lang gestreckt. Wenn’s geht, sitze ich in Fahrtrichtung links, in einer der vier Vierergruppen. Sind sie voll besetzt, dann müssten, statistisch gesehen, zwei von den 16 Fahrgästen von judenfeindlicher Gesinnung sein. Ich schaue mich um. Sie geben sich nicht zu erkennen.
Es ist nicht so, dass der Kippa-Test gänzlich unumstritten wäre. In der Jüdischen Gemeinde gab es, vereinzelt, Bedenken, wie dies wohl wirken möge; und der Publizist Henryk M. Broder hatte sich über die „Kostümierung“ mokiert und in der ihm eigenen, provokanten Art gefordert, Kippas doch am besten an die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Wer sich dann weigere, sie aufzusetzen, den könne man als Antisemiten identifizieren. Auch Michel Friedman, ehemals stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden, war nicht restlos überzeugt. Der Test könne aufklärerisch sein, müsse es aber nicht zwangsläufig, hatte Friedman gesagt, ihn dann aber doch als wackeren Versuch gewertet „der gestörten Wahrnehmung in Deutschland“ zu begegnen, dass alles „normal“ sei. Friedman hatte dann noch erzählt, wie ihm tags zuvor in der Businessclass der Lufthansa ein Wildfremder sein Beileid ausgesprochen hatte, „weil Ihr Volk einen großen Mann verloren hat“. Der unbekannte Passagier hatte Heinz Berggruen gemeint. Solche Sachen. Nix ist normal, wollte Friedman damit sagen, man wird auch von den Gutwilligsten verfolgt.
Auch die Wahrnehmung ist anders.
Wie spüre ich Antisemitismus? Und, ganz wichtig, wo spüre ich ihn auf?
Es ist ein Experiment, es ist, ob ich will oder nicht, konstruierte Realität, ja, unterschwellig soll es sogar eine Form von Provokation sein. Es soll Reaktionen hervorrufen, früher oder später. Das ist die Ausgangshypothese. Bleiben sie aus, dann hat Joffe ein Problem. Ich aber auch, es droht der Vorwurf der Verharmlosung, zumindest der mangelnder Sensibilität. Wie intensiv muss ich suchen?
In „Die Hard“, dritter Teil, läuft Titelheld John McClane mit einem Schild um den Hals durch Harlem: „I hate niggers“ steht drauf. Es gibt sofort Ärger, na logo.
So eindeutig ist das mit der Kippa aber nicht. Sie ist im Dunkeln nicht zu erkennen, im Hellen schwer, manchmal erst im letzten Moment, ich bin gut 1,90 Meter groß. Vielleicht bist du zu groß, hatten Kollegen gemutmaßt, nachdem der erste Tag gänzlich unspektakulär verlaufen war.
Ich war ziellos durch die Stadt gestreift. Unsicher zunächst, ein bisschen beklommen. Über den Ku’damm zuerst, wo vor Jahren orthodoxe Juden einmal angegriffen worden waren und auch damals eine Debatte eingesetzt hatte, weil ein Polizist mit der These auffällig geworden war, dass ein Verzicht auf religiöse Bekleidung oder jüdische Symbole die Sicherheit in der Hauptstadt erhöhen könne. Die Massen waren mir entgegengekommen, doch Massen, weltstädtisch heterogen zusammengesetzt, sind unbedenklich. Jeder kann eintauchen, ich auch. Das merke ich schnell.
Ich war U-Bahn gefahren, S-Bahn gefahren, Bus gefahren – nichts. S- und U-Bahnen erweisen sich für den Kippa-Test als erstaunlich unbrauchbar. In Mitte ist das Publikum wohl zu weltstädtisch, in den Außenbezirken ist es zu müde. Viele haben die Augen zu, viele starren ausdruckslos vor sich hin, zu kraftlos für Feindseligkeiten. Im vollgepackten Bus der Linie M29 tritt mir ein Jugendlicher mit, sagen wir, Migrationshintergrund auf die Füße. Er entschuldigt sich sofort – das kann man nicht rechnen, so oder so, auch bei feinstem Messinstrument nicht. Zwei Tage später remple ich unbeabsichtigt einen Punk am Kottbusser Tor an und entschuldige mich. Auch der Punk winkt nur ab, wieder nix.
Ich bin in den Osten gefahren, an den Alexanderplatz, wo mir ein Mann auffiel, der im Kuhkostüm die Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ verkaufte. Mit der Rechten hielt er sich einen Euter vors Gemächt, mit der Linken hielt er die Zeitung hoch. Mir gehen „Straßenfeger“-Verkäufer mit ihrem Getue grundsätzlich auf die Nerven. Dieser aber ganz besonders. Ich bin an ihm vorbeigegangen, ohne ihm das zu zeigen. Die Gegend um den Hackeschen Markt ist unbedenklich, hatte Joffe gesagt. Sie ist am ersten Tag mein Rückzugsraum. In einem Café spüre ich dem Philosemitismus nach. Gibt es gesteigertes Wohlwollen mir, dem Kippa-Träger, gegenüber? Fehlanzeige. Ich spüre erste Nebenwirkungen. Wer aufpassen muss, wie die Umwelt auf einen reagiert, wird neugieriger, wie die engste Umgebung so ist. Am Nebentisch unterhalten sich zwei Mittfünfziger über Alltagskram. In Dresden haben sie einen neuen Puff, sagt der eine, als Sauna getarnt, 25 Euro Eintritt, die Mädels aus dem Osten. „Da geht Vati einmal die Woche hin.“
Es gibt eine weitere Nebenwirkung. Das Selbstbewusstsein steigt. Mit jedem Meter unbehelligt durchstreifter Öffentlichkeit entferne ich mich von Joffes Erwartungen, instinktiv nicht zu provozieren. Die herbe Ecke links und rechts der Warschauer Straße, der Wrangel-Kiez, der Wedding – nichts passiert. John McClane kommt mir gelegentlich in den Sinn, der filmische Tabubruch, der nur funktionierte, weil er so offensiv begangen worden war. Doch das ist hier nicht Sinn der Sache. Der Kippa-Test funktioniert nur, wenn er defensiv bleibt. Es gibt ungeschriebene Regeln des Alltags, Gesellschaft funktioniert bisweilen in einem unsichtbaren Korsett, für die einen ist es enger, für die anderen ein bisschen weiter geschnürt.
Ich mag den Osten, auch dort, wo er herb ist. Ich ziehe aber auch ansonsten nicht in Lichtenberg nach Einbruch der Dunkelheit um die Plattenbauten.
Im U-Bahnhof Pankstraße weht mir durch den Luftzug der einfahrenden U–Bahn die Kippa vom Kopf. Das ärgert mich. Noch während des Einsteigens bin ich mit ihrer Befestigung beschäftigt und setze mich hin, ohne vorher die Platzwahl zu überdenken. Eine größere Annäherung an die Realität geht nicht. Die U-Bahn ist recht leer. Mir gegenüber sitzt ein an den Händen und Unterarmen tätowierter Alkoholiker. Als er mich sieht, packt er seine Bierflasche weg. Mehr ist nicht.
Anderntags in Neukölln auf der Sonnenallee gibt es erste sichtbare Hinweise, dass das Ungewohnte befremdlich wirken kann. Die Grenzen zur gespürten Verachtung sind durchlässig. Ein Entgegenkommender geht fast im 270-Grad-Winkel um mich herum, dabei abfällig auf meine Kippa schauend. Wenig später spucken drei entgegenkommende junge Männer fast zeitgleich vor sich aus, irgendwo mittig sich und mir vor die Füße. Ich mag die Rotzerei schon bei Fußballern nicht, ertappe mich aber dabei, den kleinen Vorfall ganz zufrieden recht hoch auf der nach oben offenen Ereignisskala einzuordnen.
Was hatte Friedman gesagt? Es kann aufklärerisch sein. Muss aber nicht.
Noch während ich durch Neukölln laufe, ruft mich ein Mann aus der Jüdischen Gemeinde auf dem Handy an. Er geht seit Jahren nicht aus dem Haus, ohne seine Kippa unter einer Mütze oder einen Hut zu verbergen. Das Gefühl von Freiheit, sagt er, habe er nur in New York gespürt, nie aber in Berlin. Wir reden ein bisschen über meine Wahrnehmung. Das sei, sagt er, als ob ich eine Zeit lang mit dem Auto durch die Stadt gefahren wäre, ohne mich vorher anzuschnallen. „Da muss auch lange nichts passieren.“
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite;art705,1978769
14.02.2007 - Berliner Woche - Bernd Wähner: Neue Küche im Kaffee Bankrott
Spenden machen den Ausbau möglich
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Prenzlauer Berg. Bei laufendem Betrieb wird zur Zeit die Küche des Kaffee Bankrott in der Prenzlauer Allee 87 ausgebaut.
In einem Hinterhof in der Nähe des S-Bahnhofs Prenzlauer Allee richtete der Verein Mob vor einigen Jahren eine Notübernachtung und das Kaffee Bankrott ein. Dieses Cafe ist ein Treffpunkt für Menschen mit wenig Geld. Sie bekommen hier für einen symbolischen Betrag eine warme Mahlzeit. Das Essen wird in einer Küche zubereitet, die bislang eher provisorisch eingerichtet war. „Nun bauen wir eine richtige Küche mit allem Drum und Dran ein“, freut sich der Vorsitzende von mob, Dr. Stefan Schneider.
Da vieles in Eigenleistung und mit Unterstützung von Geldspenden gebaut wird, zog sich der Küchenneubau fast anderthalb Jahre hin. Aber zum Frühlingsbeginn soll endlich offiziell Einweihung sein. Die Elektroleitungen sind bereits verlegt, die Lüftung installiert, und zurzeit wird die Küche komplett gefliest. Neben der Küche wird ein neuer Tresen gebaut, und schließlich werden auch neue Toiletten – natürlich behindertengerecht – eingebaut.
„Dass die Küche endlich fertig wir, ist einigen größeren Spenden zu verdanken“, erzählt Dr. Stefan Schneider. Unter anderem spendete die Violia-Stiftung 6000 Euro. Weitere 5000 Euro spendierte ein Edel-Bordell, das dieses Geld eigentlich dem Kinderprojekt „Arche“ zugute kommen lassen wollte. Die „Arche“ lehnte damals dankend ab.
„Wir haben damit weniger Probleme und freuen uns über jede Unterstützung“, so der Vereinsvorsitzende.
Auch wenn der Küchenausbau schon recht fortgeschritten ist, sind weitere Spenden für die Kücheneinrichtung willkommen. Küchenausbau-Chef Torsten Levod: „Wir brauchen eigentlich noch einen zweiten großen Herd und eine große Bratpfanne“. Wenn die neue Küche eröffnet ist, würde der mob e.V. gerne weiter in das „Kaffee Bankrott“ investieren. „Wir möchten dann den Gästeraum noch freundlicher gestalten.“
Mehr über das Selbsthilfe-Projekt erfährt man in der Prenzlauer Allee 87. Weitere Informationen unter ( 46 79 46 11 und www.strassenfeger.de
Quelle: Artikel in der Wochenzeitung „Berliner Woche“, Ausgabe NR. 7 vom 14.02.2007, mit freundlicher Unterstützung von Bernd Wähner
07.02.2007 - Tokio Shimbun - Koki Miura: Obdachlose: In der Kälte Warten auf den Frühling
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Auch wenn die (japanische) Regierung von Konjunktur redet, spüren allzuviele Menschen nicht viel davon. Am wenigsten wohl die Obdachlosen, die zur Zeit unter Überführungen und in Parkanlagen Schutz vor dem kalten Winter suchen. Wie ergeht es wohl Obdachlosen in anderen Ländern? Wir haben Behörden und Hilfsorganisationen aufgesucht... (London, Bangkok, New York)
Berlin: Ein kleines Unternehmens-Netzwerk
Von unserem Berliner Korrespondenten Koki Miura
Ein mit Waren wohlgestopfter Laden, ein schon früh am Morgen gutbesuchtes Café, Übernachtunsgmöglichkieten und sogar eine eigene Zeitung: die Berliner Obdachlosenhilfsorgansiation mob e.V. macht mit all ihren Aktivitäten fast den Eindruck einer Unternehmensgruppe. „mob“ steht für „Obdachlose machen mobil“. Bereits 1994 gegründet hilft der Verein ohne öffentliche Zuschüsse, sondern nur mit dem selbst Erwirtschafteten sowie mit Spenden Obdachlosen zurück in die Selbständigkeit. Herzstück der Aktivitäten ist die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung „Strassenfeger“. Zur Zeit verkaufen rund 400 Obdachlose jeweils die Auflage von 22.000 Exemplaren und erwirtschaften damit etwa 26.000 Euro (etwa 4,1 mio Yen). Dann gibt es noch einen Trödelladen, in dem gebrauchte Möbel, Elektrogeräte oder Fahrräder verkauft werden. Mit dem Umsatz wird das im selben Haus befindliche Café unterstützt, in dem man für 1,20 Euro eine warme Mahlzeit bekommt. In der Notübernachtung ein Stockwerk höher kommt man für 1,50 Euro pro Nacht unter, Bettwäsche inklusive. Steht man wieder etwas sicherer auf eigenen Füßen, gibt es ein für 18 Bewohner eingerichtetes Wohnprojekt - der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit.
Eine Besonderheit dieser Einrichtung ist, dass sie außer für Obdachlose auch für solche Leute offensteht, die potenziell von Obdachlosigkeit bedroht sein könnten. Im Café trafen wir Ute Kahmann (41). „Ich habe als Erzieherin im Kindergarten gearbeitet, doch wegen mobbing am Arbeitsplatz bin ich krank geworden und habe schon sechs Jahre nicht mehr in meinem Beruf arbeiten können. Ich habe eine eigene Wohnung, verkaufe aber auch den Strassenfeger und komme jede Woche so an die dreimal hier vorbei,“ erzählt sie.
Die Sozialpädagogik-Studentin Anne Sommer (22) absolviert hier ihr ein Praktikum Sie weist auf einen wichtigen Punkt für das Projekt hin: „Als der Verein noch neu hier war, gab es ein paar Spannungen mit den Anwohnern, aber das gegenseitige Verständnis ist stetig gewachsen. Mittlerweile bringen sie oft Kleider- oder Essenspenden vorbei.“
Copyright: Tokyo Shimbun
31.01.2007 - Berliner Abendblatt - bw - Ein Verein hilft Hilflosen
mob e.V. hat ein durchdachtes Konzept für Obdachlose
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Prenzlauer Berg. Schnippeln für den guten Zweck hieß es für den Konsistorialpräsidenten der evangelischen Kirche, Ulrich Seelemann, und sein Team.
Sie waren in der vergangenen Woche zu Gast im Kaffee Bankrott von mob e.V. Dort machten sie einen Obstsalat für das Café. „Mit solchen Aktionen wollen wir die Aufmerksamkeit auf die Probleme der Obdachlosen lenken“, sagt Seelemann.
Der mob e.V. versucht, Obdachlosen ihr schwieriges Leben etwas leichter zu machen. Und dazu haben die Mitarbeiter sowie einige Obdachlose selbst einiges auf die Beine gestellt. In dem Haus in der Prenzlauer Allee 87 gibt es das erwähnte Café mit Küche, eine Notunterkunft, einen Trödelladen und dort sitzt auch die Redaktion für den Straßenfeger.
Die Notunterkunft hat Platz für zehn Männer und fünf Frauen. Sie finden dort ein Bett und einen Spind für ihre persönlichen Dinge sowie sanitäreAnlagen mit Dusche. „Die Leute könen hier maximal zwei Monate bleiben“, erläutert Anne Sommer. „Wenn alles nach Wunsch läuft, haben sie danach einen Platz im betreuten Wohnen. Viele gehen aber auch zurück auf die Straße.“ Anne Sommer ist Studentin der Sozialpädagogik und leistet in der Einrichtung sehr engagiert ihr Praktikum. Überhaupt profitiert der mob e.V. von den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern, jungen Leuten im freiwilligen sozialen Jahr, Menschen, die im Rahmen von „Arbeit statt Strafe“ kommen und vielen Ein-Euro-Jobbern. Sie alle tragen dazu bei, dass die Einrichtung so wie sie ist bestehen kann.
Ein wichtiger Anlaufpunkt für die Obdachlosen oder Menschen mit wenig Geld ist das Café. Dort bekommen sie für wenig Geld ein warmes Essen. Eine Mahlzeit wird direkt vor Ort in der Küche gekocht, andere Mahlzeiten werden angeliefert, kommen von Krankenhäusern oder Schulen. Die Berliner Tafel, die schon seit Jahren für Obdachlose Essen in Restaurants sammelt, liefert Kuchen und Brot.
Einer der Stammgäste im Café Bankrott ist René: „Ich komme jeden Tag her, das ist ein fester Punkt für mich. Ich lebe zwar in meiner Wohnung und nicht auf der Straße, aber ich habe nur wenig Geld und hier gibt es preiswert richtig kräftige Hausmannskost. Außerdem finde ich hier immer jemanden zum Quatschen und muss nicht allein zu Hause hocken.“
Im Café wird auch die Obdachlosenzeitung „Der Straßenfeger“ ausgeteilt. Jeder, der verkaufen möchte, kann hier für einen geringen Obolus Exemplare erstehen und sie dann auf der Straße, auf Bahnhöfen oder wo auch immer weiterverkaufen und so einen kleinen Gewinn erwirtschaften. Den dürfen sie selbstverständlich behalten, ebenso wie die Spenden, die manche Leute zusätzlich zum Kauf der Zeitung geben.
Ein weiteres Standbein des Vereins ist der Trödelladen. „Für uns ist es vor allem gut, wenn Leute umziehen. Die wollen sich von vielem trennen. Wir holen die Sachen dann ab und können sie bei uns weiterverkaufen. Der Erlös fließt wieder dem Verein zu“, erlärt Anne Sommer. Ein Besuch im Trödelladen lohnt sich auf jeden Fall, denn dort gibt es wirklich alles: Möbel, Kühlschränke, Herde, Fahrräder, Porzellan sogar Schlittschuhe und jede Menge Bücher.
Wer lieber Geld spenden möchte, kann das auch tun. Informationen dazu gibt es unter Tel. 46 79 46 11. bw
aus: Berliner Abendblatt, Ausgabe Prenzlauer Berg, Nr. 5, 31.1.07, Seite 2.
Mit freundlicher Unterstuetzung von Britta Wels.
02.01.2007 - taz - Esther Slevogt: Überirdische Lichtstimmungen
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Der Fotograf, der durch die Realität hindurch fotografiert: Peter Woelck müsste für seine großartigen Aufnahmen eigentlich berühmt sein
und hoch gehandelt werden. Doch sein Leben beweist, dass es den verkannten Künstler noch immer gibt
VON ESTHER SLEVOGT
Eigentlich müssten diese Fotos berühmt sein und ihr Fotograf Peter Woelck erst recht. Woelcks Foto vom halbfertigen Fernsehturm am Alex zum Beispiel, um den sich ruinöse Altberliner Häuser ducken. Lange standen sie nicht mehr - bald darauf wurden sie für Walter Ulbrichts und Erich Honeckers sozialistisches Utopia, seine begradigten Straßen und sein begradigtes Geschichtsbild abgerissen. Oder das Panoramabild, das durch tausend Lampen aus dem Inneren des Palasts der Republik das gegenüberliegende DDR-Außenministerium ins Visier nimmt - inzwischen auch schon wieder abgerissen. Das sind Bilder vom Aufbau eines Berlin, das zurzeit wieder abgerissen wird.
Oder Woelcks Fotos von Bergarbeitern im Erzgebirge, deren Gesichter selbst dann noch vom Dunkel erzählen, das ihr Leben unter Tage prägt, wenn sie im Winter ihr traditionelles "Fest des Lichts" feiern. Dann Woelcks humoriges Bild einer Kolonne Leipziger Müllmänner aus den 70er-Jahren, die wie eine Popgruppe vor ihrem Müllauto posieren. Fotografien von ostdeutschen Gegenden, denen schon vor dreißig Jahren anzusehen war, dass der Sozialismus nicht wirklich ein Konzept mit Zukunft war. Und deren Tristesse Woelck trotzdem in nahezu überirdische Lichtstimmungen zu bringen verstand.
So kommt es, dass heruntergekommene Straßen und Plätze in Leipzig, wo Woelck seit 1972 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Fotografie studierte, plötzlich aussehen, als lägen sie irgendwo in Paris oder Florenz. Überhaupt das Licht auf Woelcks Bildern: Besonders intensiv scheint es einem aus den Landschaftsbildern entgegen, die manchmal wirken, als hätte hier Hölderlin höchstpersönlich seine Gedichte in Fotografie übersetzt.
Doch statt in Museen zu hängen oder in teuren Galerien gehandelt zu werden, liegen Woelcks Bilder in einer recht heruntergekommenen Ladenwohnung eines Eckhauses im Prenzlauer Berg. Hier lebt auch Woelck selbst. Und zwar unter Bedingungen, die eines Fotografen seines Formats eigentlich nicht würdig sind. Die großen Scheiben hat er mit seinen Fotos verklebt, was manchmal Vorbeikommende animiert, bei ihm anzuklopfen, um für ein paar Euro einen Ausdruck davon zu kaufen. Im Herbst hatte die Friedrichshainer Kneipe "Filmrisz" immerhin eine kleine Ausstellung mit Woelcks Leipziger Fotos aus den 70er-Jahren organisiert.
Woelck lebt nur mit einer Unterbrechung in dieser Ladenwohnung in der Kastanienallee - seit er 1982 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt war, wo er 1946 geboren wurde. Zu der Unterbrechung kam es im berühmten Sommer 1989, als der gut erinnerte Sog, der die DDR schließlich aussaugen sollte, auch ihn erfasste und er in den Westen ging. Wenige Monate später war er wieder zurück.
Damals entstand auch eine bemerkenswerte Fotografie der Kastanienallee. Auf den ersten Blick sieht sie aus wie auch in den Jahren vorher: klassizistische Fassaden, von den Stuck und Putz bröckelt. Am Straßenrand parken Autos aus DDR-Fabrikation. Man muss schon ganz genau hinsehen, um auf einem der Balkone die Satellitenschüssel zu entdecken. Und mitzubekommen, dass sich ein Epochenwechsel vollzogen hat.
Und Woelck, der in der DDR als Künstler und Lebenskünstler immer durchkam, einer, für den schon ein Stück Wiese - wenn man seinen Fotografien glaubt - das Paradies sein, ein Stück DDR-Landstraße zu unentdeckten Kontinenten führen konnte? Sucht Anschluss an die neue Zeit. Wird Fotoreporter bei der Boulevardzeitung Super, die Hubert Burda 1991 zusammen mit dem australischen Medientycoon Rupert Murdoch gründet. Der jedoch steigt schnell wieder aus, und nach fünfzehn Monaten wird das Blatt eingestellt. Auch Woelck steht von einem Tag auf den anderen auf der Straße und stellt fest, dass es im Kapitalismus für Paradiesvögel wie ihn keinen Artenschutz gibt.
Versuche, in der Werbung Geld zu verdienen, scheitern. Am Ende hält er sich damit über Wasser, dass er Dönerspieße und andere einschlägige Speisen für Imbissschautafeln fotografiert. Privat macht er mit dem für ihn so typischen Blick für Momente, die aus der Zeit gefallen sind, Bilder vom neuen Berlin. Von der Love Parade zum Beispiel, der er im ekstatischen Gewimmel zutiefst intime Momente abtrotzt.
Doch von seiner Fotografie kann er nicht leben. Im Rahmen eines Projekts des Arbeitsamts wird er Fotograf der Obdachlosenzeitung Straßenfeger. Bedingung für die staatliche Unterstützung ist, so wollen es damals die Berliner Sozialhilfe-Richtlinien, seine freiberufliche Tätigkeit aufzugeben. Im Gestrüpp verschiedener Förderungsverordnungen verschlechtert sich seine berufliche Lage immer weiter. Nicht aber seine Fotos: Woelck fotografiert die Obdachlosen mit dem gleichen wachen Blick für Spuren des Lebens, für das Unbeugsame, aber auch das Unglück in jedem Gesicht, der schon seine frühen Fotos von DDR-Proletariern prägt.
"Det ist sozialistischer Realismus", sagt Woelck lakonisch und schüttelt die hennagefärbten langen Locken, die ihm ein bisschen das Aussehen eines alten Glamrockers geben. Doch das beschreibt die Sache natürlich nur sehr unvollkommen. Denn Woelck fotografiert sozusagen durch die Realität hindurch und richtet sein Objektiv direkt auf die Umstände, die von ihr verborgen werden. Vielleicht aber hat der Zauber von Peter Woelcks Bildern auch damit zu tun, dass hier einer fotografiert, für den sich die Welt nur durch das Kameraobjektiv zum geschlossenen Bild fügt.
taz Berlin lokal Nr. 8164 vom 2.1.2007, Seite 25, 193
Kommentar ESTHER SLEVOGT, Rezension
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