"Strassenfeger" - Eine Zeitung von Obdachlosen
Die Zeitung "Strassenfeger" sorgt für einen kleinen Beitrag zum Lebensunterhalt und für einen um so größeren, was Unterhaltung und Information betrifft.
Friedrichshain (kt). Wer kennt sie nicht? Kein Abend im Straßencaf, kein Weg zur U-Bahn, ohne daß einer der (meist männlichen) Verkufer vorbeikommt: "Guten Abend, der neue " Strassenfeger", für nur zwei Mark - oder ham' Sie vielleicht ne' kleine Spende über?" Seit 1995 vom Verein "mob - obdachlose machen mobil" herausgegeben, ist der "Strassenfeger" eine monatlich erscheinende Zeitung von, aber nicht nur für Obdachlose.
Der in Berlin mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren erscheinende "Strassenfeger" ist ein selbstverwaltetes Projekt von Betroffenen. Wer beim "Strassenfeger" mitmacht, nimmt sein Leben selbst in die Hand und verläßt die passive Opferrolle: Sei es durch den Verkauf der Zeitung, durch das Schreiben von Artikeln, durch die Mitarbeit im Verein oder Aktionen in der Öffentlichkeit. Ohne Zeitungsprofis, sondern mit Menschen, die trotz ihrer Armut und/ oder ihrer Sucht, bereit sind, professionell zu arbeiten.
Von den zwei Mark Verkaufspreis gehen eine Mark an den Verkäufer oder die Verkäuferin, und die andere an den Verein. Und der beschränkt sich keinesfalls nur auf die Zeitung: Nachdem - vor allem im Winter - die Redaktionsräume des "Strassenfegers" immer wieder als Notunterkünfte genutzt werden, hat der Verein jetzt zwei Wohnungen in Friedrichshain renoviert, um Obdachlosen jeweils für ein paar Monate die Mglichkeit zu bieten, zur Ruhe zu kommen, Ämter- und Behördengänge zu erledigen, über Therapiemöglichkeiten nachzudenken oder etwas in Sachen Job, Schule oder Ausbildung zu unternehmen. Der Verein bietet Beratungen an, und durch die gemeinsame Arbeit wird der Umgang mit Unsicherheit und Aggression geübt. Aber auch die sonstigen Aktionen sind nicht zu verachten: So wird zum Beispiel für eine Teilnahmegebhr von 180 Mark (je zur Hälfte an den Verein und den Dozenten) der Erwerb eines - nicht ganz so ernst gemeinten - "Betteldiploms" angeboten. Die Hauptfächer sind "Sitzung halten" (also korrektes Betteln auf der Straße, wobei laut "Strassenfeger" jedoch "Hunde und etwaige körperliche Gebrechen selbst zu stellen"sind), "Kirchenstich", also das schnorren bei Pastor oder Pfarrer, da Geistliche angeblich immer etwas geben, um ihren Platz im Paradies zu sichern, natürlich "Strassenfeger verkaufen", sowie diverse, ebenso spannende Nebenfächer. Und das ist, wie die Mitarbeiter des "Strassenfeger" versichern, "eine Investition in die Zukunft, denn noch betteln Sie freiwillig."
Wer den Verein mob e.V. untersttzen mchte, spendet bitte an: mob e.V., Kontonummer xxxxxxx bei der Postbank Berlin. Weitere Informationen gibt es unter: Tel.: 784 73 37.
OBDACHLOSE
Happening an der Siegessäule
Berlins Obdachlose wollen am 1. Mai an prominenter Stelle der Hauptstadt protestieren: Zu einem "Happening" am Großen Stern, dem Platz, auf dem die Siegessäule steht, werden 2000 Teilnehmer erwartet. Der Berliner Obdachlosenverein "Obdachlose machen mobil e. V." plant, an das 69 Meter hohe Denkmal zum Tag der Arbeit ein drei Meter breites und 20 Meter langes Stofftransparent mit der Aufschrift "Keine Wohnung - keine Arbeit" zu hängen. Ein Info-Bus soll über die Lage der Menschen ohne Bleibe informieren. In Deutschland leben fast eine Million Obdachlose, davon rund 50 000 in Berlin.
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DER SPIEGEL 16/1997, Seite 20 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags
Dokumentation- Tradition der geplanten Eskalation
Polizei und Krawall-Kids ließen die "Revolutionäre Demonstration" am Abend des 1. Mai im Chaos enden. Zahllose Verletzte und über 400 Festnahmen
Ausgesprochen ausgelassen und fröhlich hatte sie begonnen, die zweite "Revolutionäre Demonstration" am Abend des 1. Mai im Berliner Stadtbezirk Mitte. Trotz eines immensen Polizeiaufgebots hatten sich im Anschluß an ein von dem Obdachlosenmagazin Straßenfeger organisiertes Fest vor der Volksbühne gegen 18 Uhr etwa 6.000 Demonstranten versammelt, um unter dem Motto enough is enough in den Stadtteil Prenzlauer Berg zu ziehen. "Kostenlose Kinderbetreuung, Bildung statt Elitenbildung und Abschaffung von Sondergesetzen gegen Ausländer", lauteten einige der eher unspektakulären Forderungen im Demo-Aufruf.
Statt des üblichen knarzenden Lautsprecherwagens hatten die Organisatoren diesmal einen Laster mit bombastischen Boxen aufgefahren, der sich auch auf der Techno-Demo Love Parade gut gemacht hätte: Eine perfekte "Radio-Show" mit DJ's amüsierte die Menge.
Als gegen 19.30 Uhr klar wurde, daß die Polizei Busse mit Demonstranten der Leipziger 1.-Mai- Kundgebung festhielt, entschlossen sich die Demo-Organisatoren, ohne "die Leipziger" anzufangen. Direkt vor dem Aufzug hatte die Polizei eine regelrechte Burg aus Mannschaftswagen postiert. Binnen weniger Minuten kam es zur Eskalation: Vor allem Krawall- Kids bombardierten von der Festwiese aus mit Flaschen und Steinen die Polizeifahrzeuge, an denen sich die Demonstranten vorbeidrängeln mußten. Ein Teil der 5.000 eingesetzten Polizisten stürmte ihnen mit Schlagstöcken entgegen.
Nach dem ersten Ausbruch beruhigte sich die Lage zunächst wieder. Aber weder bei den Demonstranten noch bei der Polizei war die übliche Marschtaktik erkennbar: Keine Ketten bei den Demonstrierenden, und die Polizei brachte ihr Spalier zuerst nicht zustande. Immer wieder griffen dafür Polizeitrupps die Spitze des Umzugs an. Erneut flogen Flaschen.
Aus Protest gegen die "anhaltenden Polizeiübergriffe" stoppte die Demonstrationsleitung schließlich gegen 21 Uhr den Umzug und drohte die Veranstaltung abzubrechen. Genau in dem Moment, als per Lautsprecher eine Einigung mit dem Einsatzleiter und die Fortsetzung der Demo verkündet wurde, entdeckte die Polizei einen brennenden Papiercontainer und stürmte quer durch den Aufzug. Teile der Demonstranten antworteten mit unzähligen Steinwürfen, die die Beamten vorerst vertrieben. Zahlreiche Schaufenster gingen zu Bruch, die Auslagen eines Computerladens wurden geplündert. Kurzzeitig gewannen die Steinewerfer die Oberhand.
Nun erklärte die Demoleitung den Aufzug endgültig für beendet. Die Polizei prügelte wahllos durch die Straßen. Nach etwa zehn Minuten blieben mehrere Schwerverletzte am Boden liegen. Für verletzte Polizisten standen umgehend Krankenwagen zur Verfügung, selbst blutüberströmte Demonstranten wurden jedoch mit Polizeifahrzeugen abtransportiert.
Während sich die Demonstration nach dem Polizeiansturm relativ schnell auflöste, verlagerten sich die Ausschreitungen in die Seitenstraßen. An mindestens vier Stellen wurden Bauwagen und Barrikaden in Brand gesetzt. Mit Wasserwerfern und Tränengas räumte die Polizei bis Mitternacht immer wieder die Straßen. Die Polizei meldete 17 verletzte Beamte und 407 vorläufige Festnahmen. Die Demo-Organisatoren warfen der Polizei "unangemessene Härte" vor. Auch mit Selbstkritik wurde nicht gespart. Ein Anmelder des Umzuges bezeichnete das Verhalten vor allem von jungen Demonstranten als "unüberlegt und unpolitisch". Er bedauerte, daß auch viele Schaufenster von kleinen Läden zerstört wurden.
TAZ Nr. 5522 vom 04.05.1998 Seite 2 Aktuelles 112 Zeilen
strassenfeger/ mob obdachlose - machen mobil e.V.
Kopernikusstr. 2, 10243 Berlin
Jungdemokraten/ Junge Linke - Berlin
Monumentenstr. 36, 10783 Berlin
Berlin, 09.12.1997
Pressemitteilung
Sperrfrist: 10. Dezember, 12 Uhr
»Freiheit stirbt mit Sicherheit
Aufgrund wiederholter Übergriffe durch private Sicherheitsdienste und Polizei in öffentlichen Verkehrsmitteln organisieren Betroffene den Protest. Obdachlose, Junkies, Musikanten, Straßenzeitungsverkäufer und anderes Volk werden sich in einer beispielhaften Aktion diesen öffentlichen Ort wieder aneignen.
Wir laden sie ein, an dieser Zugbesetzung teilzunehmen, mit uns zu sprechen und darüber zu berichten.
Wir freuen uns, sie am Mittwoch, den 10. Dezember um 12 Uhr (pünktlich) auf dem S-Bahnsteig Bhf. Zoo am Kiosk zu begrüßen. Getränke und Speisen werden in der ersten fahrbaren Volksküche gereicht.
Verantwortlich: Stefan Schneider
Bei Nachfragen stehen wir ihnen unter der Telephonnummer (0177) 442 XX XX gerne zur Verfügung.
Ein Aufruf an die Berliner Bevölkerung
Mit einer Magnetkarte kann man einem Obdachlosen einen Übernachtungsplatz verschaffen. Ermöglicht doch diese Karte den Einlass zu jenen Vorräumen von Banken und Kreditinstituten, in denen Geldautomaten und Kontoauszugsdrucker aufgestellt sind. In der Regel warme, geschütze und saubere Räume, in denen mensch sicher vor Überfällen und Belästigungen weitgehend unbehelligt und vor allen Dingen kostenfrei übernachten kann. Die wenigen Kunden, die meinen, nächtens ihr Geld holen zu müssen, tun dies meist diskret und leise.
Auf Ihre Frage, wie denn sicherzustellen sei, daß der obdachlose Kunde sich nicht gleich mit an Ihrem Konto bediene, wäre Voraussetzung, daß von diesem Konto ohnehin nicht viel zu holen sei, und außerdem müssen Sie Ihre Geheimzahl ja nicht unbedingt mit der Magnetkarte zusammen weiterreichen.
In ihrer unergründlichen Weisheit macht sich die Redaktion dieser gloreichen Gazette oben genannte Idee zu eigen und fordert die Berliner Bevölkerung auf, Magnetkarten zu spenden.
Fragen Sie einfach den nächsten Obdachlosen, der Sie anspricht, ob er einen Übernachtungsplatz braucht und überreichen Sie ihm Ihre Magnetkarte mit dem Hinweis, wo er Ihre Hausbank finden kann.
Haben Sie keine Gelegenheit, Ihre Karte an den Mensch zu bringen, schicken Sie ihre Karte unter dem Stichwort "Magnetkartenaktion" an die Redaktion der Straßenzeitung in der XXX-Straße in Berlin - wir werden sie unmittelbar an Bedürftige weiterreichen.
Sollte diese Aktion Erfolg zeitigen, werden wir in einer der nächsten Ausgaben darüber berichten.
Magnetkarten für Obdachlose!
Übernachtungsplätze in den Vorräumen von Banken und Kreditinstituten!
Editorische Notiz: Wir haben diese Meldung tatsächlich im Strassenfeger abgedruckt, damals im Jahr 1998. Es gab sogar eine Reaktion von der BZ. Die Zeitung hat ein paar Berliner befragt, ob sie das machen würden und natürlich irgend so einen Bankvertreter befragt, ob das denn zulässig sei. Natürlich ist das nicht zulässig, aber das wussten wir auch schon vorher. Auf den Fall hat diese Meldung ein wenige Furore gemacht, und darauf kam es uns ja damals auch an. Rotterdam, 11.10.2010 - Stefan Schneider
PS: Heute sprechen wir nicht mehr von Magnetkarten, sondern von Kreditkarten. Es bleibt aber das selbe.
- 2001.01.01. - Linde, Christian: Wie wollen Wohnungslose wohnen?
- 2001.07.24. - Berliner Zeitung - Stefan Strauss - Freibier beim Pöbel-Wettstreit
- 2007.07.01. - wohnungslos - Susanne Gerull - Rezension der Ratgeber-Ausgabe vom strassenfeger
- 2008.03.01. - Berliner-journalisten.com - Pamo Roth: Herr und Knechte (über Strassenzeitungen)