06.06.1997 - Berliner Zeitung - Melanie Richter: Mein Geist wußte nie wohin
"Mein Geist wußte nie wohin"
Günter war obdachlos und schrieb Gedichte bis er sich das Leben nahm
06.06.1997
Lokales - Seite 16
"Günter, oft haben wir zusammengesessen, haben geredet, alles Mögliche versucht zu erklären und zu verstehen." So beginnt ein ungewöhnlicher Nachruf in der Obdachlosenzeitung Strassenfeger. Wie ein Brief darüber das Foto eines jungen Mannes. Günter ist tot. Er war 21 Jahre alt. Er hat in einer Neuköllner Wohngemeinschaft gelebt und manchmal für den Strassenfeger geschrieben auch Gedichte. Vor ein paar Wochen nahm sich Günter Tomberger das Leben. Er lag tot in der Dusche neben ihm ein Stromkabel.
Gregor trauert um ihn. Öffentlich. Vielleicht würde sonst kaum jemand vom Tod des 21jährigen Notiz nehmen. Warum der Österreicher Günter nicht mehr zu Hause, sondern lieber in Berlin leben wollte, weiß Gregor nicht. "Erst war Günter nicht so voller Depressionen. Aber es wurde schlimmer. Und wer will schon was wissen über das ganze Elend? Die meisten sehen doch weg." Das "ist ein Scheißgefühl", sagt Gregor.
Bis vor zweieinhalb Jahren hatte Gregor noch einen gutbezahlten Job. Der 25jährige kommt aus einer Kleinstadt bei Stuttgart. "Ich hab· zwei Gesellenbriefe, bin Maurer und Zimmermann." Aber für "diesen Staat" will er nicht mehr arbeiten. Irgendwann landet Gregor in Berlin und lernt Günter kennen. Die beiden verkaufen den Strassenfeger und leben sonst vom Schnorren. Gregor braucht das Geld für Heroin und Schlaftabletten. "Günter war nie auf Droge. Aber den goldenen Schuß wollten wir uns zusammen setzen."
In der Nacht vor seinem Tod trinken sie zusammen Tee. Und reden über Träume. Manchmal habe sich Günter vorgestellt wie es sein könnte mit Enkeln auf dem Arm, eine Pfeife im Mund und den Blick auf die See gerichtet. Im Nachruf schreibt er: "Man wird nicht alt wegen der einfachen Tatsache, daß man eine bestimmte Anzahl von Jahren gelebt hat, sondern nur, wenn man sein eigenes Ideal aufgibt. Ich denke wir fanden kein Ideal." Als Gregor von dem Selbstmord erfährt, läuft er durch die Straßen, weint und singt von einem Freund, der alleine ging.
Im Innersten sei Günter verzweifelt und allein gewesen. In einem seiner Gedichte heißt es: Nur mein Geist wußte nie wohin, dieses Erkennen nahm mir jeglichen Sinn Zerrissen aus eigener Schuld kraftlos am Ende ohne Geduld Gregor glaubt: "Er nahm sich das Leben, weil er hier keinen Platz für sich gefunden hat."
Marina Richter
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1997/0606/lokales/0143/index.html
11.03.1997 - taz - Abenteuer Obdachlosigkeit: Jetzt bewerben!
Jetzt bewerben!
So säße er da, der arme Eberhard*, wenn, ja wenn er so leben müßte wie die über 10.000 Obdachlosen der Stadt. Zwar muß er nicht, aber jetzt darf er, kann er. Denn damit auch PolitikerInnen und andere "interessierte Menschen" endlich sachkundig mitreden können, lädt die Obdachlosenzeitung "strassenfeger" zum "Crashkurs Obdachlosigkeit". Für schlappe 180 Mark Solibeitrag (ermäßigt 120 Mark) bieten die "strassenfeger" nach einem Frühstück inclusive Kaffee und Zigaretten in einer Notübernachtung den garantierten Rauswurf auf die Straße. Frisch gestylt aus dem Kleiderfundus, aber ohne Geld, Ausweise, Schlüssel, Nahrung oder Kontakt zu Verwandten und Bekannten müssen sich die Probanden dann 24 Stunden durchs heimelige Berlin schlagen. Auch Decke oder Schlafsack sind - wie in der Realität - nicht vorgesehen. Aber keine Angst: Bekanntlich gibt es ja viele tolle Hilfsangebote für Wohnungslose. Wer die nicht findet, darf sich an die echten Obdachlosen wenden. Die kennen alle zum Überleben notwendigen Tricks. Abschließend wird ein Nachgespräch angeboten. Anmeldungen: heute am strassenfeger-Bus in der Jebenstraße hinterm Bahnhof Zoo oder an die Redaktion "strassenfeger", Kopernikusstraße 2, 10243 Berlin.
ga
Fotos: A. Schoelzel/P. Granser, Montage: taz Bemerkung: Foto-Text
TAZ-BERLIN Nr. 5175 vom 11.03.1997 Seite 24 Berlin 28 Zeilen
* gemeint ist hier Eberhard Diepgen, zum damaligen Zeitpunkt Regierender Bürgermeister von Berlin. Die Fotomontage, die nicht er erhalten ist, zeigt ihn als Bettler auf der Strasse.
18.03.1997 - Berliner Zeitung - Mechthild Henneke: Nur die Münzen in der Manteltasche geben Halt (Crashkurs Obdachlosigkeit)
Datum: 17.03.1997
Berliner Zeitung Ressort: Lokales
Nur die Münzen in der Manteltasche geben Halt
24 Stunden obdachlos: Die Zeitung "Strassenfeger" lud zum Selbstversuch - Unsere Reporterin Mechthild Henneke machte mit
Gespräch am Abend vorher: "Und Du gibst wirklich alles ab?" "Ich weiß nicht. Die Schälchen für meine Kontaktlinsen nehme ich auf jeden Fall mit." "Wieso? Geh' doch mit Brille." "Kommt nicht in Frage. Damit sehe ich schrecklich aus. Und meine Schlüssel? Soll ich die abgeben? Am Ende ist meine Wohnung ausgeräumt, wenn ich wiederkomme." "Gib doch einen falschen Schlüssel ab. Den echten behälst Du. Sicher ist sicher." Meine Obdachlosigkeit beginnt um acht Uhr morgens in einem Schlafzimmer. Es riecht nach Männerschweiß und Kaffee. Acht Verkäufer des "Strassenfegers" haben auf zwölf Quadratmetern übernachtet. Gerade sind sie aufgestanden, haben das Sofa zusammengeklappt, die Matratzen zur Seite geräumt und den Frühstückstisch gedeckt. Aus der Notübernachtung ist wieder das Redaktionsbüro der Obdachlosenzeitung geworden. Einer der Männer sitzt lallend und mit verdrehten Augen auf dem Sofa. Die anderen hängen müde auf ihren Stühlen. Neugierig mustern sie mich."Hast du schon eine Geschichte, wieso du auf der Straße lebst?", fragt einer. Ich habe keine."Weißt Du schon, wo du pennen willst?"Ich weiß es nicht."Wie willst Du an Kohle kommen?" -"Ich verkaufe den Strassenfeger."Zwei Tage zuvor hatte ich mich angemeldet beim "Crashkurs Obdachlosigkeit", zu dem die Zeitung provozierend einlädt. Kann nicht so schlimm sein, habe ich gedacht: sich einmal 24 Stunden lang vom gewohnten Leben abzuschneiden. Ausprobieren, was das heißt: kein Geld, kein Besitz, kein Zuhause."Obdachlose zu sehen, ist normal geworden", sagt ein Redakteur."Wir wollen, daß mehr für uns getan wird."Wer mitmacht, soll alles abgeben, was das Leben der Seßhaften ausmacht: Portemonnaie, Schlüssel, Kreditkarten. Unterstützung liefert ein Betreuer, den die Redaktion stellt. Mir wird Sascha Wieganddas Abc der Straße beibringen, 31, seit fünf Jahren ohne festen Wohnsitz. Obdachlos sieht er nicht aus, sondern wie ein "Freak": Er ist höchstens 1, 60 Meter, trägt Vollbart, einen langen braunen Zopf, Lederhut. In den etwa 30 Taschen seiner Bundeswehrhose und seines Parkas steckt ein Überlebensprogramm für die Straße: von Handschellen bis zum Fernrohr. Jetzt muß er "noch kurz" zur Turmstraße. Wieso, weiß ich nicht. Wir verabreden uns am Bahnhof Zoo. Vorher werde ich eingekleidet. Auf der Toilette tausche ich meine Jeans gegen eine dunkelblaue Cordhose, die zu weit, meinen Pullover gegen einen verwaschenen Wollrolli, der zu eng ist. Darüber ziehe ich einen kurzen, schwarzen Mantel. Der spannt über der Brust, und die Gürtelschnalle ist kaputt. Ich gucke in den Spiegel: Alles ist sauber, alles ist alt, alles ist häßlich."Sieht doch jut aus", sagt einer, als ich ins Büro komme. Ich lächele hilflos. Auf dem Weg zum Zoo laufe ich immer an den Häuserwänden entlang. Ich erinnere mich, wie ich neulich selbst Altkleider weggebracht habe und dabei dachte: "Endlich weg mit dem Mist."Sieht man, daß ich trage, was ein anderer aussortiert hat? Im Rucksack liegt mein Schlüssel, in meinem Strumpf stecken 20 Mark. Doch mir ist, als gäbe es sie gar nicht, denn die fremde Kleidung hat im Kopf das Band zum frei gewählten Leben zerschnitten. Sie hat mich obdachlos gemacht. In der Jebensstraße am Zoo, wo die Stricher auf Kundschaft warten, steht der blaue Campingbus des "Strassenfegers". Darin sitzt Walter, der "Vertriebschef", der die Zeitungen ausgibt. Ein paar Männer holen sich Zehner-Packen. Walter macht Notizen. Er hat kleine, braune Zähne, dafür aber noch alle. Den meisten Verkäufern fehlt die halbe obere Zahnreihe."Das ist die Straße. Da sitzen die Fäuste locker", sagt Walter. Und: Wer hier lebt, geht nicht zum Kieferorthopäden. Sascha nimmt zehn "Strassenfeger", ich kriege fünf in Kommission. Viermal höre ich zu, wie er in der S-Bahn das Blatt anbietet: "Schönen guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich verkaufe die neueste Ausgabe der Obdachlosenzeitung Strassenfeger. Sie kostet zwei Mark, von der eine an den Verkäufer geht. Mit der anderen unterstützen Sie andere Obdachlose und zwar in Form von Suppenküchen und Notunterkünften.Über den Kauf der Zeitung oder kleinere Spenden würde ich mich sehr freuen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und einen schönen Tag."Sascha spricht sehr laut und deutlich. Er verkauft zwei Hefte. Mein Herz klopft bis zum Hals. Saschas Kollegen in der Redaktion haben erzählt, Suppenküchen und Notunterkünften gebe es beim "Strassenfeger" gar nicht. Das Geld bleibe im Verlag. Ich weiß nicht, was stimmt, doch Sascha sagt, der Teil mit den Suppenküchen sei besonders wichtig, damit die Leute vor allem an den guten Zweck und weniger an den Verkäufer denken.
Als wieder ein Zug kommt, steigt Sascha in den zweiten Wagen (den ersten meidet er wegen des Fahrers, denn der Verkauf ist offiziell verboten), ich in den letzten. In der Mitte wollen wir uns wiedertreffen."Oh Gott", denke ich, "wie wird meine Stimme klingen?"Wird sie zittern? Halte ich durch? Kann ich das Rattern des Zuges übertönen? Die S-Bahn fährt los; ich fange an zu reden; meine Stimme zittert, doch irgendwie schaffe ich es bis zum "Danke für Ihre Aufmerksamkeit". Die erste Käuferin zahlt mit einem Fünf-Mark-Stück. Ich habe kein Wechselgeld, sie will keins."Vielen Dank", stammele ich. Noch 2,50 Mark bis zur BVG-Tageskarte. Im zweiten Wagen baue ich den Satz ein: "In Berlin werden immer mehr Frauen obdachlos. Ich bin eine davon", denn ich habe das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Wieder verkaufe ich ein Heft, doch die meisten starren, den Kopf weit wegdreht, aus dem Fenster. Um 13 Uhr sind wir wieder am Vertriebsbus. Am andern Ende der Straße entdeckt Sascha den "Fixpunkt"-Bus."Das ist unser Glückstag. Die haben echt gutes Essen", jubelt er. Eine Vollkornschnitte und eine Banane bekommen wir umsonst in der Anlaufstelle für Heroinabhängige. Der Hunger ist zweitrangig. Sascha stopft sich frische Kanülen, Nadeln und Tupfer in seine Bundeswehrhose, und mir dämmert, was er an der Turmstraße gemacht hat."Bist Du auch obdachlos?", fragt mich die Sozialarbeiterin."Hmm", murmele ich. Eine Frau sagt, sie hätte 700 Nadeln zu Hause, und fragt, ob sie die gegen frische tauschen könne. Sascha erzählt von seinem Abszeß an der Lende und erhält Verbandszeug. Bei der Bahnhofsmission reicht ein Mitarbeiter eine Liste mit Notunterkünften durchs Fenster. Durch den Bahnhof Zoo gehen wir zur S-Bahn. Ich meide die Blicke der Passanten und die spiegelnden Fensterscheiben. Wir fahren in Richtung Alexanderplatz. Im Bahnhof Tiergarten steigen wir aus, denn Sascha hat Wachschützer in unserem Zug entdeckt. Wir begutachten den Süßigkeiten-Automaten, und Sascha rüttelt plötzlich wild an dem Gitter. Zack, fällt ein Snickers raus. Es hing lose hinter der Halterung."Für Dich", sagt mein Begleiter, "ich kann sowas nicht essen, wegen meiner Zähne."Im nächsten Zug kramt eine Frau in ihrer Einkaufstasche, als sie mich sieht."Wollen wir der Frau ein Würstchen geben?", fragt sie ihren kleinen Sohn."Ach, nehmen Sie das ganze Glas", sagt sie."Toll - Abendessen gesichert", sagt Sascha anerkennend. Unruhig tritt er von einem Fuß auf den anderen."Wir fahren zum Bus", bestimmt er auf einmal, weil er einen Schuß Heroin brauche. Aus Rücksicht auf mich hatte er sich morgens nur eine kleine Dosis genehmigt. Ich schlucke, doch ihn abhalten kann ich nicht. Im Bus treffen wir einen 18jährigen."Hey kommste gerade aus dem Bau?", fragt Sascha."Habe ich am Tabak erkannt, den gibt's nur im Knast."Mit einem messerscharfen Dolch aus einer seiner Taschen schneidet er eine Pepsi-Dose auseinander. Er nimmt sie mit auf Toilette, um das Heroin aufzukochen. Ich warte. Ein torkelnder Junkie holt sich drei "Strassenfeger". "Was sagen Sie dazu, daß die Männer sich ihre Sucht mit dem Verkauf finanzieren?", frage ich den Vertriebschef."Besser, als wenn sie Omis beklauen", sagt der knapp. Wieder gibt ein Verkäufer zehn Mark ab und erhält dafür neue Ausgaben."Wenn Du Markus siehst, bestell ihm einen schönen Gruß", sagt er, "dem poliere ich so dermaßen die Fresse, wenn ich ihn finde, daß der nicht mehr sehen kann."Markus schuldet ihm seit zwei Tagen sechs Mark. Als Sascha in den Bus zurückkommt, stehen Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Pupillen sind klein wie die Spitze eines Kugelschreibers. Er lallt."Gib mir mal ein Taschentuch", doch seine Hand trifft nicht die Stirn sondern nur seinen Bart. Ich weiß nicht, wohin mit meinem Blick. Walter erzählt von seinem Hund, der morgens vor sein Bett gemacht hat. Nach zehn Minuten ist Sascha wieder ansprechbar. Wir fahren Richtung Potsdam, aber niemand kauft die Zeitung."Mittagszeit. Das ist normal", sagt Sascha. Eine ältere Frau preßt sich voll Widerwillen an die Wand der S-Bahn, als ich an ihr vorbeigehe. Auf der Rückfahrt steigen wir in Wannsee aus. Sascha gibt mir ein Stück Eierrahm-Gußfladen für 3, 25 Mark aus. Damit setzen wir uns auf eine Bank und schauen durchs Fernrohr auf den See. Neben der Bank beginnt ein Park. Es riecht nach Urin.17 Uhr. Wir sind wieder am Bus. Ich habe insgesamt 30 Mark verdient. Den ganzen Tag wandert meine linke Hand immer wieder in die Manteltasche, um die Münzen zu befühlen, als könne ich mich an ihnen festhalten. Mein Kopf dröhnt, meine Beine sind weich. Sascha verschwindet erneut "was besorgen". Es wird Zeit, eine Unterkunft zu suchen.
In die meisten komme ich nicht rein, weil ich keinen "Läuseschein" habe, also kein ärztliches Attest, daß ich kein Ungeziefer habe. Eine ist ausschließlich für Frauen."Haben Sie noch Platz?", frage ich dort."Ja, kommen Sie rein. Ich heiße Kathrin", werde ich begrüßt. Es ist viel los, und die Unterkunft hat nur zehn Betten. In der Küche sage ich deshalb der Betreuerin, daß ich Journalistin bin und mein Bett räume, wenn jemand Bedürftiges kommt. Die Frauen kochen Spätzle mit Gemüsesoße. Während die anderen im Mini-Fernseher einen Film gucken, gehe ich schlafen. Um fünf Uhr wache ich auf. Eine Frau bekämpft ihren Husten mit Zigaretten, eine andere schimpft alle zehn Minuten mit ihrer Bettnachbarin: "Sie schnarchen!". Um sieben Uhr gibt es Frühstück, um viertel vor acht haben die meisten ihr Obdach verlassen, als hätten sie dringende Sachen zu erledigen."Wohin gehen sie?", frage ich. Niemand weiß es. Nirgendwohin. Ich fahre zum Redaktionsbüro. Sascha sehe ich nicht wieder."Den hat der Wachschutz geschnappt beim Schwarzfahren", sagen die anderen. Ich habe noch 22 Mark in der Tasche. Das würde reichen für eine neue Tageskarte, ein Frühstück und den ersten Stapel Zeitungen.
(Namen geändert)
© G+J BerlinOnline GmbH, 18.03.1997
21.12.1996 - Berliner Zeitung - Volker Bormann: Das Gefühl, Gutes zu tun
Die Berliner Obdachlosenzeitungen kämpfen um ihren Ruf
Profit und Wohltätigkeit gehen ungern zusammen. Obdachlosenzeitungen sind eine Vernunftehe von beidem: Profit zum Zwecke der Wohltätigkeit ist das Konzept, mit dem sie sich gut verkaufen lassen. Drei Obdachlosenzeitungen werben in Berlin um die Großherzigkeit der Passanten.
Zwei Mark gibt der Käufer für eine Zeitung. Eine gehört dem Verkäufer, die andere dem Herausgeber. Der finanziert davon sich selbst und Notunterkünfte, Wärmestuben oder was Obdachlosen sonst noch guttut. Zusammengenommen werden in Berlin rund 50 000 Obdachlosenzeitungen verkauft. Marktführerin ist die "Motz", sie wird alle vierzehn Tage rund 30 000mal verkauft, der Rest verteilt sich in etwa gleich auf den "Straßenfeger" und die "Platte".
Zwei Männer haben die Obdachlosenzeitungen in Verruf gebracht: Frank Kußmaul, der frühere Geschäftsführer der "Platte Verlags GmbH" und Georges Mathis, ein Franzose, der 1994 die erste Berliner Obdachlosenzeitung erscheinen ließ - die vor knapp anderthalb Jahren gescheiterte "Haz". Mathis hat den Profit aus der "Haz" nicht in Wohltaten für Berliner Obdachlose gewandelt, sondern nach Frankreich geholt. Das haben ihm die "Haz"-Redakteure verübelt. Sie sagten sich von Mathis los und vereinigten ihr Blatt im Juni 1994 mit der "Mob", einer weiteren Berliner Obdachlosenzeitung. Das neue Blatt bekam den Namen "Motz". Hartnäckig hielt sich zudem das Gerücht, Mathis stehe den französischen Rechten nahe. Seine Pariser Obdachlosenzeitung "Le Reverbere", zu deutsch die "Straßenlaterne", soll aus derselben Druckerei gekommen sein, die auch Wahlkampfmaterial des Neofaschisten Le Pen druckt. Das behauptet Sonja Kemnitz, eine ehemalige Mitarbeiterin der "Haz".
Während Mathis nur moralische Vorwürfe zu machen sind, ermittelt gegen Frank Kußmaul die Berliner Staatsanwaltschaft. Kußmaul ist im Juli dieses Jahres für einige Zeit verschwunden und soll dabei einen erheblichen Teil vom Verkaufserlös der "Platte" mitgenommen haben. Die Staatsanwälte kennen seinen Aufenthaltsort und ermitteln wegen Verdachts auf Untreue und Unterschlagung. Haftbefehl besteht gegen Kußmaul allerdings nicht. Die "Platte" hat die Hälfte ihrer Auflage und viele Verkäufer verloren.
Die Skandale um die "Haz" und die "Platte" haben das wesentliche Fundament der Obdachlosenzeitungen beschädigt: den guten Ruf, ohne den es die Verkäufer schwer haben, Passanten vom guten Zweck der Zeitung zu überzeugen. Obdachlosenblätter sind ein einfaches Produkt, das zu einem vergleichsweise hohen Preis verkauft wird. Das funktioniert, weil der Käufer mit der Zeitung das Gefühl kauft, Gutes getan zu haben. Das bedruckte Papier ist vor allem ein Symbol für die versprochene soziale Hilfe, und daß sie vom Verkaufserlös auch wirklich erbracht wird, muß der Käufer glauben.
Mittlerweile sind die Träger aller drei Obdachlosenblätter in Berlin bemüht, ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen. "Bei uns muß jeder auszugebende Betrag von mehr als 50 Mark vom Vorstand genehmigt werden", sagt Christian Linde, der Chefredakteur der "Motz". Jedes Mitglied des Vereins "Motz & Co. e. V." könne überprüfen, wofür das Geld verwendet worden sei. Die "Motz" hat monatlich rund 30 000 Mark feste Kosten: Gute 10 000 Mark verschlingen allein die Mieten für die Redaktions- und Lagerräume in Kreuzberg, für eine Notunterkunft im Scheunenviertel und die Raten für einen gebrauchten Lastwagen, den der Verein vor kurzem angeschafft hat.
Rund 20 000 Mark wird man für die Produktion der beiden monatlichen Zeitungsausgaben ansetzen dürfen. Rechnerisch bleiben dem Verein von jeder verkauften Zeitung 70 Pfennig, denn die Verkäufer bekommen zur Ermunterung oder als Starthilfe einen Teil der Auflage geschenkt. Insgesamt kommen durch den Verkauf monatlich etwa 42 000 Mark herein. "Vom Überschuß, den wir hier erwirtschaften, wird keiner reich", versichert Linde. Schließlich müsse der Verein davon Steuern zahlen und Rücklagen für den Sommer bilden. Seit Anfang Dezember versucht die "Motz", den Profit zu steigern und erscheint probeweise wöchentlich.
Der Erlös aus dem Zeitungsverkauf verhilft keinen Obdachlosen zu großem Profit, aber zu mancher kleinen Wohltat. Zum Lebensunterhalt reicht er nicht. Stefan Schneider, einer der wenigen Nicht-Obdachlosen beim "Straßenfeger" erklärt: "Wir mindern vor allem die Beschaffungskriminalität." Und für ganz wenige Verkäufer ist dies der erste Schritt von der Straße. +++
Volker Bormann, Berliner Zeitung, 21.12.1996, Seite 30www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1996/1221/kultur/0026/index.html?keywords=motz;mark=motz%20m%F6tz;start=60
1996.10.28. - taz - Jens Rübsam: Die Playboys für Elendsvoyeuristen. Obdachlosenzeitungen suchen ...
28.10.1996 - taz - Jens Rübsam: Die Playboys für Elendsvoyeuristen. Obdachlosenzeitungen suchen nach ihrem Selbstverständnis
Diskussionsrunde: Obdachlosenzeitungen suchen nach ihrem Selbstverständnis
Die Sache ist nicht ganz einfach. Was ist eine Obdachlosenzeitung, was will sie, wer sie darf machen, wer vertreiben? Der hauptstädtische Strassenfeger versteht sich als klassische Obdachlosenzeitung. Als eine, an der Obdachlose redaktionell mitarbeiten, die sich an Obdachlose wendet, natürlich nicht nur, und die von Obdachlosen verkauft wird. Biss aus München dagegen will eine Straßenzeitung sein, gemacht von Nichtobdachlosen (der journalistischen Qualität wegen), das Zielpublikum ist die breite Masse. Vertrieben freilich wird Biss in der Münchner City von Obdachlosen. Strassenfeger und Biss sind zwei typische Beispiele für die Situation der Obdachlosen- beziehungsweise Straßenzeitungen in Deutschland. Gut 30 gibt es derzeit, alle inhaltlich sowie von ihrem Selbstverständnis her verschieden. Am Wochenende trafen sich ihre Macher in Berlin zu einem Erfahrungsaustausch.
Stefan Schneider vom Verein MOB (Obdachlose machen mobil e.V.), seit zwei Monaten beim Strassenfeger, hält mit der Kritik nicht hinterm Berg: "Ich habe das Gefühl, daß sich bei den Obdachlosenzeitungen Leute breitmachen, die im journalistischen oder sozialen Bereich nicht weiterkommen." Er spricht von Leuten, die diese sozialen Projekte "bewußt abzocken", und davon, daß Obdachlosenzeitungen oftmals nur noch Etikettenschwindel sind. "Sie werden lediglich von Obdachlosen vertrieben." Ihre Macher, das seien ganz andere Leute.
Der Berliner Strassenfeger. Gut 10.000 Auflage, 1.000 Mark Redaktionsbudget pro Ausgabe, 20 Stammverkäufer, vier Leute, die das Redaktionsteam bilden, der jeweilige Schlußredakteur verdient nicht mehr als 600 Mark, es gibt keine Hierarchie. Einmal in der Woche wird im Rahmen einer "Schreibwerkstatt" über Inhalte diskutiert - mit den Verkäufern, also mit den Obdachlosen selbst. Mit der Rubrik "Autoren zum Anfassen", so Karsten Krampitz, sei gewährleistet, daß die Betroffenen regelmäßig zu Wort kommen. Zielgruppe der Zeitung seien die Obdachlosen (Krampitz: "abgehobenes intellektuelles Geschreibe nutzt nichts") und die ganz normale Bevölkerung. Anliegen ist es, "denjenigen eine Stimme zu geben, die sonst nicht zu Wort kommen und die Öffentlichkeit für die Themen Obdachlosigkeit und Armut zu sensibilisieren". Daß die Gefahr bestehe, schnell zu einem "Playboy für Elendsvoyeuristen" zu werden, weiß Karsten Krampitz. "Wir müssen aufpassen, da viele Leute von den Themen einfach übersättigt sind."
Drei Obdachlosenzeitungen konkurrieren in Berlin: Strassenfeger, Motz und Platte. Die Konkurrenz untereinander ist hart, aber, sagt Karsten Krampitz, sie belebe das Geschäft. "In keiner anderen Stadt haben die Obdachlosen so viele Sprachrohre wie in Berlin." Was die drei Blätter unterscheide, seien die Inhalte. Der Strassenfeger wolle durchaus politische Inhalte rüberbringen, wolle radikal und schonungslos sein. "Das Endziel aber ist, uns überflüssig zu machen", so Karsten Krampitz.
Jens Rübsam
TAZ-BERLIN Nr. 5063 vom 28.10.1996 Seite 24 Berlin 91 Zeilen
- 1996.09.09. - Berliner Zeitung - Gudrun Sonnenberg: Ganz leer sind die Hände nicht
- 1996.01.01. - strassenfeger - Karsten Krampitz: "...daß es bald besser wird“ Harald Juhnke
- 1994.07.18. - Berliner Zeitung - Berliner Karrieren - hg: Die Gründungsgeschichte von mob
- 1995.05.31. - Berliner Zeitung - Viola Leipoldt: Vereinte Kräfte