20.07.2000 - Tagesspiegel Berlin - Isobel Merchan: Obdachlosenzeitungen. Draußen vor der Tür
Seit Anfang der 90er Jahre gibt es sie, und jeder Stadtmensch kennt sie - Straßenmagazine. 42 gibt es inzwischen bundesweit. Allein 18 Magazine wurden in den letzten drei Jahren gegründet. Zusammen kommen die Straßenmagazine auf eine verkaufte Auflage von rund einer Million Exemplaren pro Monat. Klingt nach viel, doch Straßenmagazine verlieren derzeit drastisch an Auflage. "Die Gesamtauflage ist seit 1998 um zehn bis 15 Prozent gesunken", sagt Angela Strobbe vom "Bundesverband Soziale Straßenzeitungen". Vorerst vorbei sind also die Zeiten der Traumauflagen. "Hinz & Kunzt" aus Hamburg erreichte vor rund vier Jahren noch eine verkaufte Auflage von monatlich 100 000 Exemplaren. Jetzt sind es gerade noch 75 000. Von dieser Entwicklung sind alle Straßenmagazine betroffen, und daran ändert auch der traditionell gute Umsatz zu Weihnachten nichts - zu einer Zeit also, in der Menschen ihre saisonale Spendenbereitschaft entwickeln.
Gründe für schwindende Auflagen sieht Angela Strobbe in der veränderten Medienlandschaft und der Fülle von Zeitungen, die derzeit auf dem Markt sind. Konkurrenz bekommen die Straßenmagazine auch von den Gratiszeitungen, die in Innenstädten und vor den Eingängen der U-Bahnhöfe verteilt werden - da, wo auch Obdachlose ihre Blätter anbieten.
Übersättigung und Desinteresse bei den Lesern macht "Hinz & Kunzt"-Chefredakteurin Birgit Müller aus: "Das Sozialinteresse hat einfach nachgelassen". Vor allem die Verkäufer bekommen das zu spüren. Ihnen und ihrem Produkt schenkt keiner mehr so richtig Aufmerksamkeit. Entsprechend verschwunden ist die Motivation vieler Verkäufer, die Magazine überhaupt noch unter die Leute zu bringen.
Tatsächlich ist Verkäufermangel ein großes Problem für Straßenmagazine. Rund 400 registrierte Verkäufer hatte die Stuttgarter "Trott-War" noch vor zwei Jahren. Jetzt sind es gerade noch hundert, zwei Drittel davon Stammverkäufer.
Die Euphorie der Anfangszeit ist vorbei
Erklärungsversuche für den Verkäufermangel gibt es viele. "Die Euphorie der Anfangszeit ist vorbei, viele Obdachlose sind resigniert", sagt Birgit Müller. Denn "die Hoffnungen, die man anfangs mit den Straßenmagazinen verband, haben sich nicht erfüllt." Als Ende 1993 die ersten Straßenmagazine in Deutschland starteten, löste das einen regelrechten Gründungsboom aus. Es entstand eine Bewegung, von der viele Obdachlose hofften, sie könne die Gesellschaft auf Armut und Obdachlosigkeit aufmerksam machen und Diskussionen in Gang bringen, an deren Ende gar Lösungsansätze für diese Problem stehen könnten. Zwar haben viele Verkäufer der Anfangszeit über die Straßenmagazine Wohnungen bekommen und über den Verkauf den Einstieg in andere Jobs geschafft. Mehr aber auch nicht.
Dass die fehlende Attraktivität hausgemacht sei, glaubt dagegen Hildegard Denninger, Geschäftsführerin von "Biss", dem laut Denninger bundesweit einzigen Straßenmagazin, das nicht an Auflage und Verkäufern verliert. Das liege an der guten Verkäuferpflege von "Biss", glaubt sie. "Die meisten Straßenmagazine verwenden zu wenig Geld für die Verkäufer und die konkrete Einzelfallhilfe", ist ihr Vorwurf.
Wichtig sei es, den Verkäufern Perspektiven zu bieten, die über das reine Geldverdienen hinausgehen. Seit 1998 stellt "Biss" Verkäufer fest ein, zwölf haben inzwischen einen festen Vertrag. Durch den Verkauf von monatlich rund 1200 Zeitungen verdienen die "Biss"-Verkäufer 80 Prozent ihres Gehalts (1600 Mark). Die Differenz zwischen Verkaufserlös und Gehalt zahlt das Magazin. Zur finanziellen Entlastung sucht "Biss" nun Paten, die die Differenz tragen. Mit Rudolph Moshammer hat Denninger bereits einen Paten gefunden.
Hausgemachte Probleme
Kritik übt Denninger auch an den ihrer Meinung nach nicht veröffentlichten Bilanzen vieler Straßenmagazine. Diese fehlende Transparenz sorge für Vertrauensverlust bei Verkäufern und Käufern. "Wir veröffentlichen unsere Bilanzen", kontert Dieter Redenz, Vorstand des "Bundesverbandes Soziale Straßenzeitungen" und Vertriebschef von "Hinz & Kunzt". Für Redenz ist das Problem die Motivationslosigkeit der neuen Verkäufergeneration. "Unter den Verkäufern sind heute viele, denen es reicht, ein paar Zeitungen zu verkaufen und schnell an Geld zu kommen." Ihm pflichtet Ulrich Rennpferdt von der Celler Lokalredaktion des "Asphalt-Magazin" aus Hannover bei. Er attestiert den Verkäufern von heute "wenig Durchhaltevermögen".
Das dürfte allerdings auch an den schwierigen Verkaufsmöglichkeiten in den einzelnen Städten liegen. "Durch die Expo und die starke Polizeipräsenz in der Stadt hat sich der Pool unserer Verkäufer deutlich verringert", stellt Michael Prössel vom "Asphalt-Magazin" fest. Der für die Expo umgebaute Hauptbahnhof von Hannover ist inzwischen für die Verkäufer verbotenes Terrain.
In anderen Städten ist der Nahverkehr für die Verkäufer schon längst tabu. Ihnen bleiben nur die Innenstädte, und auch dort wird es immer schwieriger, die Zeitungen loszuwerden. Unlängst schlossen sich Hamburger Kaufleute zusammen, um vermeintliche Bettler aus der City zu vertreiben. Auf Betreiben von "Hinz & Kunzt" wurde eine Regelung gefunden, die Verkäufer dürfen das Blatt weiter in der City feilbieten.
Die große Frage bei den Straßenmagazinen lautet derzeit schlicht: Was tun? "Trott-War" will mit einer Kampagne neue Verkäufer werben. Informationsmaterial über den Verkaufsjob wird gerade an Wohnprojekte und soziale Einrichtungen verteilt. "Außerdem machen wir Veranstaltungen, um Leute zum Beispiel über die Zuverdienstmöglichkeiten zu informieren", sagt Geschäftsführer Uwe Hopf. Einen anderen Weg schlägt "Hinz & Kunzt" ein. Das Blatt hat gerade einen Relaunch hinter sich, will attraktiver werden für die Leser. Das Rezept: Farbdruck, mehr Seiten und eine veränderte thematische Gliederung. Seither hat das Magazin rund 6000 Exemplare mehr verkauft. Ein neuer Trend ist auch die Internet-Präsenz vieler Magazine. Ob das die Magazine aus ihrem derzeitigen Tief herausbringt, wird sich zeigen.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/medien/Medien;art290,2144134
01.04.2000 - junge Welt - Karsten Krampitz: Obdachlose stürmten Berliner Nobelhotel
Von Karsten Krampitz
»Aber natürlich können Sie sich bei uns bewerben. Im Küchenbereich suchen wir sogar Hilfskräfte, dringend!« Manfred Nissen, Geschäftsführer des Kempinski, wirkt sichtlich irritiert. Gerade eben ist sein Etablissement von 50 Leuten gestürmt worden, darunter 30 Obdachlose. Zwei von ihnen nutzen im Chaos die Gelegenheit zum Bewerbungsgespräch. Nissen, anfänglich eher ungehalten, zeigt Contenance. »Herrschaften, ich bitte Sie. Wir sind doch keine Kirche.«
Unter dem Motto »Es sind noch Betten frei!« hatte das Obdachlosenmagazin strassenzeitung in Berlin für Freitag vormittag zur Besetzung des Kempinski aufgerufen. Die parteiunabhängigen Jungdemokraten und die libertäre Gewerkschaft FAU-IAA schlossen sich an. Grund des Aufruhrs: das alljährliche Ende der sogenannten Kältehilfe. Mit dem 31. März schlossen in der Hauptstadt elf der 21 kirchlichen Notübernachtungen, die ohne Ausnahme von den Bezirksämtern finanziert werden. Standen bis dato für - nach Senatsschätzungen - 2 000 bis 4 000 »auf der Straße lebende Menschen« wenigstens 347 Betten bereit, so sind es mit dem 1. April nur noch 162 Plätze. Ende diesen Monats werden auch die übrigen Einrichtungen der Vergangenheit angehören. Nicht unerwähnt bleiben sollen die sogenannten Nachtcafés, von deren 20 gleichfalls zehn ihren Betrieb einstellen. Nur dem Namen nach erinnern sie an gepflegtes Ambiente. In der Regel schlafen die Unbedachten dort auf Iso-Matten. Und das auch nur einmal pro Woche, weil sich die das Projekt tragenden Kirchen abwechseln.
»In Notunterkünften sind Obdachlose nicht nur vor Kälte, sondern auch vor den Repressalien privater Sicherheitsdienste und der Gewalt von Neonazis geschützt«, so Marek Voigt, Landesvorsitzender der JungdemokratInnen/Junge Linke. »Mit der Aktion wollen wir auf die zunehmende Ausgrenzung Obdachloser aufmerksam machen und mehr Unterstützung für selbstverwaltete Notübernachtungen fordern.«
Mittlerweile sind Hotel-Happenings bei der strassenzeitung (deren Notübernachtung nicht einen Pfennig staatlicher Zuschüsse erhält und trotzdem geöffnet bleibt) ein lieb gewordener Brauch. Aus gleichem Anlaß haben die Akteure im vergangenen Jahr das Adlon-Hotel besucht. Für immerhin 15 Minuten hielten sie medienwirksam das Foyer besetzt. Gestern war die Polizei zwar schneller vor Ort, doch erst nach 20 Minuten konnte sie die Störer aus der Halle drängen. Besondere Verdienste erwarb sich dabei der Portier. Der Mann erstattete erst Anzeige wegen Beleidung - er sei »Penner« gerufen worden - und eine halbe Stunde darauf, die Besetzung war längst beendet, glaubte er sich an Gewalttätigkeiten zu erinnern. Der Beschuldigte, namentlich Oliver Liga (obdachlos, Gewichtsklasse unter fünfzig Kilo), kam umgehend in staatliche Obhut und erst zum späten Nachmittag frei. Alles in allem gab es drei Anzeigen (Hausfriedensbruch etc.) und zwei Festnahmen. Wie eingangs erwähnt, haben aber tatsächlich zwei Wohnungslose eventuell einen Job gefunden. Was für ein Tag!
09.02.2000 - Junge Welt - Karsten Krampitz: Wer schützt und vor dem Wachschutz?
Trauerfeier für Obdachlosen auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße
»Ich bin der Herr, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden. Jeremia, Kapitel 9, Vers 23.« Für einen Moment hält Pfarrer Grützmann inne. Er zeigt kaum Verwunderung über die Trauerfeier der etwas anderen Art. Gut fünfzig Leute sind gekommen: Obdachlose, Jungdemokraten, Sozialarbeiter und andere. Nicht zu vergessen der Bundesgrenzschutz. Eine halbe Hundertschaft sorgt diskret für Einkesselung, die üblichen Aufforderungen zum Verlassen des Geländes bleiben jedoch aus.
»Wir wollen suchen den Weg der Gerechtigkeit, die aus dem Herzen kommt, eben Barmherzigkeit«, sagt der Pfarrer der Sophiengemeinde Berlin-Mitte. Mit Barmherzigkeit spricht er diejenigen an, die nach gültigem Recht, aber nicht rechtens handeln - Polizei und private Sicherheitsfirmen.
Ohne Pathos und Gitarre singen die Liedermacher Bettina Wegner und Karsten Troyke »Eine Rose« für Willi. Wahrscheinlich hatte er einen anderen Namen, in der Szene aber kannte man ihn nur als Wilhelm King. In der Nacht vom 23. zum 24. Januar starb der 58jährige unweit des Bahnhofs Friedrichstraße an den Folgen einer Lungenentzündung. »Willi ist ganz jämmerlich verreckt«, heißt es in einem Flugblatt.
Die »strassenzeitung«, deren Verkäufer King war, aber auch der parteiunabhängige Jugendverband JungdemokratInnen/ Junge Linke (beide hatten zur Trauerfeier aufgerufen), werfen dem Sicherheitsdienst der Bahn AG unterlassene Hilfeleistung vor. So hätten die Wachschützer einen Rettungswagen oder zumindest den Kältebus der Stadtmission rufen müssen, dessen Fahrer die notwendigen Schritte eingeleitet hätte.
Einer der Redner, Freke Over (MdA/PDS), fordert gemeinsam mit den Veranstaltern »das Ende der Normalität der Vertreibung Obachloser und den Zugang für alle Menschen zu öffentlichen und halböffentlichen Räumen, unabhängig von Fahrkarte oder Kaufkraft!«
Noch immer wird soziale Armut als ein ästhetisches Problem begriffen, daher dienen die Wachdienste mehr der »Sauberkeit«, denn der Sicherheit. »Wer schützt uns vor dem Wachschutz?« fragt ein Transparent. Niemand. Grundrechte, wie das auf körperliche Unversehrtheit, werden mit Verweis auf das Hausrecht der Bahn AG mit Füßen getreten.
Der Tod von Willi King läßt aber auch ein anderes Problem deutlich werden: Wer wohnungslos ist, muß nicht unbedingt obdachlos sein. Willi King jedoch machte weder Gebrauch von der Notübernachtung der strassenzeitung noch von den Hilfsangeboten der Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Deren Auslastung beläuft sich derzeit auf maximal 80 Prozent, gleichwohl nur 814 Betten, beziehungsweise Isomatten vorhanden sind - das für offiziell 2 000 bis 4 000 Menschen, die nach Senatsschätzungen in Berlin auf der Straße leben. Warum also wird die Hilfe von vielen Betroffenen nicht angenommen.
Eine Diskussion dazu unter den Akteuren der Sozialfürsorge, die den Bedürfnissen und der Mitsprache der Obdachlosen Rechnung trägt, steht noch immer aus.
Karsten Krampitz
13.10.2000 - Freitag - Detlev Lücke: Bräute aus der Provinz
Am Samstagabend ist die U-Bahn voll. Man lässt das Auto zuhause stehen und rollt erwartungsfroh in die City. Im Bahnhof Turmstraße steigt eine Horde junger Mädchen ein. Eigentlich sind es junge Frauen. Aber sie benehmen sich wie durchgedrehte Backfische. Sie erinnern an Fußballfans in einer fremden Stadt: Gruppendruck, Stimmungsventile, Gegröhle, das nach Aufmerksamkeit der Einheimischen heischt. Die jungen Frauen tragen Brautschleier im Haar. Bräute aus der Provinz. Sie sprechen den hellen Dialekt aus Nordwestdeutschland, dessen Hochdeutsch immer leicht ins Blecherne changiert. Zwei von ihnen ziehen durch den Waggon und fangen an, die Leute um eine Mark anzugehen. Sie finden das außerordentlich lustig. Vielleicht wollen sie auch einmal auf der abgewandten Seite des Lebens wandeln, so wie sie da gut frisiert, gut gewaschen und gut angezogen aus Walsrode oder Osnabrück in die Hauptstadt gekommen sind. Die Passagiere reagieren abweisend. Zwei ältere Polinnen, die mir gegenübersitzen, behaupten: »Nje rasumejemy.« Wir verstehen nicht. Was vermutlich nicht stimmt.
Ich verstehe das Ganze auch nicht und blicke angestrengt in den Tunnel. »Aus dem Fenster sehen gilt nicht«, schreit mich im waggonfüllenden Diskant eine der Bräute an. Etwas humorlos antworte ich ihr: »Hier betteln jeden Tag Leute auf der U 9, die es bitter nötig haben. Sie tun das nicht ganz so ver gnügt wie ihr.« Eine Antwort der gefühlsmäßigen correctness, aber wahrscheinlich doch der falsche Ton gegenüber dieser geballten Harmlosigkeit. In der anderen Ecke spendiert ein Touristenehepaar eine Mark. Jubelndes Gekreische. Eine Sektflasche knallt auf. Die Mädchen haben Mutprobe und Wette gewonnen. Am Bahnhof Zoo entfernen sie sich laut schreiend in Richtung Hardenbergstraße.
Auf dem Bahnsteig schleicht jener schmale Typ herum, der sommers wie winters Sandalen ohne Strümpfe trägt. Er sucht wie immer Zigarettenkippen. Ein älterer Kerl schreit hinter den Sicherheitsleuten her, die durch die Wagen patrouillieren: »Fünf Meter höher sollten se de Mauer baun. Und denn oben Deckel druff.« - »Und du diesmal im Osten«, entgegnet ihm ein Altersgenosse. Der Blöker glotzt blöde.
Auf dem Fernbahnsteig erwarte ich die Ankunft des Interregio aus Oberstdorf. Er hat einige Verspätung. Am Kiosk erstehe ich einen Kaffee zu astronomischen Preisen. Am Nachbartisch steht ein Afrikaner, roter Jogginganzug, rotes Basecap. Plötzlich tauchen zwei Bundesgrenzschutzbeamte auf. Grüne Uniformen mit weißen Mützen. Die Mützen erinnern an die Kopfbedeckungen des KD (Kommandantendienstes), den Kettenhunden der Nationalen Volksarmee, wie sie dort selbstverständlich genannt wurden. Als der Autor Wiglaf Droste kürzlich die Feldjäger der Bundeswehr mit diesem ebenso historischen wie leider auch aktuellen Ausdruck bezeichnete, wurde er gerichtlich belangt. Die BGS-Leute bauen sich vor dem Schwarzen auf, verlangen seine Papiere. Er gibt ihnen eine Legitimation, die wie ein Zettel aussieht, mit seinem Passbild oben links. Der kleinere der Beamten, ein Typ wie Roland Koch, wenn er bei der Stasi gewesen wäre, glotzt auf das Papier, liest es immer wieder, als ob er noch unentwegt etwas Neues entdecken will. Natürlich gibt er das Dokument nicht zurück. Ein Déjà-vu-Erlebnis für mich. Als ich auf dem Bahnhof Salzwedel 1971 verhaftet wurde, stierte der Trapomann minutenlang in meinen Personalausweis, blätterte ihn hin und her, bevor er ihn wegsteckte. Vielleicht lernt man so was auf den Polizeischulen in aller Welt. Es ist erbärmlich. Der Afrikaner steht da wie ein Lamm Gottes, schafsgeduldig und in sein Schicksal ergeben. Einige Passanten bleiben stehen, denken wie ich naiv, sie könnten den Grenzschützer durch Beobachtung verunsichern. Der liest und knittert. Plötzlich klingelt im Jogginganzug des Afrikaners ein Handy. Er telefoniert. Lacht. Kann sich mitteilen. Das gefällt den Ordnungshütern überhaupt nicht. Sie führen ihn ab. Wollen nicht, dass sich Umstehende mit ihm über den fernen Kommunikationsgehilfen freuen.
Der Zug läuft ein. Der Sohn kommt von der Klassenfahrt aus Bayern zurück. Ich kaufe schnell noch einem Straßenverkäufer die neueste Obdachlosenzeitung ab, weil er mir leid tut, wie er da zum tausendsten Mal seine Bettellitanei herunterbetet. »Die zwei Mark hätte ich auch gut gebrauchen können«, meldet sich der Sohn dringlich in der Heimat zurück. »Dir geht es eigentlich ganz gut«, sage ich leise und erzähle ihm nichts von jenen Erlebnissen, die meine Wiedersehensfreude verunsichert haben.
09.05.2000 - taz - Wladimir Kaminer: Kriminelle Aktivitäten an der U-Bahn Schönhausser Allee (über Strassenzeitungsverkäufer)
intershop - WLADIMIR KAMINER über Teamarbeit
KRIMINELLE AKTIVITÄTEN AN DER U-BAHN SCHÖNHAUSER ALLEE
Am U-Bahnhof Schönhauser Allee versammeln sich ständig verdächtige Personen. Sie sehen so aus, als ob sie gerade eine Straftat planen würden oder bereits eine begangen hätten und nun auf der Flucht seien. Sie laufen nervös hin und her, schauen ständig auf die Uhr und rauchen wirklich pausenlos. Viele sehen auch selbstmordverdächtig aus. Sie stehen am Rand des Bahnsteigs und beobachten aufmerksam die unter tödlichem Strom stehende Schiene.
Zum Glück kommt alle fünf Minuten ein Zug und entführt dieses scheinbar kriminelle Publikum von der Schönhauser Allee weg - ins Grüne: in Richtung Ruhleben. Dort brau-chen sie nichts zu befürchten.
Auf diese Weise wird immer wieder eine beruhigende Bahnsteigökologie hergestellt. Ich benutze jeden Tag diese Linie und muss leider feststellen, dass diese harmonische Be-ziehung zwischen den Zügen und den Kriminellen nicht immer funktioniert. Manche stei-gen in den Zug gar nicht ein, und manche steigen aus dem Zug nie aus.Wie kann man sonst die Tatsache erklären, das ich drei Tage hintereinander zu den verschiedensten Tageszeiten jedesmal mit denselben vier Typen zusammen in einem Abteil hin und zu-rück fuhr?
Das Ganze sah aus wie eine dreitägige Theatervorstellung an der Volksbühne. Du kannst in die Kantine gehen, ein Bier trinken oder gar am nächsten Tag zurück kommen - die Schauspieler sind immer noch da.
Genau so war es auch im Zug. Den einen kenne ich bereits eine Weile - ein ganz harm-loser. Das ist der Typ, der immer die Stationen nachplappert und "Zurückbleiben" ruft. Der Arme hat sich irgendwann einmal eingebildet, er sei ein ehrenamtlicher BVG-Mitarbeiter, und muss nun den Passagieren helfen, indem er die unverständlichen An-sagen, die vom Band kommen, wiederholt. Manchmal kommentiert er auch auf unkon-ventionelle Weise den einen oder anderen Namen der jeweiligen U-Bahn-Station.
Mein zweiter ständiger Begleiter ist ein betrunkener Türke in einem schicken Ledermantel, der alle verspotten will.
Und dann noch ein kleines Mädchen mit einem riesengroßen Hund, das ständig mit der Leine um sich schlägt und "Sitz!" schreit.
Schließlich gibt es noch den Obdachlosenzeitungverkäufer Martin, der besonders viel Wert darauf legt, das alle seinen Namen wissen. "Ich bin der Martin", fängt er immer an, wenn ein neuer Fahrgast einsteigt, als ob das an der Sache irgendetwas ändern würde.
Manchmal denke ich, das Quartett arbeitet zusammen. Es ist ein klassisches Team. Nur, worauf sie hinaus wollen, ist bis jetzt noch unklar.
Der Türke verspottet alles und jeden, der Martin sammelt Geld, das Mädchen passt dar-auf auf, das sich keiner im Abteil bewegt, und der Verrückte informiert uns über den ak-tuellen Stand der Reiseroute. Sie sind ganz deutlich ein Team.
Manchmal improvisieren sie urplötzlich eine kleine Auseinandersetzung. Neulich nahm z.B. der Türke den Martin aufs Korn. Jedesmal, wenn der Zeitungsverkäufer zu reden anfing, wurde der Mann im Ledermantel laut und hänselte in seine Richtung. "Halts Maul!", hustete schließlich das kleine Mädchen mit dem Hund den Türken an. "Meinst du, der macht es aus Spaß? Guck dir den Mann an, er hungert. Und du Arschloch hast kein Gewissen." Der Türke stand auf und ging zu dem Martin hin. "Wie viel haste von dem Zeug?", fragte er ihn. "Fünfundzwanzig Stück", antwortete Martin. Der Türke holte 50 Mark aus der Hosentasche und kaufte ihm den ganzen Stapel ab. Danach drehte er sich um und sagte laut: "Guten Tag, ich bin der Mehmet, und nun kriegt jeder eine Zei-tung umsonst!" Zum Glück musste ich gerade aussteigen.
in taz-Berlin: S.21 * Kolumne taz Nr. 6137 vom 9.5.2000 Seite 19 Berlin 123 Zeilen Kommentar WLADIMIR KAMINER © Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
- 1999.11.11. - Tagesspiegel - Tobias Arbinger: Belästigung oder nicht?
- 1999.04.01. - Die Welt - Valerija Bacic - 25 Obdachlose wollten ein Bett im Hotel Adlon
- 1999.01.26. - Berliner Kurier - kah - Bahn AG verklagte Zeitungsverkäufer
- 1999.01.23. - taz - Uwe Rada: Und morgen? (Prozeß gegen einen Verkäufer der Strassenzeitung)