30.07.2003 - taz Bremen - Aletta Rochau: Vom Erfolg in die Krise gefegt
Einst waren es 40, jetzt sind es nur noch drei Menschen, die in der Bremer City die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger" verkaufen - der Grund: zu wenig Reklame
Der Straßenfeger steckt in der Krise. Die einzige Obdachlosenzeitung in Bremen leidet unter sinkenden Verkaufszahlen. Von einst 10.000 Exemplaren werden in der Söge- und Obernstraße vor Karstadt nur noch rund 500 im Monat verkauft.
Vertriebschef Christian Schellert meint, die aktuelle Entwicklung hänge mit der fehlenden Reklame zusammen. Und weniger Werbung bewirkt weniger Verkäufe. Seit 1998 gibt es den Straßenfeger in Bremen. Während früher 40 Obdachlose, Arbeitslose und Bedürftige die Zeitung verkauften, sind es heute nur noch drei.
Die Zeitung mit einer Gesamtauflage von 15.000 Exemplaren wird von dem Berliner Verein "Obdachlose machen mobil" (mob e.V.) gemacht. Der Verein hat sich die Verbesserung der Lebensumstände von gesellschaftlich Benachteiligten und Ausgegrenzten auf die Fahnen geschrieben. Der Straßenfeger verstehe sich als Forum und Sprachrohr für Obdachlose und von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen. Die Verkäufer sollen sich aus den Erlösen des Straßenfegers selbst aus ihrer Situation heraushelfen - das Geld sei nicht dazu da, wie Schellert sagt, "um zum Kiosk zu gehen und sich die nächste Pulle zu holen." Schellert behauptet, dass schon 32 Verkäufer in Bremen wieder einen festen Wohnsitz hätten, dank des Straßenfegers. In Bremen sind laut Sozialressort derzeit 200 Menschen obdachlos.
Die Zeitung aus Berlin berichtet längst nicht nur über soziale Themen, sie bietet auch Artikel zu Freizeit und Lifestyle. Für Obdachlose gibt es überdies Informationen und Tipps beispielsweise zum Sozialhilfegesetz. Nachteil für Bremen: Die Zeitung hat keinen Lokalteil. Christian Schellert könnte selbst schreiben, er will aber nicht. Dennoch: "Mitmachen kann jeder."
Der Straßenfeger wird von journalistisch Interessierten gemacht, ein paar Profis sind auch dabei. Die Zeitung kostet 1,30 Euro. Davon behält der Verkäufer 60 Cent. Vom Rest wandern 50 an den Herausgeber mob e.V. in Berlin. 20 Cent bleiben in Bremen.
Verkaufen kann jeder und jede. Aber er oder sie muss sich an Regeln halten: Verboten sind der Verkauf im berauschten Zustand und in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Belästigung oder gar Bedrohung von Passanten und Kollegen. Daneben gilt für Schellert, der früher selbst obdachlos war, das ungeschriebene Gesetz: "Wer sitzt, verkauft nicht", sondern lasse vielmehr zu, dass Menschen auf Verkäufer und Straßenfeger herabblicken.
Aletta Rochau
Mehr Infos unter www.strassenfeger-berlin.de. Wer redaktionell mitmachen möchte, meldet sich bei
taz Bremen Nr. 7117 vom 30.7.2003, Seite 22 TAZ-Bericht Aletta Rochau
Kommentar (Stefan Schneider):
Ganz genau hat Frau Rochau dann wohl doch nicht recherchiert. Vielleicht hat Christian auch ein wenig übertrieben. 10.000 Exemplare wurden vom strassenfeger in Bremen nie verkauft. Bestenfalls in Spitzenzeiten 2.000 Exemplare, im Durchschnitt eher 1.000 Exemplare. Und wir hatten auch keine 40 VerkäuferInnen, bestenfalls 15 - 20 Leute, aber eher 10. Und kleinere Gruppen sind ohnehin nicht so stabil.
Anyway: Bremen ist und bleibt - trotz Schwankungen - ein wichtiges kleines Standbein vom Strassenfeger.
03.06.2003 - taz - MAD: obdachlosenzeitung in der Krise
Was die "Motz" von der "Welt" lernen kann
Drei Vorbilder für ein Halleluja
In ihrer aktuellen Ausgabe ruft die Berliner Straßenzeitung Motz zu Sach- und Geldspenden auf. Die Lage sei akut, berichtet der Geschäftsführer, Bernd Braun. Wird das Obdachlosenblatt ein weiteres Opfer der Medienkrise oder ist es noch zu retten? Lösungsmodelle für krisengeplagte Zeitungen gibt es in Deutschland inzwischen zuhauf. Welcher wäre auch für die Motz geeignet?
Vorbild 1: "Die Welt"
Die Welt ist an sich perfektes Vorbild für die Motz. Beide sind Zuschussgeschäfte. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass von der Motz nie erwartet wurde, dass sie irgendwann schwarze Zahlen schreibt. Die Motz soll sich stattdessen durch das Geld finanzieren, das ihre MitarbeiterInnen mit Umzügen und Entrümpelungsaktionen verdienen. Eine Querfinanzierung also, wiederum genau wie bei der Welt. Auch das konservative Flaggschiff aus dem Haus Springer wird durch eine journalistische Form der Entrümpelung finanziert, durch die Boulevardblätter Bild und B.Z. Die Ähnlichkeit im Finanzierungskonzept ist aber auch der Grund für die begrenzte Vorbildtauglichkeit des Springer-Konzerns. Auslöser der Krise ist in beiden Fällen der Zusammenbruch des Neuen Marktes. Seitdem funktioniert die Querfinanzierung bei Springer wegen des Anzeigeneinbruchs nicht mehr. Bei der Motz ist das Umzugsgeschäft von einem Tag auf den anderen eingeknickt. "Alle Leute, die vorher mit Hilfe der Motz von kleinen Wohnungen in große gezogen waren, sind wieder in kleinere zurückgezogen - aber mit ihren Freunden und umsonst", sagt Bernd Braun, Geschäftsführer der Motz.
Vorbild 2: "Der Tagesspiegel"
Die Motz könnte beispielsweise mit der Stütze oder mit der Straßenzeitung fusionieren, das Anzeigengeschäft und den Vertrieb zusammenlegen. Erste Gegenfrage: Welches Anzeigengeschäft? Zweite Gegenfrage: Vertrieb zusammenlegen? Unmöglich! Die Verkäufer von Straßenzeitung und Motz würden sich weigern, miteinander zu arbeiten. Das kann jeder bestätigen, der schon mal eine der beiden Zeitungen mit dem Hinweis nicht gekauft hat, die andere bereits erworben zu haben: "Wissen Sie überhaupt, wie die arbeiten? Mafia, Drückerkolonne ..." Dritte Gegenfrage: Was ist mit der Ministererlaubnis?
Vorbild 3: "Frankfurter Rundschau"
Die Motz könnte sich mit Bürgschaften vom Land Berlin finanzieren. Sie müsste ihre bisherige Finanzierungsform - die Motz Dienstleistungs GmbH, die die Umzüge organisiert - aufgeben. 17 fest angestellte Mitarbeiter könnte Wowereit mit geringem finanziellem Aufwand ... äh, okay, schon gegessen. Dagegen spricht aber auch, dass die Redaktion ihre Unabhängigkeit behalten möchte.
MAD
31.03.2003 - Berliner Zeitung - Stefan Strauss: Wer zieht auf den Helmholtzplatz?
Anwohner und Bezirk streiten um Nutzung des sanierten Trafohäuschens
PRENZLAUER BERG. Schick sieht es aus, das sanierte Trafohäuschen auf dem Helmholtzplatz. 180 000 Euro hat der Senat bezahlt, damit die Kiezbewohner das Gebäude als Gemeinschaftshaus nutzen können. Noch vor Ostern will Umweltstadtrat Mathias Köhne (SPD) entscheiden, wer das Trafohaus beziehen soll.
Aus zwei übrig gebliebenen Bewerbern will Stadtrat Köhne jetzt auswählen: ein Modeladen für recycelte Kinderbekleidung mit Aktionsgalerie oder eine kleine, privat betriebene Sommerbibliothek mit Café-Betrieb, Liegestühlen und Strandkörben. Doch die Betroffenenvertretung Helmholtzplatz hat andere Vorstellungen über den künftigen Nutzer. Aus deren Sicht hätte ein Bewerber das Trafohaus erhalten sollen, der sich mit sozialen Randgruppen auskennt - der Obdachlosenverein Mob e.V. Der Pankower Verein, der eine Straßenzeitung herausgibt, eine Übernachtungsstätte, ein Obdachlosencafé und einen Trödelladen betreibt, wollte im Trafohäuschen einen Probenraum schaffen und zahlreiche Kulturveranstaltungen organisieren. Doch Ende Februar erhielt der Verein die Ablehnung aus dem Bezirksamt. "Sie gehören nicht zum ausgewählten Favoritenkreis", teilte Köhnes Amt Mob e.V. mit.
Die Betroffenenvertretung ist sauer auf den Stadtrat und nennt die Verfahrensweise eine Farce. Zwar habe Köhne nach Protesten der Anwohner ein Interessenbekundungsverfahren eingeleitet, "aber an der endgültigen Entscheidung wurden wir nicht beteiligt", sagt Lore Weber von der Betroffenenvertretung. Die Entscheidung des Bezirkes zeuge von mangelnder Sensibilität gegenüber den sozialen Belangen auf dem Platz. Der Helmholtzplatz gilt seit Jahren als Treffpunkt für Alkoholiker. Die Betroffenenvertretung hätte sich gewünscht, dass im Trafohaus auch Angebote für einkommensschwache und ältere Menschen geschaffen werden - und eben auch für die Trinker, sagt Lore Weber. Nun würden kommerzielle Nutzer das teuer sanierte Trafohaus nutzen. Dabei stünden im Viertel um den Helmholtzplatz genügend Läden leer.
Umweltstadtrat Köhne verteidigt seine Entscheidung: "Die sozialen Probleme auf dem Platz werden nicht durch das Trafohaus gelöst." Der zuständige Quartiersmanager Heinz Lochner teilt diese Auffassung. "Es kann nicht das Ziel sein, den Platz für Trinker attraktiver zu machen", sagt er. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, eine Jury hätte entschieden, was aus dem Trafohäuschen wird. Die Betroffenenvertretung fordert jetzt, die Entscheidung des Bezirks rückgängig zu machen und eine einheitliche Planung für den Helmholtzplatz zu suchen. Ein Runder Tisch soll einberufen werden, denn schon bahnt sich ein neuer Konflikt an. Denn auch das Platzhaus neben dem Trafohaus soll neu vermietet werden.
"An der Entscheidung wurden wir nicht beteiligt. " Lore Weber Betroffenenvertretung
31.03.2003 - Berliner Zeitung, Stefan Strauss, Lokales - Seite 24
01.03.2003 - WortBildTon - Mareke Aden: Willste mal drei Strassenzeitungen?
Bernd Braun von der Motz erklärt die Diversifizierung der Szene so: „Eine Straßenzeitung hat vor allem eine Ausstrahlung auf besonders sture, dickköpfige, empfindliche Leute“, sagt er. Da könnten unterschiedliche Geschmäcker zu Zerwürfnissen führen, besonders da dies bei einer Straßenzeitung selten den Verlust eines bezahlten Arbeitsplatzes bedeutet.
Das mit dem „Zerwürfnis“ spielt darauf an, dass vor etwa fünf Jahren aus einer Straßenzeitung zwei wurden. Die Motz blieb, der Strassenfeger kam hinzu. Idealistisch bleiben stand gegen ein wenig kommerzieller und politischer werden. Der Strassenfeger hieß zwischendurch auch mal Straßenzeitung und hat bundesweite Ambitionen. „Die haben damit alle geärgert“, berichtet Kellner vom Bundesverband. Die Vertreter des Fegers sagen, der Richtungsstreit sei, ob man „mit der Jammernummer Einnahmen erzielen will“ oder ob man „politisch und gleichzeitig wirtschaftlich arbeiten möchte“. Jemand, der bei dem letzten großen Treffen vor der Spaltung dabei war sagt dagegen: „So groß war der Unterschied gar nicht.“ Größer sei er tatsächlich nur durch Sturheit und Dickköpfigkeit geworden.
Auf die Spaltung folgte 2000 die Gründung einer dritten Zeitung. Die Stütze ist das Feuilleton unter den Berliner Straßenzeitungen. „Es ging um das Inhaltliche“, mit ein paar neuen Schreibern wollten die Macher in die kulturelle Straßenzeitungs-Nische. Die Herausgeber der Berliner Blätter finden die Dreifaltigkeit nicht befremdlich. Das liegt daran, dass man mit den Zeitungen selbst ohnehin kein Geld machen kann. Alle drei Zeitungen brauchen noch ein zweites Standbein, zumindest Spenden wie die Stütze. Die Belegschaft der Motz entrümpelt auch und verkauft gebrauchte Bücher, sie hat zu diesem Zweck eine Dienstleistungs-GmbH gegründet. Der Strassenfeger verkauft Trödel.
Um staatliche Unterstützung konkurrieren die drei Zeitungen auch nicht - sie wollen keine. „Wir würden als Selbsthilfeprojekt nicht Ernst genommen werden“, sagt Bernd Braun von der Motz. Leute, denen der Selbstrespekt abhanden gekommen ist, sollten merken, dass man auch ohne Hilfe von außen Erfolg haben kann. „Außerdem würden wir längst nicht mehr existieren, wenn wir auf die Stadt Berlin angewiesen wären“, sagt er.
Wer weder um das große Geld, noch um staatliche Unterstützung kämpft, wer also seine Nebenbuhler so wenig zu fürchten hat, kann getrost behaupten: „Konkurrenz belebt“. Die Zeitungsmacher schauen genau, wie die anderen sich verändern. Stefan Schneider zum Beispiel, einer der drei Vorsitzenden des mob (obdachlose machen mobil), der den Strassenfeger herausgibt, weiß genau, wie die Zeitung nie sein soll: Wie die Stütze.
Die glänzt seidenmatt und ist gebunden wie ein Magazin. Der Stil ist nicht sozialengagiert, eher philosophisch angehaucht: Zur Bedeutung von Liebe, Tod und Rausch. Es gibt Fotostrecken. Die jüngste Ausgabe haben zwei Design-Studenten auf Vogue getrimmt. Die Bilder sehen so aus wie in der Modezeitschrift – wenn die Models nicht obdachlos wären. Die Posen der Models sind nachgestellt, auch die Vogue-Untertitel belassen. „Silbern glitzerndes Minikleid, reich verziert mit Perlen, Pailletten, Glassteinen und Schmuckstücken, um N 7000“ steht unter einem Mann mit weißem Rauschebart und Kippe in der Hand, der sich in die Kamera dreht und den Mund leicht geöffnet hat. Witz darf sein, Kultur auch: Das Obdachlosentheater „Ratten 07“ probt die Räuber. Chefredakteur Stephanus Parmann bespricht das Buch „Die Spinne auf der Haut“, das von der wahren Mode Obdachloser handelt. „Eklige Tiere, Eisen und extreme Haartrachten symbolisieren nach außen Aggressivität. Sie dienen ihren Trägern als Schutz und signalisieren: ,Fass mich nicht an!“ Viele Artikel haben gar nichts mit Obdachlosigkeit zu tun: ein Frida Kahlo-Porträt, das Neuste vom französischen Film.
So will der Strassenfeger also nicht sein. Wie dann? Angemessen altpapiern, „das passt zu unserem Image“, kritisch und engagiert. Die Artikel sind gut recherchiert und geschrieben, zum Teil von ausgebildeten Wissenschaftsjournalisten. Es gibt immer Ratschläge, Tipps und Tricks. In der letzten Augustausgabe ist ein Musterbrief abgedruckt, mit dem man die Einrichtung eines Girokontos einfordern kann. Das Gerichtsurteil, das den Anspruch begründet, wird auch erklärt. Ansonsten ist das Blatt monothematisch: Diesmal ist die Hanfparade das Monothema. Zur Vereinbarkeit von Marihuana und Arbeit („Macht kiffen blöd?“), ein Plädoyer für drogenfreie Wärmestuben und Teil II eines Interviews mit dem Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele über die Drogen-Legalisierung.
Die älteste und bekannteste Straßenzeitung, die Motz, ist das Hardcore-Obdachlosenmagazin. „Parteiisch, authentisch, ungeschminkt, life“ steht im Untertitel. Neben dem Geschäftsführer der Motz schrieben und dichteten zuletzt Migo, Moby Dick, Dirk, Rolli, Marco, Sebastian, Paul und Sandy. Viele Artikel beginnen mit den Worten: „Heute möchte ich mal berichten von.“ Dem Jüdischen Museum und den Berliner Wärmestuben sind zwei Serien gewidmet. Paul beschreibt in „Szenen einer Stadt“, wie einer in der U-Bahn „seinen Nasenschleim rasselnd in den Rachen“ saugt.
Klientel der Motz ist nicht der U-Bahn-Fahrer, der die Zeitung liest, sondern alle, die in ihr schreiben und sie verkaufen. Marktwirtschaftlich betrachtet ein gewagtes Konzept. Im Frühjahr stand die Motz vor dem Konkurs, weil das Entrümpelungsgeschäft in der Konjunkturkrise nicht mehr läuft. Die Stütze präsentierte zeitgleich eine ausgeglichene Bilanz 2002, der Strassenfeger gab bekannt, dass die Auflage diesen Sommer auf dem hohen Winterniveau geblieben sei. Aber marktwirtschaftlich will man nicht unbedingt sein.
01.02.2003 - Kreuzberger Chronik -Hans W. Korfmann - Schach in der Wärmestube
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Es ist Mittwoch, kurz vor zwei, im gutgeheizten Vorraum der Heilig-Kreuz-Kirche werden Stullen gereicht mit Schinken, Wurst und Käse. Eine Frau geht um und füllt Kaffee in die leeren Tassen, Teller mit dampfender Suppe werden ausgeteilt. Die Stimmung ist gut, es wird gelacht und erzählt, man ißt und trinkt, es ist wie auf einem großen Kaffeekränzchen.
Aber Herbert ist der Gang in die Wärmestube schwergefallen. Für ihn ist es das unterste Ende der Leiter. Es ist noch gar nicht lange her, da saß er in Kneipen und Restaurants, hatte seinen Job, seine Frau, seinen Rhythmus … – Jetzt hat er nur noch eins: unendlich viel Zeit. Und dann kam der Tag, da reichte das Geld gerade noch für einen Kaffee zum Aufwärmen, zum Stück Kuchen und zum ausgiebigen Zeitunglesen. Die Kellnerin kannte ihn schon und wußte, daß er den halben Tag sitzen und lesen würde, sämtliche Stellenangebote. Kaum saß er, brachte sie ihm die Tageszeitungen. Aber irgendwann war auch dieses Geld knapp geworden. Und jetzt steht er zum ersten Mal in der Wärmestube, weil das Thermometer Minus 11 Grad zeigt, weil er keine Kohlen mehr hat, und weil sein Geld nicht mehr reicht für einen Platz im Café.
»Ist hier noch frei?« – »Jaja«, sagt der Mann, ein rüstiger Rentner, der am Tisch in der Ecke sitzt und die »Bäckerblume« liest. »Kannst auch ne Stulle haben. Ich hab grade ne Suppe gehabt.« – »Nein danke«, sagt Herbert, »ich wollte eigentlich nur nen Kaffee.« Später dann ißt er die Stullen doch, fünf Stück, hintereinander weg, ohne Pause.
»Hast wohl Hunger, wa?«, fragt ihn der mit der Pudelmütze und beugt sich über die Suppe, die man ihm gerade gebracht hat. Am Nebentisch leckt einer sogar den Teller sauber. »Sind Sie öfter hier?«, fragt Herbert nach den Stullen: »Nö, ich nehm das eigentlich nur in Anspruch, wenn ich’s wirklich brauche«, sagt der mit der Pudelmütze.
Wirklich zugeben, daß man es braucht, tut keiner hier. Sie tun, als säßen sie noch wie früher am Stammtisch oder in der Kantine, machen ihre Witze, philosophieren über Platon oder reden vom Krieg, sie lästern über Frauen oder Männer oder über den zu dünnen Kaffee, der gar nicht zu dünn ist. Sie sind gerade zwanzig oder schon sechzig, sie tragen Fellmützen, Kopftücher, Baseballcaps, Kapitänsmützen und mondäne Hüte, Lederjacken, Felljacken und Jacketts, sie kommen in Kniebundhosen mit Wanderschuhen oder in Pumps und Rüschenblusen. Sie sehen aus wie alle anderen, auf der Straße, am Imbiß, unterwegs zur Arbeit, im Kaufhaus. Aber jeder hier weiß, daß dort hinten die Kleiderausgabe ist. Und daß alles, was sie hier tragen, für andere wertlos geworden ist. Doch davon sprechen sie nicht.
Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die mittwochs in die Heilig-Kreuz-Kirche zum Kaffeeklatsch kommen. Aber sie fürchten, es zu werden. Deshalb klauen sie heimlich die Stullen und packen sie in ihre Rucksäcke und Plastiktüten. Als Proviant für später. Deshalb drängeln sie sich um den Suppentopf, als wäre da nicht genug für alle. Deshalb füttern sie heimlich den Hund unterm Tisch. Und deshalb beklagen sie sich, wenn der Teller des anderen voller ist als der eigene. Sie kommen immer wieder, jeden Mittwoch. Pünktlich. Einer von ihnen kommt immer um fünf Minuten vor Drei. Kurz, bevor geschlossen wird. Aber zu spät kommt er nie.
»Ich bin jeden Mittwoch hier!«, sagt der Alte mit der Bäckerblume zum Abschied und nickt Herbert zu. Dann nimmt er seine beiden Plastiktüten und die Schallplatte, »Träumereien II«. Und die Bäckerblume. »Sie haben ja noch ihre Wohnung, was? Seh ich Ihnen doch an. Das ist das Wichtigste. Daß man noch ein Dach überm Kopp hat!« Dann steht auch Herbert wieder draußen vor der Kirche, es ist noch ein bißchen kälter geworden. Und in seiner Wohnung, ahnt Herbert, ist es jetzt noch ein bißchen leerer.
Sie heißen, ganz unauffällig, »Evas Haltestelle«, »Kaffee Bankrott« oder »warmer Otto«. Sie nennen sich »Restaurant City-Station«, »Abendcafé« oder »Kiez Café«, und suggerieren mit diesen Namen ein Stück Normalität, sind scheinbar unauffällige Orte in der Stadtlandschaft, verteilt über die gesamte Metropole. Doch es sind die gut getarnten Schlupfwinkel für jene, bei denen es Zuhause, falls es das noch gibt, ungemütlich geworden ist. Und denen eine Stulle mit Schinken und Käse noch etwas bedeutet. Doch Sonntags, wenn andere in ihren warmen Stuben sitzen, und wenn in den echten Cafés und Kneipen Hochbetrieb herrscht, dann sind die Türen der meisten Wärmestuben geschlossen. Und Stullen für umsonst gibt es ohnehin nur selten in der Stadt.
15 Cent kostet der Kaffee in der Tagesstätte am Wassertor, einem von fünf Schlupfwinkeln in jenem Bezirk der Hauptstadt, in dem sich die Lebenswege der Armen statistisch am häufigsten kreuzen. Kreuzberg. Und eine der wenigen Adressen, die auch am Sonntag die Tür nicht verschließen. Frühstück gibt es in der Tagesstätte der Diakonie zwar keines, aber immerhin, es ist warm. Im Treppenhaus schließen zwei ihre Fahrräder mit einer Kette zusammen, auf den Gepäckträgern Isomatten und Rucksäcke, die Reinhold Messner Alpträume bescheren würden. Nicht alle, die hier sind, sind ganz unten auf der Leiter angekommen. Einige von ihnen sind noch unterwegs. »Ich halte es einfach nie lange irgendwo aus!«, sagt der Fahrradfahrer und schleift sein Gepäck die Stufen hinauf. »Egal, was ich anfange: Ich bekomme immer Ärger. Also bin ich auf Achse!«
Oben, im ersten Stock, scheint die Sonne durch die großen Fenster, die Tische sind auch hier, elf Uhr morgens, alle besetzt. Der Raum mit der Schreibtafel und der Pinwand mit dem Informationsmaterial und den bunten Papiergirlanden und den unsterblichen Plastiksonnenblumen, die in Ketten von der Decke herunterbaumeln, sieht aus wie ein Schulraum, der wenigstens zum Fasching etwas fröhlicher aussehen soll. Doch auch echte Blumen stehen am Fenster, einer dieser verstaubten deutschen Gummibäume, zwei große Philodendron, und um das Bücherregal ranken sich einige Lilien. Drinnen liegen dicke Wälzer und erzählen Geschichten von »Helden wie wir!« oder vom »Weg ins Leben«. »Lieb Vaterland, magst ruhig sein« von Mario Simmel, oder »Die Liebe ist nur ein Wort«. Die Botschaften dieser literarischen Werke verbreiten wenig Optimismus, doch es sind einige, die an diesem Sonntagmorgen schweigend in den vergilbten Seiten der Bibliothek blättern.
»Ich würde gern den Abfahrtslauf sehen!«, sagt ein Mann, der gerade hereingekommen ist und seinen Kaffee bezahlt. Denn den Kaffee zahlt man hier im voraus. Er deutet zum Fernseher. »Wann soll denn der sein?«, fragt der Kaffeeverkäufer. »Um Eins!« – »Da gibt’s kein Abfahrtslauf im Fernseher. Da gibt’s hier den Blauen Bock!«
Der Neue setzt sich schweigend neben die Schachspieler, auf ihren längst leeren Kaffeetassen leuchten Blumen in kitschigen Farben. Einer der Spieler hüllt sein Gesicht in dicke Rauchwolken, der andere hat die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, damit der Gegner nicht sehen kann, welche Figur er ins Visier nimmt. Sie überlegen nicht lange, sie kennen das Spiel und sie kennen den Gegner, und sie opfern ihre Bauern wie Napoleon die Soldaten in der Schlacht von Waterloo. Auf dem Spielfeld sind sie Könige. Es sieht schlecht aus um die Dame des Kettenrauchers. Dann springt sein Pferd dazwischen, und alles sieht wieder anders aus. Im Spiel.
Einen Tisch weiter halten vier Männer Karten in den Händen, legen sie auf der Resopalplatte nach Farben und Figuren zurecht. Beim Rommé hat die Welt noch ihre Ordnung. Da verteilt sich das Glück gerechter als im Leben. »Das war meine einzigste Möglichkeit!«, ruft einer. »Wat jammerste denn immer so rum, Mann!« – »Dat is mir anjeborn!«, sagt der mit der einzigsten Möglichkeit.
Vierzig Männer sitzen an den Tischen der Tagesstätte am Wassertor. Frauen sind nur zwei darunter. Das Klima ist ein bißchen rauh hier. Zwei Skinheads sitzen in einer Ecke, Runenzeichen auf der Brust. Hier ist Platz für alle. Auch für die drei Afrikaner, die sich auf einen Kaffee getroffen haben. Sie sind eine Ausnahme, in der Regel spricht man Deutsch in den Wärmestuben. Vielleicht, weil die Fremden, bevor sie auf der Straße landen, wieder zurückgehen in die alte Heimat. Egal, wie mühselig das Leben dort auch ist. Aussichtsloser als hier ist es dort auch nicht.
Die Afrikaner sitzen, etwas abgesondert, am Ende eines Tisches und unterhalten sich angeregt. Neben ihnen sind die Kinder, mit kleinen Zöpfchen und Rastalocken, im Sonntagsstaat, ihre weißen Hemden strahlen, auch ihre großen Augen strahlen noch. Still sitzen sie auf ihren Stühlen, die Beine baumeln in der Luft, und lauschen auf jedes Wort, das die Väter sprechen. Sehen aus, als verstünden sie alles. Es sind schöne Kinder, ihre Augen sind voller Neugierde. Aber sie lachen nicht. Und sie stehen nicht ein einziges Mal auf, um zu spielen.
»Ich hab zwei Joker hier!«, lacht der Kartenspieler. »Das hilft Dir jetzt auch nichts mehr!« sagt der Mann neben ihm. »Hier ist Verlieren angesagt. Haste das immer noch nicht kapiert!«
Inzwischen hat sich noch jemand an den Tisch mit den Schachspielern gesetzt, die Glatze beginnt ein Gespräch. »Ich wollte eigentlich das Skirennen sehen«, sagt er. Und später: »Ich war mal deutscher Jugendmeister im Mehrkampf!« – »Schön!«, sagt der andere, und fügt hinzu: »Ich war mal ganz gut im Wasser, hundert Meter Kraul. Aber weeßte, jetzt stehts mir bis zum Hals!« Dann spricht der Glatzkopf von dem Geschäft und dem Umsatz, den er damit gemacht hat. »Ach weeßte!«, sagt da der andere. »Hier war doch jeder mal was! Oder gloobste, die wärn alle hier jeborn?«
»Schach!«, sagt der Schachspieler mit der Mütze. Zum zweiten Mal hat er den Gegner in die Enge getrieben. Der Neue kratzt sein kahles Haupt: »Jetzt biste matt!« Der Raucher sagt nichts. Dann zieht er den Turm über das gesamte Feld und bietet ebenfalls Schach. Wieder hat er einen Ausweg gefunden. Auf dem Spielfeld. »Darauf wär ich nicht gekommen!«, sagt die erstaunte Glatze. »Du mußt halt noch ne Menge lernen!«, sagt der Raucher.
So schnell ist eben keiner matt hier. Man kennt sich aus mit der Ausweglosigkeit. Im Aufspüren von Hintertürchen. Das hat man lernen müssen. Gleich ist es drei. Dann wird geschlossen. Dann machen sie sich wieder auf die Reise durch die Stadt. In irgendeine andere Wärmestube, eine, die offen hat an diesem Sonntagnachmittag, nach Friedrichshain vielleicht, nach Spandau, oder nach Lichtenberg. Irgendwohin eben, wo noch ein Türchen offensteht.
Fotos: Günter R. Herzel
Quelle: http://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2003/februar/reportage.html
- 2002.09.19. - tagesschau.de - Judith Nafziger: Obdachlose haben meist eine andere Wahl
- 2002.07.13./14. - Märkische Allgemeine Zeitung - Melanie Katzenberger - Blätterwald auf Asphalt
- 2001.01.01. - ddp - Sarah-Mai Dang: Wir lieben uns nach wie vor nicht
- 2000.06.01. - Scheinschlag - Falko Hennig: Pfui Pfarrer Pfliege