Viele ObdachlosenblŠtter haben wirtschaftliche Probleme / Zentralisierung als Ausweg?
Von Martin Busche
Sie heißen trott-war, Parkbank oder Bodo. Statt am Kiosk sind sie in Kneipen oder U-Bahnen zu erwerben: Rund 40 Obdachlosenzeitungen soll es bundesweit geben, schätzen Experten. Viele kommen und verschwinden sang und klanglos wieder. Die genaue Zahl ist Stefan Schneider, Dozent der Berliner Hochschule der Künste, auch egal. "Es sind auf jeden Fall zu viele", glaubt der Wissenschaftler, der der Berliner Obdachlosenzeitung Straßenfeger nahesteht. Ginge es nach ihm, erschiene Ende des Jahres nur noch eine bundesweite Obdachlosenzeitung. "Zentral hergestellt, dezentral vertrieben".
Sein stärkstes Argument sieht Schneider in der Kostenersparnis, die eine bundesweite Zeitung mit sich bringen würde. "Es ist billiger, eine Zeitung 100 000mal zu belichten und zu drucken, als alles 40mal zu tun", schreibt er in einem fünfseitigen Papier, das jetzt allen bekannten Straßenmagazinen zugeht.
Tatsächlich geht es vielen Magazinen ziemlich schlecht. So munkelt man in Insiderkreisen, daß das Hannoveraner Magazin Asphalt Schulden von mehr als 10.000 Mark hat, weil es sich mit seinen 15 Lokalausgaben übernommen hat. Auch in Berlin ist der Konkurrenzkampf hart. Lediglich 60.000 Exemplare vom Straßenfeger werden monatlich gedruckt, 40.000 vom Konkurrenzblatt motz. Nicht viel im Vergleich zu erfolgreichen Magazinen wie Hinz und Kunzt aus Hamburg, das alleine 120.000 Exemplare verkauft.
Kein Wunder, daß die Idee einer bundesweiten Zeitung gerade aus Berlin kommt, in Hannover unterstützt und im kleinen Odenwaldort Essen bereits umgesetzt wird. Der dortige Wohnungsloser hat sich, nach heftigen Streitigkeiten, vom Stammblatt aus Michelstadt abgespalten und versucht nun sein Glück allein. Was schwer fällt, so daß eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Straßenfeger gerade recht kommt. Neuerdings erscheinen beide Blätter unter dem Namen Straßenfeger/Loser gemeinsam. Doch viel mehr Anhänger wird Schneider nicht rekrutieren kšnnen.
Die verschiedenen Zeitungsmacher sind sich spinnefeind und überschütten sich gegenseitig mit Vorwürfen. So glaubt der Berliner Schneider, daß eine Reihe von Zeitungsmachern "journalistisch nicht weitergekommen sind und eher an ihre Interessen als an die der Obdachlosen denken". Andere, wie der Münsteraner Peter Wolter - er gibt das örtliche Blatt draußen heraus -, rügen "die schlechte Qualität vieler anderer Blätter". Er wundert sich nicht, daß die Idee einer bundesweiten Zeitung jetzt aufkommt. "Die Zeitungen sind so schlecht, daß die einfach nicht gekauft werden", glaubt er. Die unstete Arbeitsweise mancher "Hobbyredakteure" und das fehlende Know-how der Schreiber gefährdet seiner Meinung nach den wirtschaftlichen Erfolg der Zeitung und somit auch den sozialpolitischen Nutzen des ganzen Projektes. Deshalb läßt er Obdachlose lediglich als Verkäufer für sein Blatt tätig werden. Das Inhaltliche verantworten er und seine Profiredaktion alleine. "Wir machen keine Zeitung für Obdachlose", ist sein Motto, "sondern über Obdachlosigkeit".
Ähnlich arbeitet auch die Münchener Zeitung Biss - und das recht erfolgreich. Sogar Prominente wie der Fußballspieler Jürgen Klinsmann fordern öffentlich zum Kauf des Blattes auf. Verständlich, daß auch die Münchener Biss-Redaktion gegen die Idee einer bundesweiten Zeitung ist.
Auch Projekte aus Kšln, Kiel und Osnabrück wollen lieber eigenständig bleiben, als sich zu organisieren, haben sie Schneider mitgeteilt. Die restlichen Zeitungen reagieren auf ihre Weise: Gar nicht. Schneider ficht das nicht an. Er glaubt unerschütterlich an seine Idee und wird weiter dafür werben. "Die Gräben sind zwar tief", weiß er, "aber nicht unüberwindbar."
Quelle: Frankfurter Rundschau 1998, Erscheinungsdatum 20.05.1998
Rund 50 Wohnsitzlose und einige Unterstützer haben in der Nacht zu Dienstag die Eingangshalle des Bahnhofs Zoo besetzt. Sie demonstrierten für bessere Obdachlosenquartiere und mehr Wärmestuben. Außerdem forderten sie Spritzenräume für Drogenabhängige. Das Obdachlosenmagazin "Straßenfeger" und die Jungdemokraten hatten den Protest organisiert. Er wurde von einigen Künstlern unterstützt, unter anderem von der Sängerin Bettina Wegner. Gegen Mitternacht versammelte sich die Gruppe und verhinderte nach der Abfahrt des letzten Zuges, da§ die Tore des Bahnhofs geschlossen wurden. "Die Obdachlosen leiden unter den Sicherheitsdiensten", begründete Stefan Schneider vom "Straßenfeger" die Aktion. Nach seiner Schätzung leben 3.000 Berliner auf der Straße. "Wir sind keine Sozialstation", entgegnete Bahnhofsvorsteherin Barbara Kraßke. Um 1.30 Uhr war das "Sleep In" beendet. (se.)
Berliner Zeitung © G+J BerlinOnline GmbH, 12.02.1998
Lizenz zum Betteln
Die Obdachlosenorganisation mob bietet neuerdings eine professionelle Bettelausbildung mit Fachabschluß an: Ausbildung in drei PflichtfŠchern und einem Wahlfach
"In der Antike glaubte man, daß die Götter als Bettler verkleidet auf die Erde kommen." Karsten Krampitz vermittelt historisches Wissen. "So wie sich die Arbeit vom Menschen entfremdet hat, hat sich auch das Betteln vom Menschen entfremdet." Krampitz ist Redakteur der Obdachlosenzeitung Straßenfeger und hatte die Idee, eine Bettelausbildung mit Diplomerwerb anzubieten.
Ein Bettelprofessor unterrichtet die Teilnehmer in drei Pflichtdisziplinen und einem Wahlfach. Die praxisorientierte Prüfung folgt auf dem Fuß, und sollte sie erfolgreich bestanden werden, steht dem Schritt in die Selbständigkeit nichts mehr im Weg: "Eine Investition in die Zukunft, denn noch betteln Sie freiwillig." Ein attraktives Angebot. So übe ich mich gemeinsam mit Katharina Henke, die in Brandenburg im bündnisgrünen Landesvorstand sitzt, nach der fachkundigen Einweisung in der ersten Disziplin: Sitzung halten. Die Götter im Hinterkopf, die Blechdose vor mir, sitze ich in der Potsdamer Einkaufsstraße und frage nach Kleingeld. Von unten hoch und möglichst bescheiden. Ein kleines Mädchen im duftigen Blumenkleid kommt auf mich zugesprungen, und ein paar Groschen klimpern in die Dose. Die Mutter lächelt mir aufmunternd zu, ich gucke dankbar. Nach einer Viertelstunde habe ich genug Geld für ein Brötchen und bekomme die Note "gut" eingetragen.
Karsten Krampitz mšchte das Wort "betteln" wieder positiv besetzen. "In der Politik gibt es eine Diskriminierung von Bettlern. Sie werden als kriminell und als Gefahr abgestempelt, findet Krampitz. Die ironische PR-Aktion "Betteldiplom" will nicht nur auf kreative Art die Situation von Obdachlosen vermitteln. Es ist auch ein Versuch obdachloser Menschen, vor allem Politikern gegenüber eine andere Position einzunehmen. "Wir haben uns oft als Werbegag benutzt gefühlt, wenn Politiker zu Besuch kommen. Deshalb bieten wir jetzt mal was an und benutzen die", sagt Krampitz.
Auch für das zweite Pflichtfach braucht es Überwindung: Straßenfeger verkaufen. Die Leute sollen gezielt und hörbar angesprochen werden, die Zeitung muß so in der Hand liegen, daß der Umschlag gut zu sehen ist. Vielleicht ist es doch keine gute Idee, auf das Interview mit Gregor Gysi extra hinzuweisen? Ein älterer Herr kauft gegen den Willen seiner Frau ein Exemplar. Die meisten Passanten gehen gesenkten Blickes vorüber, Gleichaltrige kichern verlegen. Doch obwohl mein Bettelprofessor Gerald Denker seit einem Jahr Berufsverkäufer ist und einen entsprechend strengen Profiblick hat, bekomme ich ein "sehr gut". Denker ist Verkäufersprecher im Vorstand des Straßenfeger und als solcher nebenbei noch "Projektpsychologe, Sozialarbeiter, Berufsberater und väterlicher Freund" der Verkäufer.
Knifflig ist vor allem das dritte Pflichtfach: Kirchenstich. "Jeder Pfarrer rechnet damit, daß er vom Heiland persönlich angepumpt wird", erklärt Krampitz eine weitere sozialhistorisch gewachsene Bettlererscheinung. Es gilt die eigens dafür eingerichtete Handkasse der Geistlichen flüssig zu machen. "Katholiken geben mehr." Leider ist Samstag und die Geistlichen in Urlaub, was mir ein "ausreichend" einbringt. Noch schlechter schneide ich im Wahlfach ab: Containern.
Ich stehe mit meinen Turnschuhen im Braunglascontainer und übersehe fast die zwei Pfandflaschen direkt vor meiner Nase. "Zweimal dreißig Pfennig, fast liegengelassen!" - Ein "ungenügend", mehr ist da nicht drin. Dafür habe ich was gelernt: "Bierflaschen sind fast immer Pfandflaschen."
Ein Betteldiplom mit "gut" zu bestehen, vermittelt jedenfalls durchaus ein Gefühl der Sicherheit. "Schließlich hat man damit auch mehr Ausbildung als mancher Polizist", wie Prüfer Krampitz versichert.
Britta Steffenhagen
TAZ-BERLIN Nr. 5522 vom 04.05.1998 Seite 24 Berlin 116 Zeilen
In Gröpelingen wird ein alter Laden umgebaut: Tagsüber soll hier die Redaktion einer Obdachlosen-Zeitung arbeiten, nachts werden die Räume zur Notunterkunft
In dem heruntergekommenen Ladenlokal im Gröpelinger Pastorenweg 141 herrscht das absolute Chaos. Hier wird gleichzeitig renoviert, geschlafen und die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger" vertrieben. Anfang Dezember sollen die neuen Redaktionsräume, in denen ein lokaler Einleger für den Straßenfeger entstehen soll, fertig sein. Nachts wird sich der Laden in eine Notunterkunft für zehn Menschen verwandeln.
In dem großen Raum zur Straße hin sägen Freiwillige an langen Holzlatten. Um Heizungskosten zu sparen, wird die Decke tiefer gelegt. Dabei gibt es die Heizung noch gar nicht. Es ist saukalt in der neuen Geschäftsstelle der überregionalen Obdachlosenzeitung. Schon jetzt übernachten die Zeitungsverkäufer hier. Hinten, im Übernachtungszimmer, wurden die Matrazen notdürftig zusammengelegt, Kleider und Renovierungswerkzeuge liegen wild durcheinander. Auf den paar Quadratmetern, wo bald der Lokalchef der Obdachlosenzeitung seinen Schreibtisch hinstellt, türmen sich alte Mšbel bis in Augenhöhe.
Vor der Baustelle parkt ein zwanzig Jahre alter Opel-Wohnwagen, der einzige beheizte Ort weit und breit. Der Selbsthilfeförderverein in Erbach, der die überregionale Straßenzeitung herausgibt, hat ihn zur Verfügung gestellt, bis auch in Bremen der Vertrieb der Zeitung funktioniert. Anfang Dezember wird der Wagen zu einer anderen Zeitungsgruppe nach Frankfurt am Main gefahren.
In dem Wohnwagen ist es eng. "Komm rein und mach die Tür zu", sagt Marlene Dorfmann zu jedem, der anklopft und etwas will. Es riecht nach Hund und Zigaretten. In einer Ecke stapelt sich die neuste Ausgabe der Zeitung. Auf einer Pritsche über dem Fahrersitz liegt Manfred und rührt sich kaum. "Er braucht dringend einen Arzt", sagt Marlene. Er hat Fieber. Wenn das so weitergeht, will sie den Notarzt holen.
Der Hund heißt "Baby", Manfred ist ihr "Papa". "Das ist das blanke Familienleben", sagt die ehemalige Kindergärtnerin und Wachfrau, die erst im Sommer einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen hat. "Wenn Ralf, mein Lebenspartner, mich da nicht rausgeholt hŠtte, wäre ich heute vielleicht nicht mehr." Jetzt ist sie bei der Obdachlosenzeitung für den Vertieb zuständig und die einzige Frau in dem Haufen. Jeder hier hat seine Geschichte des Scheiterns, aber auch die Chance zum Neuanfang. Ein Dutzend Obdachlose können inzwischen von dem Verkauf der Zeitung leben.
Seit dem Sommer wird der "Straßenfeger" in Bremen auf den Straßen verkauft. In der neuen Ausgabe liegen ein paar Blätter mit Artikeln von Bremer Obdachlosen mit in der Zeitung, die sich so schnell wie möglich zu einem richtigen Lokalteil entwickeln soll. Es ist das erste Mal, daß Bremer Obdachlose ihre eigene Zeitung machen.
Im Übernachtungszimmer ist Platz für fünf Doppelbetten. Zehn Mark soll eine Nacht kosten, um Geld in die Kasse zu bringen. "Mit Frühstück", fügt Marlene hinzu. Die Miete für die 70 Quadratmeter Ladenfläche wird mit dem Verkauf der Zeitung eingespielt. 660 Mark zahlen die Zeitungsverkäufer für die ehemalige Bäckerei, Kneipe, Videothek, Pommes-Bude. Auch ein Bordell war hier vor langer Zeit.
Bei der Renovierung der heruntergekommenen Räume müssen die Obdachlosen improvisieren. "Es fehlt an allem", sagt Marlene, "vom Heizungsinstallateur über Computer bis hin zu Matrazen." Auf öffentliche oder kirchliche Hilfen verzichten die Obdachlosen bislang. Nur beim Grünen-nahen "Ökofonds" wollen sie tausend Mark für die Renovierung beantragen. Noch bevor das Projekt richtig angelaufen ist, hat Marlene schon Angst vor einem "Maulkorb" durch Geldgeber von außen. Die könnten ja Bedingungen für das Zusammenleben der Zeitungsmacher diktieren. Die Obdachlosen wollen sich lieber selber helfen.
Regeln gibt es bislang wenige für das Zusammenleben. "Heute gibt's keinen Alkohol in den Räumen" sagt sie entscheidend zu einem der Helfer. Doch der Gelbe Sack vor der Tür ist voll mit Dosen. Daß Manfred es geschafft hat, zwei Wochen trocken zu sein, um als Zeitungsverkäufer losziehen zu dürfen, ist für sie schon ein Erfolg. Zwischen zwei Hustenanfällen wird Manfred munter: "Wenn ich vom Alkohol loskomme, dann nur durch meine eigene Kraft". Marlene streichelt seinen Kopf. "An dem Tag, wenn du es vollständig schaffst, da gibt's Kaffee und Kuchen, Manni". Marlene lächelt etwas zahnlos. "Wir wollen nicht viel: Nur von dem Verkauf der Zeitung leben können und ein paar Obdachlose von der Straße holen."
Christoph Dowe
TAZ-BREMEN Nr. 5691 vom 20.11.1998 Seite 24 TAZ-Bericht Christoph Dowe
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Der Straßenfeger, eine der Berliner Obdachlosenzeitungen, wird eingestellt. Ende Dezember soll jedoch erstmalig eine bundesweit vertriebenen Obdachlosenzeitung namens Die Straßenzeitung erscheinen. Das teilte die Redaktion des Straßenfegers mit. Die bundesweite Zeitung sei Ergebnis der bisherigen Zusammenarbeit der Berliner mit der hessischen Obdachlosenzeitung Looser und Betroffenen-Initiativen in Bremen, Tübingen, Essen und Darmstadt, hieß es. Der Straßenfeger gründete sich im September 1995 als unabhängige Straßenzeitung.
dpa
TAZ-BERLIN Nr. 5710 vom 12.12.1998 Seite 26 Berlin Aktuell 9 Zeilen