I.
Hans Reiser ist bäuerlicher Herkunft. Sein Großvater saß auf einem Hof in Farchant bei Garmisch: menschenscheu, menschenfeindlich, ein Bauer von fürstlichem Stolz, dessen Abneigung gegen die Stadt sich bis zum Haß steigerte. Der Vater war gleichfalls Landmann, zog aber bereits in die Stadt und wurde Fabrikarbeiter in München. Von da ab war der Großvater mit der Familie entzweit.
Hans Reiser, 1888 in Schwabing bei München geboren, geht in die Volksschule und soll im gleichen Fach bleiben, aber einige Stufen höher steigen, das Ziel heißt: Lokomotivführer. Er beginnt als Schlosserlehrling. Auf Rat der Geistlichkeit aber geben die Eltern den geweckten Burschen bald schon in ein "gehobeneres" und auch frommes Handwerk: er wird Glasmaler. Auch diese Lehre hat er bald hinter sich, und die nächste Station ist wieder weltlicher: eine Autofabrik in Eisenach, in der er als Fräser arbeitet. Hier schreibt er sein erstes Gedichtbuch: "Der Freund". Es sind unbeholfene, holprige Verse, empfunden, aber ungestaltet, mit Ansätzen zu echter Lyrik.
Halb erschlagen von einer Eisenplatte, zurück ans Kassabuch, eine zweijährige Tippelreise durch Italien und die Schweiz, bei der er mehrfach eingesperrt wird, und noch ein drittesmal zurück: "Zureden, Grübelei und Unreife verurteilen mich, noch einmal den Beweis bürgerlicher Verwendbarkeit zu liefern in der Erwerbssklaverei..." Gleichzeitig liest er (zwei Drittel des kleinen Gehaltes werden in Büchern angelegt), schreibt, malt und erlebt die Künstlerwelt der Münchener Bohéme. Mit 22 Jahren wirft er endgültig jeden bürgerlichen Beruf hinter sich. Der entscheidende Durchbruch hat sich vollzogen. Er erkennt, daß es besser ist, ohne Gehalt zu leben als ohne Inhalt, wichtiger, zu wissen, wozu man lebt, als wovon.
Noch vor dem ersten Weltkrieg heiratet Hans Reiser. Ein Jahr verlebt er in Brüssel. Der Krieg bricht aus. Er eilt nach München, stellt sich freiwillig. Dreieinhalb Jahre steht er in vorderster Front im Westen; sein Söhnchen sieht er zum ersten Male, als er zwei Jahre alt ist. Ende Oktober 1918, acht Tage vor dem unerwarteten Ausbruch der Revolution, desertiert er. Er hat es nicht verschwiegen, das Maß ist voll.
Er verkriecht sich zwei Jahre im Gebirge, in Tölz, dreißigjährig, doch ein alter, kranker Mann. Seine Gesundheit ist zerbrochen, seine Ehe ist zerbrochen, aus "Trotz" schließt es gleich wieder eine zweite, aber auch ihr war keine Dauer beschieden. Und das Handwerk ist es, durch das er wieder gesundet. Er fängt an zu schreinern, schafft sich einen neuen kleinen Hausstand durch eigner Hände Kraft und Fertigkeit.
Jetzt wächst er allmählich in sein Werk hinein. Gleich 1918/19 schrieb er, noch unter dem Druck des Kriegserlebnisses, sein Kriegsbuch: "Nacht!", das sofort von der Presse begeistert aufgenommen, mit Barbusse und Andrejew verglichen wurde und doch heute vergessen ist, weil es viel zu früh erschien. Vieles mußte damals anders gesagt werden, anstatt geformt zu werden. Aus kaum einem anderen Kriegsbuch jedoch spricht so vernichtend der unmenschliche, entmenschende Dreck und Gestank des Krieges. Jetzt folgen "Binscham" und "Yatsuma", zwei seiner gelungensten Bücher. Daneben aber entstehen merkwürdig verschiedenartige Produkte: ein stilvoll märchenhaftes, aber unwahrscheinlich abgeklärtes Kinderbuch: "Holdegluck und Dieterwackl", "Sonette", in denen Reiser sich mit der Zeit auseinandersetzt, wenn auch als ein Prediger in der Wüste, dessen Stimme nicht durchdringt, und eine Komödie "Der Ausflug", nicht unwitzig, psychologisch wahr, nur noch sehr primitiv.
Reiser spürt selbst, wie er auf dem Lande draußen ein wenig sonderlich wird und kehrt in die Stadt zurück. Inflation - er muß noch einmal in die Fron, sehr unfreiwillig; schlägt sich als kunstgewerblicher Zeichner durch, als Fabrikarbeiter. Schreibt sich eine Novelle vom Hals: "Der Verfolgte", die Geschichte seiner ersten Ehe, eine seelische Röntgenaufnahme von beklemmender Deutlichkeit. Versucht als freier Schriftsteller zu leben - es geht nicht! Wieder auf die Walz! In letzter Minute kommt unvermutet ein Romanauftrag: Dreivierteljahr auf Villons Spuren in Frankreich, und der fertige Roman ("Der geliebte Strolch") wird bei Erscheinen mit der Kleistpreisehrung bedacht.
Damals lernte ich Hans Reiser kennen. er wohnte in einem kleinen Atelierzimmer in Schwabing: nächtlich ein Chaos von Wein, Schnaps, Grammophon, Anekdoten, Mädchen, Zigaretten, morgendlichem Kaffee, mit einem vereinsamten Mahnzettel der Ablieferungsfristen von Arbeiten und Aufsätzen am Kleiderschrank, am Tage ein fanatisch ordentliches, sauberes kleines Dachzimmer, hell und durchsichtig, dessen Tür Besucher nur nach vorheriger schriftlicher Anmeldung passieren dürfen. Ich hatte in seiner Gegenwart immer das Gefühl: ein Mensch auf der Suche und dicht vor dem Ziel, er weiß nur noch nicht, wo er es findet. Als ich ihn 1931 in Berlin wieder traf, spürte ich sofort: Reiser hat seinen Lebensinhalt gefunden, seine Lebensform, sich selbst. Inzwischen hatte er die gewagteste und zugleich folgenreichste Weltbummelei seines Lebens gemacht. Anlaß: eine Zeitungsnotiz über eine enorme Erbschaft in Brasilien, die er 1928 in München liest. Er will etwas darüber schreiben, unterrichtet sich ein wenig über Brasilien, Südamerika beginnt ihn zu interessieren, Peru mehr als Brasilien. Nicht lange darauf landet er in Callao, der Hafenstadt von Peru - mit einem Dollar in der Tasche. In einer zwölfmonatigen Fahrt legt er über 5000 Kilometer zu Land und zu Wasser zurück und durchstreift die bisher unerschlossene, weglose Wildnis nach allen Richtungen, photographiert, schreibt, malt und filmt. Er hat seine eigentliche Heimat entdeckt: dort wird er als Farmer siedeln, als Bauer leben und wie seine Vorväter und nicht "schreiben", sondern dichten: nur das schreiben, was ihm drängend am Herzen liegt. Vielleicht bleibt er noch ein Jahr in Deutschland oder zwei, dann soll der endgültige Abschied kommen. Sein Buch "Abenteuerliche Wanderung durch Peru" schildert jene Reise lebendig. Und dorthin zieht es ihn zurück. Er will für immer in den Urwäldern Perus verschwinden.
II.
Noch sehe ich ihn vor mir an jenem Märzabend 1932, kurz vor der Abreise, der zweiten, ins Quelland des Amazonas. Die Kisten waren gepackt, nicht zuletzt mit Maschinen- und Durchschlagpapier, Farbbändern, Schreibmaterial aller Art, Mal- und Foto-Utensilien, denn drüben sollte literarisch und künstlerisch gearbeitet werden, wenn die Siedlung erst fertig sein würde. Es war eine Gruppe von Kameraden, die Reiser um sich versammelt hatte, Auswanderungsbegierige der verschiedensten Sorten, mancherlei Handwerker darunter, wenige Frauen - allzuwenige, wie sich später herausstellen sollte. Die unternehmungslustige Schar hatte noch nicht einmal das Fahrgeld bis Hamburg beisammen, aber war guten Mutes. Und das Wunder geschah: sie ist tatsächlich fortgekommen. Reisers Plan war: eine Gemeinschaft zu bilden, deren Glieder sich ergänzen; in paradiesischer Landschaft von den Früchten zu leben, die in den Mund wachsen, von den Vögeln in der Luft, den Fischen im Wasser und so Zeit zu gewinnen für die Erforschung von Land und Leuten, Zeit für das persönliche Schaffen; ohne Miete, Steuer, Telefongebühren, Garderobe und alle Unkosten des modernen Lebens - frei von Europa.
Anderthalb Jahre später erhielt ich folgenden Brief:
Cahuapanas-Rio Pichis-via Callao-Pto. Bermudez,
Peru, den 25. September 1933
"Lieber Freund Günther!
Ich habe, seit ich fort bin, eine Pechwelle, eine Pechsintflut beinahe ist es, die mich verfolgt und irgendwo hinschwemmen will, und der ich mich mit zusammengebissenen Zähnen und aller Kraft, deren ein Mensch fähig ist, entgegenstemmen muß.
Ich bin allein, Günther! Um aber nicht zu lügen - zwei Hunde habe ich noch - den Papagei hat einer von ihnen gefressen. Es ist eine gefräßige Sache, dieses Leben und diese Welt; und ich selber habe auch einen ganz guten Appetit. Zum Hungern ist es eigentlich nicht, nur daß man manchmal etwas lange unfreiwillig zum Vegetarier wird, wenn Jagd und Fischerei nicht glücken; aber Bananen haben eine unglaublich vielseitige Verwendungs- oder Zubereitungsmöglichkeit. Und in dieser Beziehung kann ich wirklich nicht klagen. Wenn ich noch fünf Jahre bliebe, dann hätte ich alle Lebensmittel im Überfluß, ja sogar schon in zwei Jahren. Aber das soll nicht sein, aus vielen Gründen.
Meine Kameradin hat mich schon Anfang dieses Jahres verlassen. Es wurde ihr zuviel, was ich ihr nachfühlen kann. Man muß gerecht sein, was ich hinter mich habe, war für männliche Nerven schon etwas zuviel. Es waren eben, alles in allem, zu wenig Mittel, die mir halfen.
Es geht etwas durcheinander in dem Brief, eben waren zwei Indianer da, die für mich zum Fischen gehen wollen - und die haben mich aus dem Konzept gebracht -.
Ich habe also meine Pflanzung und mein Haus, ein recht hübsches Quartier, trotz alledem geschafft. Und ich wollte, ich könnte Dir eine Kiste Ananas mitsenden, die eben reif sind - sie sind eigentlich immer reif, je nachdem, wie man sie pflanzt. Rätselhafte, überreiche Erde!
Was aber viel wichtiger ist, ich habe aus alledem noch etwas gebaut, einen Roman: "Der neue Robinson". Und dieses scheint mir ein gutes Werk zu sein. Jedenfalls hat seit dem alten Robinson - dessen Insel gar nicht weit von hier ist - keiner mehr sowas gemacht - ja vielleicht hat Defoe es auch nicht selbst erlebt, sondern nur erzählen hören; wobei er freilich so gut erzählt, daß man es für erlebt nehmen kann. Ich nun habe mehr erlebt und vielleicht weniger gut erzählt. Immerhin aber, wenn alles schief gehen sollte, diese Erzählung habe ich gerettet alsdann. Ich will aber nicht schwarz sehen.
Als also manches schief ging, da setzte ich mich hin und sagte: jetzt erst recht. Und arbeite und arbeite, sende Artikel und Beiträge; das muß mich herausreißen; später auch der neue Roman; und noch ein neuer Plan, den ich Dir noch erzählen werde.
Ja, irgendeinen Vertrauensmenschen, einen Freund sollte ich drüben haben, Günther! Obgleich ich meine Zelte hier langsam abbreche, aber das alles dauert noch sehr lang und wer weiß, wo ich dann hinschwimme. Ich will aber nicht wie so ein Stamm auf den Flüssen hier wahllos dahintreiben, sondern meinem Weg eine Richtung geben und einen Sinn; wie ja mein Hierherkommen auch nicht sinnlos war. Es heißt also jetzt erst recht sich auf die Hinterbeine setzen und sehen und tun, daß man noch halbwegs hier wieder davonkommt und nicht nur die Gegenwart, sondern auch das Künftige damit in eine erträgliche Ordnung bringt.
Ich will hier nun gewisse photographische Aufnahmen vor allem zu Ende bringen, zeitraubend; mein Apparat ist noch dazu kaputt und in Lima zur Reparatur. Das ist unerläßlich notwendig. Dann muß ich meine bei den halbwilden Weißen gemachten Schulden abtilgen. Ist dieses geschehen, dann möchte ich mir ein Floß bauen lassen mit Haus darauf und langsam hinuntertrudeln bis zum Atlantik! Eine interessante Reise, die ich beschreibe und photographiere. Und die Beschreibung dann verkaufe. So kostet mich die Flußreise nichts, im Gegenteil, ich gewinne dadurch, und außerdem verspricht es eine beschauliche ruhige Zigeunerfahrt zu werden. Ein wandernder kleiner Haushalt. Wenn ich also nicht noch weiter Pech habe, sondern auch einmal ein bißchen Schwein, dann könnte ich im Frühjahr loshauen, wenn die Flüsse noch hoch sind. Dann will ich nach Europa. Vielleicht auf eine billige Weise sehen, hinüberzukommen. Will in Portugal-Spanien Unamuno besuchen, um vielleicht die Übersetzung des "Yatsuma" zu erreichen; dann nach Paris zu demselben Zwecke wegen des Villonromans. Will sehen, was aus alledem wird.
Ja, lieber Günther, es ist nicht so, daß ich großartig davonlaufe und dann klein und häßlich heimkomme. Sondern es ist mir eben allzuviel fehlgegangen, ohne daß ich eine andere Schuld sehe, als meine allzu naive Vertrauensseligkeit.
Ich werde wohl doch einmal die Ruhe und den Platz finden, den ich für die Arbeit brauche. Ich suche ehrlich das, was mir drüben in der Großstadt fehlt, den Boden; und suche ihn noch. Es geht hier nicht, wie ich habe lernen müssen, wegen der unmöglichen Postverhältnisse; denn ich muß ja, wenn ich auch noch so sehr in einen Winkel krieche, dennoch die Verbindung haben, die Verbindung mit der Heimat, mit der Kultur, mit Menschen.
Außer den Indianern gibt es hier niemand, der so anzusprechen wäre. Sie allein haben, schweigend, ein Mitgefühl mit dem Einsamen im Walde.
Und nun bin ich, mich freuend auf Nachrichten von Dir, und Dich grüßend von Herzen Dein Freund
Hans Reiser
Nach zwei weiteren Jahren, im Herbst 1935, kam Reiser in Hamburg wieder an. Und wieder fehlte das Fahrgeld bis Berlin. Er war lange und schwer in Brasilien erkrankt, die Postverbindung war immer wieder unterbrochen, nur mit Mühe fand er einen Weg zur Heimkehr. Reiser war noch magerer als früher und völlig mittellos. Das Unternehmen war gescheitert. Aber er hatte Manuskripte bei sich, farbig und kompositorisch prachtvolle Aquarelle, ethnographisch genau und doch stimmungsvoll, auch vorzügliche Zeichnungen. So hatten Wort und Bild den Urwald eingefangen, sein wahres Gesicht. Die Verwertung war schwieriger, als gedacht, es gelang ihm nur mit großer Mühe, Fuß zu fassen. Der Kampf um das tägliche Brot ging weiter.
Einige Jahre blieb er in Berlin, und er wäre nicht der Schwabinger auf Lebenszeit gewesen, hätte er nicht versucht, mit Künstler-Stammtischen, Binscham-Bällen und Hiddensee-Kostümfesten ein wenig Farbe in die Nöte des Alltags zu bringen. Dann zog er sich nach Oberbayern zurück, es wurde stiller und stiller um ihn, und obwohl er immer wieder helfende Hände suchte und auch fand, so schwer er es denen, die es gut mit ihm meinten, oft machte, ihm treu zu bleiben, der keine Streitigkeit kannte, auch nicht im Menschlichen, und dessen Unbeständigkeit fast alle Bande selbst zerstörte - zuletzt war es fast ganz allein. Lange saß der Keim tödlicher Krankheit in ihm, dann brach er aus und verzehrte quälend langsam den Körper. Seit Hauptwunsch war, noch viel zu malen. Es sollte ihm nicht mehr vergönnt sein; die erkrankten Hände versagten den Dienst. Im August 1946 meldeten einige spärliche Zeitungsnotizen, er sei in einem Münchner Krankenhaus gestorben.
Peru hat ihm den Tod gebracht. Aber alles, was er nach jenem zweiten dreiundeinhalbjährigen Aufenthalt in Südamerika noch geschrieben hat, galt diesem Erdteil, in dessen Inneres er eingedrungen war wie wenige Weiße. "Einer ging in die Wildnis", "Das Auge der Göttin", "Shiri Kaipi vom Amazonas", "Indios" - alle diese Bücher sind Robinsonaden, aus unmittelbarer Anschauung geschöpft, mit Maleraugen gesehen, frisch, unpathetisch, unterrichtend, Erlebnisberichte und Poesie zugleich. Grundthema blieb: Zivilisation oder Wildnis, und es geht dabei nicht ab ohne Ironie, Satire, Anklage gegen die "Kultur", freilich auch nicht ohne Heimweh auf fremder Erde. Fernweh hatte Reiser zweimal in den grünen Himmel hinübergetrieben, Heimweh trieb ihn zweimal aus der grünen Hölle zurück. Beides lag untrennbar in ihm, jagte den unrastigen, zerrieb ihn, Reiser war einer der wenigen deutschen Weltfahrer der neueren Literatur, und er hat in aller Armut reiche Ernte heimgebracht, auch das Zarte in sich nicht verleugnet und nicht den Alles überwindenden skurilen, oft jungenhaften Humor. Man lernt ein Stück Südamerika kennen, wenn man diese Bücher liest: wirtschaftlich, politisch, kulturell, völkerpsychologisch. Sie sind sachlich und persönlich; duftig und wild; immer anschaulich, immer originell; in der Form ungleich. Seine dichterische Leistung ist sein Jugendwerk.
III.
Es besteht aus drei Romanen: "Binscham, der Landstreicher", "Yatsuma, eine Donquichoterie aus Schwabing", "Der geliebte Strolch, ein Gaunerroman" - schon die Titel geben einen Begriff. Die Helden aller drei Bücher sind Vagabunden. Aber sehr verschiedenartige.
Binscham ist ein blutjunger Kerl, strotzend von Kraft und Übermut, Raufbold, Witzbold und Eulenspiegel. Streiche, Schwänke, "Narreteien und Affenstücke" sind sein Tagwerk, und zur Nacht ist er gleichfalls nicht faul. Doch der Hitzkopf und Händelsucher, der Schädel und Nasenbeine zu Dutzenden bricht, bricht kein Herz. Binscham ist Adam vor dem Sündenfall. Er genießt in vollkommener Unschuld, denn er ist Natur. Und diese Unschuld macht seine Rauheit keusch. Binscham ist oft derb, aber nie roh, und vor dem rechten Weibe werden seine Hände sanft. Keine hält ihn, aber jede beglückt ihn, wie er jede beglückt. Noch das süßeste, innigste Erlebnis im "Gartenhaus" (eine der schönsten Liebesgeschichten des heutigen Schrifttums) bleibt eine kurze Begegnung, denn Binscham wünscht, "sich in die Fremde zu verlieren wie ein Regentropfen, der ins Meer fällt". Binscham muß wandern.
Auch Yatsuma muß wandern. Aber Binscham wandert als Heide, Yatsuma als Christ. Binscham kennt kein Gewissen. Yatsuma wird von seinem Gewissen getrieben. Binscham ist der Strauchritter, Yatsuma der Asket der Landstraße. Binscham ist Fleisch. Yatsuma ist Geist. Yatsuma heißt eigentlich Deschl und ist in Schwabing zu Hause. Sein Leben ist eine Reise auf tausend Wegen um München herum, für ihn aber führt jeder Weg durch einen anderen Erdteil. Er ist ein verrückter, wunderlicher Heiliger, ein "Idiot" wie Dostojewskijs Fürst Myschkin. Sein Mund spricht die Weisheit des Narren. Er predigt Baum, Wolke, Mensch und Tier: ein neuer Franziskus. Er predigt: "Ich habe nichts dagegen, daß der Mensch Besitz hat, ich sage aber wohl etwas dagegen, daß der Besitz ihn hat". Der "geschworene Liebhaber des Verzichtes, der Entbehrung und der Sorglosigkeit um Dinge, die ihm wertlos sind, sammelt aufreibende Erlebnisse und unsinnige Anstrengungen, Katastrophen und Gefahren, wie andere Menschen Grundstücke und Pfandbriefe sammeln", es lebt vom Hunger, aber seine Idee hält ihn trotz allen Spottes, Hohnes und aller Prügel aufrecht auf seinen langen schwankenden Beinen, die Idee einer Beschwörung der blinden Menschheit, aufzuschauen zum Licht.
Der "geliebte Strolch" ist Binscham und Yatsuma zusammen und noch mehr dazu. Das Buch trägt die Widmung: "Meinem Freund, dem großen Dichter und armen Spitzbuben Francois Villon, geboren 1430 bei Paris, verschollen und gestorben unbekannten Jahres." Es ist zunächst Villons Biographie, verfaßt von einem, der sein Leben mit ihm geteilt hat: Franz Villon und Hans Reiser sind Kumpane, der Dichter und sein "Zwillingsbruder" vor 500 Jahren sind eins, und damals ist heute. Das ganze Mittelalter ist darin mit seinen Kapellen, Gassen, Fürstenhöfen, und dazwischen stehen Trambahnschuppen, Tankstellen, Telephonleitungen, und von Eisenbahnunglücken ist die Rede und Preisboxern. Die Biographie steigt auf zu einer phantastisch-realistischen Vision vom Vagabunden. Dieser "geliebte Strolch", Elendsbruder, Leuterupfer, Kirchenräuber, Einzelgänger, Bandenführer, dieser Galgenvogel, Wüstling und Poet, dieser Grenzenlose ist "ein ganz einfacher, schlichter Mensch, ein Mensch mit einem Herzen wie ein kleines Mädchen".
Die Form der drei Romane zeigt dieselbe Einheit wie ihre Menschen, ihr Gehalt. Die Form ist die Anekdote. Jedes Buch zerfällt in eine Anzahl einzelner kurzer Stücke, und im Einzelnen lebt das Ganze. Diese Stücke sind lustig oder traurig, still oder laut, frech, fromm, witzig, klug, melancholisch, heiter - immer erzählt eine gesunde, klare Sprache, die viel verschweigen kann und doch beredt ist.
IV.
"Wenn irgendwo ein klassischer Zeuge dafür lebt, daß Innenleben und äußeres Dasein eine unzertrennliche Einheit sind, so ist es der Vagabund", sagte Reiser einmal. Damit hat er, der diese Einheit verkörperte, selbst schon früh das Wort gefunden, das ihn am ehesten bezeichnet: er war ein vagabundischer Mensch. Vielleicht hat jeder bedeutende Mensch einen vagabundischen Zug, wenn man darunter, wie Reiser, verstehen will: "Tiefe innere Unruhe, Rastlosigkeit, Einsamkeit der Seele und des Blutes, Sehnsucht nach dem Vollkommenen und Unerreichbaren". Bei Reiser machte das Vagabundische sein ganzes Wesen aus. Es war sein Schicksal.
Der Vagabund in der Dichtung ist so alt wie der vagabundische Dichter. Schon Odysseus war ein Vagabund. Der Enkolp des Petronius, Cervantes' Don Quichotte, Grimmelshausens Simplizissimus, Dofoes Robinson, Eichendorffs Taugenichts, Chamissos Schlemihl, Gaudys Wandernder Schneidergeselle, de Costers Ulenspiegel - sie alle sind Vagabunden.
In Frankreich heißen die vagabundischen Dichter Villon, Verlaine und Rimbaud, in Rußland Gorki und Ljesskow, in England Stevenson und Kipling, in Amerika Walt Whitman und Jack London. Norwegen hat Hamsun, der später die "Landstreicher" schrieb, die Tschechen besitzen Jaroslav Hasek, die Deutschen, in jüngerer Zeit, Peter Hille, das Genie des Fragments, und Ringelnatz.
Der Jüngste war Reiser. Niemand von seinen Vätern und Brüdern im Geist wird sich seiner geschämt haben, als er, aller Erdenlast entledigt, zu ihnen emporfuhr ins himmlische Reich der Vagabunden und Poeten.
Herbert Günther
In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift. 2. Jahrgang 1947, S. 129 - 133. Drei Säulen Verlag
siehe auch den Wikipedia Artikel zu Hans Reiser
Der Nachlass soll sich in der Münchner Stadtbibliothek finden lassen. Zumindest gibt es hier einige seiner Werke zu finden.