Liebe Leserin, lieber Leser,

als vogelfrei erklärt zu werden, kam im Mittelalter fast immer einem Todesurteil gleich. Die gemeindlichen oder städtischen Rechte eines Bürgers wurden außer Kraft gesetzt, somit gab es keinen Anspruch mehr auf soziale Versorgung oder Rechtsprechung, von Rechtsschutz ganz zu schweigen. Vogelfreie, fast immer Männer, konnten straffrei beraubt, verfolgt oder gar getötet werden. Nur, wer einigermaßen vermögend war, hatte die Chance, erfolgreich das Weite zu suchen. Im Verlauf der Jahrhunderte hat das Wort einen grundlegenden Bedeutungswandel erhalten. Anfang des 20 Jahrhunderts wurde die Wandervogelbewegung gegründet, eine historische Vorform heutiger Jugendverbände. Zurück zur Natur, zurück zu den Wurzeln, eine (damals sehr national gefärbte) Kritik an der Industrialisierung und Verstädterung. Diese Begriffsprägung setzte sich später durch: Vogelfrei ist nunmehr ein Ideal von Menschen, die aus Zwängen, Verpflichtungen, Normen und dem Alltagstrott ausbrechen wollen. Weltumsegler, Aussteiger, Rucksacktouristen, Weltbürger. Vogelfrei - ein Leben in den Tag hinein, ohne Sorgen, geradezu. Ein Traum vieler Menschen. Der Zusammenhang, in dem wir auf diesen Begriff gestoßen sind, ist wiederum ein ganz anderer. Ende März schließen, wie in jedem Jahr, wieder eine ganze Reihe Einrichtungen der Kältehilfe. "Ja", sagte D., einer unserer Redakteure, "es war schon im ganzen Winter für mich schwierig, eine Unterkunft zu finden, aber am Ende März bin ich wieder vogelfrei!" Auch wenn die Zahl der Menschen, die obdachlos sind, in den letzten Jahren zurückgegangen ist, gibt es immer noch einen Bedarf an Notunterkünften, die ganzjährig zur Verfügung stehen. Das Konzept der Kältehilfe, zeitlich befristet auf die kalten Monate im Jahr, schafft gegen Ende der Kälteperiode nur wieder neue Probleme. Wir vom Verein mob e.V. wissen aus eigenen Erfahrung mit dem Angebot unserer Notübernachtung (siehe dazu auch unsere Kampagne: Ein Dach über dem Kopf auf der Rückseite), daß Geduld notwendig ist im Umgang mit Menschen, die obdachlos sind. Langfristige Hilfe läßt sich nur schwer einem strengen Zeit- und Hilfeplan unterordnen. Die alte Forderung der Betroffeneninitiative wohnungsloser Menschen nach ganzjährig geöffneten Notunterkünften konnte zum Teil nur dadurch eingelöst werden, daß Vereine und Gruppen von sich aus versuchten, solche Angebote aufzubauen: Weil wir nicht wollen, daß Menschen zum Ende der geförderten Kältehilfe auf die Straße entlassen werden.

Stefan Schneider

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