Fu Berlin
SoSe 1996
FB Politische Wissenschaft
HS 32511 Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentInnen: Margit Mayer/Stefan Schneider

Susi Amersberger

Rezension des Buches

"Ich bin Stadtstreicherin - Über das Leben obdachloser Frauen"
AutorInnen: Dietrich Gronau/Anita Jagota
Frankfurt a.M. 1994

Wie Dietrich Gronau und Anita Jagota in ihrem Vorwort richtig bemerken, erregen "Statistiken, soziologische Analysen, Tagungsberichte und Mediendarstellungen (...) in der Öffentlichkeit kaum Sympathie oder mitfühlendes Verständnis für die Betroffenen" (d.h. obdachlose Frauen) - ein Ziel, das sie mit ihrer Interviewsammlung erreichen wollen.


Zunächst entsteht auch der Eindruck eines wohldurchdachten Konzeptes:


ein sachlich-informativ gehaltenes Vorwort steht im Kontrast zu einem Hauptteil aus lebendigen Lebensberichten; obdachlose Frauen, die über sich selbst und ihre Situation sprechen und dem Leser nach der objektiven Information für den rationalen Verstand auf der Gefühlsebene die Problematik näher bringen sollen.


Dabei wurde ein "repräsentativer Querschnitt" angestrebt, d.h. die Frauen wurden nach gruppenspezifischen Merkmalen, unter denen sie in Statistiken erscheinen, ausgewählt! Die sieben befragten Frauen sind entweder um die 20 Jahre alt (18-22) oder etwa 50 (45-56). Heraus sticht die 28-jährige Vikarin, die nicht unmittelbar betroffen ist, jedoch durch ihre Berufserfahrung ein anschauliches Bild zeichnen soll. Die anderen Frauen haben je nach Alter eine bruchstückhafte Karriere hinter sich, die von abgebrochenen Arbeitsverhältnissen bis zum gescheiterten Hochschulstudium reicht.


Die Titel der Interviews weisen auch auf den doppelten Anspruch hin, einerseits Information, andererseits eine eher lyrische Vorstellung beim Leser hervorrufen zu wollen:


die Vornamen der Frauen, mit Kosenamen wie "die Sternäugige" oder "die Prinzessin" haben auch noch einen sachlichen Untertitel "20 Jahre, abgebrochene Lehre" oder "45 Jahre, Arbeiterin".


Entgegen dieser Ansprüche und den nun beim Leser geweckten Erwartungen aber, kommen die Frauen im Hauptteil manchmal wenig oder kaum zu Wort. In längere Monologe sind immer wieder Kommentare und Wertungen des Autors, detaillierte Situationsbeschreibungen, sowie Darstellungen seiner Wahrnehmung geschoben. Auch scheint seltsamerweise nur der männliche Autor zu sprechen. Seine weibliche Co-Autorin scheint nur durch ihre Anwesenheit die sozialwissenschaftliche Richtung bestimmt zu haben.


Tatsächlich erwecken die Interviews den Eindruck sozialwissenschaftlicher Leitfadeninterviews in denen der nach herrschaftlichen Objektivitätsstandards vorgehende Autor durch die ausgiebige Schilderung seiner Wahrnehmung, seiner Gedanken und Gefühle jegliche Lebendigkeit seines Untersuchungsgegenstandes unterdrückt und selbst dominant in den Vordergrund tritt. Die Forschungsabsicht, der sozialwissenschaftliche "Leitfaden" stehen im Vordergrund des Kontaktes mit den Frauen, deren besondere gesellschaftliche Situation das Interesse geweckt hat. Ein teilnehmendes Interview, in dem der Forscher völlig hinter das von ihm untersuchte Objekt zurücktritt, die obdachlose Frau also zum Subjekt wird und direkt zum Leser spricht, hätte vielleicht ein lebendiges Bild vermitteln können. So aber legen die Frauen zwanghaft Rechenschaft darüber ab, was sie aus ihrem Leben gemacht haben, warum sie nicht mit aller Kraft danach gestrebt haben, den gesellschaftlich gerade aktuellen Wertvorstellungen und -idealen hinterherzulaufen. Der erfolgreiche Schriftsteller und die erfahrene Soziologin verfügen über größere Weitsicht als die am Rande der Gesellschaft lebenden, ihnen daher unterlegenen Frauen: der 20jährigen Michaela z.B. fehlt noch "die Einsicht, zu der sie vielleicht unter dem Einfluß kluger Ratgeberinnen noch gelangen wird, daß Unabhängigkeit nur durch Ausbildung und regelmäßige Arbeit zu erreichen ist." Denn "um sich zu dieser Banalität zu bekennen, fehlt es ihnen meist an innerer Konzentration und äußerer Ruhe, an Selbstvertrauen und ausreichender materieller Hilfe." Nicht nur die sozialwissenschaftlichen Standardforschungsmethoden werden hier unkritisch angewandt, auch der Maßstab gesellschaftlicher Normalität, der sich in den Wertungen und Kommentaren der AutorInnen niederschlägt bzw. ablesen läßt, wird nicht in Frage gestellt.


Es erscheint mir ein sehr fragwürdiges Unternehmen auf diese Art und Weise Verständnis und Teilnahme bewirken zu wollen, wenn sich die beiden AutorInnen aus ihrer "hellen, in Bewegung befindlichen Welt in die der grauen Schatten und des Stillstands" begeben müssen, um etwas über Lebensläufe zu erfahren, die sich nicht den Idealen der Leistungs-, Konsum- und Wohlstandsgesellschaft entsprechend entwickelt haben.


Ein wirklich gleichberechtigtes Sprechen dieser Frauen, deren Leben abweichend von dieser Normalität verlaufen ist, ist meines Erachtens so nicht möglich. Ganz zu schweigen von einem möglicherweise darin steckendem kritischen Potential, das eine emanzipatorische Darstellung hervorbringen kann.


Ebenso wird das Buch auch verkauft: "... wie rasch Menschen in dieser Gesellschaft durch das soziale Netz fallen können und wie schwer es ist, wieder in die 'Normalität` zurückzufinden." "Ein Lehrstück auch für Frauen der übrigen Gesellschaft."


Die AutorInnen haben somit ihren Anspruch nicht eingelöst, geweckte Erwartungen nicht erfüllt. Schade, daß ein Buch mit interessanter Konzeption und wichtigem Anspruch durch die Vorgehensweise und politische Einstellung, sowie gesellschaftliche Position der AutorInnen fehlgeschlagen ist. Denn die Kluft zwischen Obdachlosen und "gesellschaftlicher Normalität" wird immer größer, so daß Vermittlung notwendig wird - die aber nicht aus distanzierter Forschung bestehen kann, sondern auch Respekt und Anerkennung, sowie der Frage nach einem möglichen gesellschaftskritischen Potential erwachsen sollte.

Susi Amersberger

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